Dies & Das: Das Bundesamt für Statistik schafft die Fakten für die Schweizer Demokratie. Dann macht es einen Fehler

Blick durch einen Glasboden im Bürohaus der Statistiker in Neuenburg.

Das Bundesamt für Statistik liefert die Basis der demokratischen Entscheide: die Fakten der Schweiz. Doch in Zeiten von Fake-News kämpfen selbst Statistiker um Glaubwürdigkeit. Es muss ihnen nur einmal ein Fehler unterlaufen wie diesen Sommer.

Andreas Babst (Text) / Annick Ramp (Bilder) / Eugen U. Fleckenstein (Illustration)2.11.2018

Eigentlich waren es nur ein paar Zahlen, die diesen Sommer verschwanden, aber es verschwand doch viel mehr. Am 6. Juni löschte das Bundesamt für Statistik, das BfS, eine Statistik von seiner Website. Es verschwand Vertrauen in die Fakten.

BfS, das sind drei Buchstaben, die wohl jeder Schweizer und jede Schweizerin schon gesehen und meistens überlesen hat: im Abstimmungsbüchlein, in der Zeitung. Die Zahlen des BfS sind die öffentliche Statistik der Schweiz, sie sind die Basis der demokratischen Entscheide in diesem Land. Das BfS ermittelt, wie viele Menschen in der Schweiz leben, wie viele von ihnen Ausländer sind; es zählt, wie viele Menschen arbeitslos sind und wie viele Bio-Bauernhöfe es gibt.

Diesen Sommer zog das BfS eine Statistik zurück, die erstmals zeigen sollte, wie viele kriminelle Ausländer tatsächlich ausgeschafft wurden. Die Zahl war tief, rechte Politiker waren entrüstet, linke erstaunt und die Staatsanwälte empört: Die Statistik stimme nicht. Zeitungen schrieben von «Erbsenzählern» in Neuenburg, ein Ständerat warf dem BfS in einer Motion mangelnde Sorgfalt vor.

Während der vergangenen Monate hat das BfS der NZZ immer wieder Zugang gewährt. Die Menschen im Bundesamt haben von ihrer Arbeit erzählt und von ihren Problemen: vom Kampf, gehört zu werden, und von Vertrauen. Und immer wieder war da die Frage: Was sind eigentlich Fakten? Und was Fake-News?

Das Leben ist Statistik

Es ist 7 Uhr 03, und es gibt bessere Tageszeiten, um über Statistik zu sprechen. Georges-Simon Ulrich sitzt am Fenster, 1. Klasse, und draussen zieht Zürich vorbei. Ulrich ist der Direktor des BfS. Vor ihm liegt ein Heft: Bildungsverläufe auf Sekundarstufe II, Längsschnittanalysen im Bildungsbereich, Ausgabe 2018. «Vielleicht ist das langweilig», sagt Ulrich, «aber glauben Sie mir, da ist Leben drin. Das Leben ist Statistik.»

Am Ende dieses Tages wird Ulrich 4497 Schritte zurückgelegt und 20 Hände geschüttelt haben, er wird 338,68 Kilometer im Zug gefahren sein, Zürich–Neuenburg und zurück. Das Leben ist Statistik.

Bahnhof Neuenburg, wer hier einfährt, blickt auf den Turm des BfS. Das Bundesamt für Statistik sieht aus wie ein Öltanker aus Glas. Der Turm, davor dieses Gebäude, das lang und länger wird, bis es zu einem Bug zusammenläuft. Geht man das erste Mal durch die Glastür, ist es, als ob man eine Kirche beträte, dasselbe Gefühl, man schweigt und staunt: nicht ob der Heiligkeit dieses Hauses, sondern wegen seiner stillen Emsigkeit. Hier wird die Schweiz vermessen.

Ulrichs Büro ist die Nummer 421. Er zeigt auf seinen Bürosessel: «Kaum gebraucht», er zeigt auf sein Laufband, «hat Staub». Er sei fast nie hier, sagt er entschuldigend. Der Direktor ist meist unterwegs, im BfS, in Bern oder in der Welt, 12 Sitzungen pro Tag oder mehr. Ulrich ist ein guter Verkäufer, der Statistik und seiner selbst. Trotzdem knirschte es im Juni in seinem Bundesamt.

Die Statistik zur Ausschaffung von kriminellen Ausländern zeigte, dass der Staat angeblich nur 54 Prozent von ihnen ausgeschafft hatte ­– die Zahl suggerierte, dass die anderen als Härtefalle eingestuft und deshalb nicht des Landes verwiesen worden waren. Das Thema ist brisant, bisher liess sich der Effekt der Ausschaffungsinitiative nicht in Zahlen fassen. Nach der ersten Entrüstung rechnete das BfS neu: 69 Prozent. Dann löschte es die Statistik ganz von der Website. «Wir hatten das Gefühl, wir hätten gesagt: ‹Aufpassen beim Interpretieren.› Wir waren zu arglos», sagt Ulrich. Der Fall ist kompliziert, es liegen erst wenige und nicht die richtigen Daten zu den Ausschaffungen vor.

Das BfS zog sich ganz aus der Diskussion zurück, es wollte keinen Fehler gemacht haben und wirkte rechthaberisch. «Im Parlament sagte einer, unsere Statistik sei Fake-News», sagt Ulrich. «Das war keine Diskussion mehr. Wir brauchen Vertrauen in unsere Arbeit.»

Fake-News. Kein Vertrauen. Das BfS war in seinem Selbstverständnis getroffen.

Das Gedächtnis der Schweiz

Büro Nummer 339. Hinter Heinz Wyder reiht sich die Geschichte der Schweiz, sie hat Platz in einem Bücherregal. Seit 1891 gibt das BfS das «Statistische Jahrbuch der Schweiz» heraus. Wyder ist der Chefredaktor, er ist Fan der Young Boys und einer dieser Menschen, die man bei einem Tor auf der Tribüne umarmen würde, auch wenn man sie nicht kennte. Wyder platziert sich vor die 125 Bände, was er sagt, bekommt das Gewicht dieser Bücher: «Sie sind das Gedächtnis der Nation», sagt er.

Das erste «Statistische Jahrbuch der Schweiz» hatte 280 Seiten, das neuste hat 664, es ist 2,7 Kilogramm schwer, gedruckt auf Spezialpapier, das der Zeit trotzt.

In der Ausgabe von 1891 dominieren Tabellen zur Landwirtschaft, dann, 1941, Kriegsjahre, keine Zahlen zum Militär – die blieben geheim. 1990 war die Volkszählung eine Herausforderung, weil Linke und Grüne davon abgeraten hatten, mitzumachen – die Fichenaffäre war kurz zuvor aufgeflogen. «Das Jahrbuch ist eine Abbildung unserer Lebenswelt, es sagt etwas über uns, über unser Zusammenleben», sagt Wyder. Ein Jahr Arbeit kostet dieses Buch, im Moment, in dem es erscheint, ist es bereits überholt. Aber es sei sowieso erst später wichtig, sagt Wyder, vielleicht in zwanzig, dreissig Jahren, denn man habe noch nicht herausgefunden, wie man all die Zahlen online archivieren könne. Das Buch hätte schon abgeschafft werden sollen. Es blieb. «Ich glaube, dass das einen Sinn hat, einen Wert», sagt Wyder, der es seit bald zehn Jahren verfasst. Viele Rückmeldungen hat Wyder nicht bekommen, nur einmal sagte ihm jemand, er würde es vermissen, wenn es nicht mehr erschiene.

Die Gänge im Bundesamt für Statistik sind so lang, man sieht die Menschen am anderen Ende nur als Schatten huschen. Die Sitzungszimmer sehen weiss und gleich aus, unmöglich, zu sagen, ob man schon einmal drinsass. Es ist nüchtern schön, dieses Gebäude.

Welt der Abkürzungen

Georges-Simon Ulrich, der Direktor, geht an diesem Tag durch 23 Türen, er schaut 28 Mal aufs Handy. Er nimmt 4 Anrufe entgegen, einer kommt direkt aus dem Bundeshaus.

Ulrich sagt, das BfS stehe unter politischem Druck. Die Geschichte mit den Ausschaffungszahlen hat dem Ruf geschadet: «Ich höre aus dem Parlament: Für die paar Excellisten braucht ihr nicht so viel Geld.» 172. 429 Millionen Franken kostete das BfS im vergangenen Jahr, 814 Menschen arbeiten dort, es erstellte 17 630 neue Tabellen, Grafiken, Karten – Produkte nennen sie sie hier. Einmal erzählt eine Mitarbeiterin, es gebe Statistiken, die interessierten vielleicht fünf Menschen in der Schweiz – nur: Vielleicht entschieden genau diese fünf Leute über die Schweizer Geldpolitik. Egal, wen man fragt: Niemand weiss, welche Statistik man streichen könnte. Im BfS vergleichen sie es mit einem Flugzeug: Die Politiker und Stimmbürger fliegen es, das BfS liefert die Instrumente im Cockpit – ohne sie stürzte das Flugzeug, die Schweiz, ab.

Büro Nummer 445. Jean-Pierre Renfer ist der höchste Mathematiker im Haus, er leitet die Sektion Meth. Das BfS ist eine Welt der Abkürzungen, Sozan – Sozialanalysen, Obsan – Gesundheitsobservatorium, Meth – Statistische Methoden. Renfer sagt: «Hier ist das Herz des BfS.»

Wenn Renfer seine Arbeit erklärt, ist es, als würde der Vater einem bei den Hausaufgaben helfen: Renfer erklärt langsam, mit viel Geduld, und wenn sein Gegenüber eine Kleinigkeit begreift, ruft er: «Genau!» «Eine einfache Frage ist: Wie viele Menschen leben in der Schweiz?», sagt Renfer. Das klingt simpel. Doch es gibt Länder, die kennen diese Zahl nicht. Aber nur wer weiss, wie viele Menschen wo leben, kann Schulen bauen oder Strassen oder Spitäler. Die Volkszählung ist so etwas wie die Urstatistik der Schweiz. Einst musste jeder Haushalt einen Fragebogen ausfüllen, viele Stapel Papier wurden ins BfS geschleppt, dort ausgewertet, und drei Jahre später erschien eine Statistik. Heute muss für eine Volkszählung nicht mehr jeder einzeln befragt werden, die Statistiker verwenden grösstenteils jene Daten, die in den Einwohnerregistern der Gemeinden erfasst sind.

Aber meistens ist es komplizierter.

Renfer und sein Team designen Statistiken. Sie überlegen, wie sie die Fragen beantworten können, von denen die Schweizer noch gar nicht wissen, dass sie wichtig sind. Wer verdient in der Schweiz wie viel? Wen muss man fragen, um es herauszufinden, was ist eine repräsentative Stichprobe? «Wir wollen wissenschaftlich fundierte Antworten auf die Fragen in unserer Gesellschaft. Das ist wichtig für die Demokratie», sagt Renfer. Aber wie muss man fragen? Online, per Anruf, per Post. Einige Genervte werden nicht antworten, auch das berechnen Renfer und sein Team. Man kann mit diesen gesammelten Daten dann Fragen stellen, etwa nach der Einkommensverteilung, der Schweizer Median beträgt 6502 Franken im Monat. Man kann die Stichproben hochrechnen auf die gesamte Bevölkerung, das BfS ist auch die Welt der Tabellen, die längste hat gut 8 Millionen Zeilen, für jeden Einwohner der Schweiz eine.

Kritiker des BfS stören sich an diesem Datensammeln. Nicht weil der Datenschutz nicht gewährleistet wäre, es gibt keine Namen in diesen Listen. Aber die Umfragen bedeuten einen Aufwand für die Schweizerinnen und Schweizer, vor allem für die Unternehmen: Sie sind verpflichtet, jedes Jahr umfangreiche Formulare auszufüllen. Das BfS sagt, man brauche diese Daten, um Wirtschaftspolitik zu betreiben. Der SVP-Fraktionschef Adrian Amstutz kritisierte im Frühling in der NZZ, die Datenerhebung des BfS sei zu kompliziert. Er forderte «eine rigorose Verwesentlichung», und er sagte, das Amt produziere Fake-News, weil niemand wisse, wie er dessen Befragungen auszufüllen habe.

Fake-News, das ist ein Kampfbegriff geworden: gegen alles, was nicht ins eigene Weltbild passt. Renfer sagt: «Es ist wichtig, dass die Leute mitmachen bei den Befragungen. Es ist genauso wichtig, wie bei Wahlen mitzumachen. Das muss man den Leuten erklären.»

«Dermassen komplex»

Neben dem BfS-Glasturm den Hügel hoch, da wohnte einst der Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt. Dürrenmatt schrieb 1955 in «Theaterprobleme»: «Der Staat hat seine Gestalt verloren, und wie die Physik die Welt nur noch in mathematischen Formeln wiederzugeben vermag, so ist er nur noch statistisch darzustellen.» Statistik ist entmenschlicht, es sind nur Zahlen, einen Zugang zu ihnen zu finden, ist schwierig. «Komplex», «kompliziert», «dermassen komplex», so beschreiben Mitarbeiter des BfS ihre Arbeit, viele haben aufgegeben, ihrem Umfeld zu erklären, was sie genau machen. Dabei erzählen sie gerne davon, wenn man sie fragt.

Georges-Simon Ulrich gähnt an diesem Tag 7 Mal, er kratzt sich 23 Mal an der Nase, legt 21 Mal die Brille ab und an, er knackst 1 Mal mit den Fingern, und er hält 1 Vortrag. Er spricht vor Besuchern der Deza, der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit. Ulrich erklärt ihnen, was das BfS tut, er wird später sagen, ein Drittel seiner Arbeitszeit verbringe er damit, zu legitimieren, was er überhaupt mache. «Verstehen wir im BfS die Fragen, die die Bevölkerung stellt?», fragt er in den Saal. Dann setzt er sich wieder, andere werden noch sprechen. Er gähnt zum ersten Mal.

Ulrich lädt immer wieder Parlamentarier ins BfS ein, sie sollen sich selber einen Eindruck verschaffen. Es kommt kaum je einer.

Konferenzsaal T1402. Um Thomas Schulz herum rutschen sie auf ihren Stühlen, manche sitzen noch, andere fläzen sich schon, sie alle sind Schulz’ Gäste: Amtskollegen aus anderen europäischen Statistikämtern. Schulz ist Leiter der Sektion Diam, Diffusion und Amtspublikationen, dahinter verbirgt sich die Aufgabe, die Statistiken des BfS unter die Bevölkerung zu bringen. Schulz ist ein Mann, der auch dann noch freundlich lächelt, wenn der französische Kollege nebenan sich mehr für den Gift-Bag interessiert als für die Power-Point-Präsentation. Schulz und seine europäischen Amtskollegen fragen sich im Konferenzsaal T1402, wie man Menschen für Statistik interessiert. Nicht begeistert, nur interessiert. Die britische Diffusions-und-Amtspublikations-Beauftragte sagt: «Am liebsten wollen die Leute von uns wissen, wie viele Burger gegessen werden. Was die Menschen denken, was wir tun, und was wir tatsächlich tun – das ist ein grosser Unterschied.» Alle nicken.

Schulz hat schon vieles versucht, um der Schweizer Bevölkerung die Statistik näherzubringen, USB-Sticks, CD-ROM. «Unsere Arbeit ist vielleicht nicht sexy. Wir wollen sie aber trotzdem verkaufen», sagt er. 12 913 976 Mal wurden die Statistiken auf der BfS-Website angeklickt – Schulz sagt, vielleicht die Hälfte der Klicks stamme aus Hochschulen oder von Mitarbeitern des Bundes. Die andere Hälfte erfolge privat, dazu zählten auch die Journalisten, die dann manchmal vergässen zu erwähnen, woher sie die Daten hätten. So sagt es Schulz. Er würde gerne direkt in Kontakt treten mit der Schweiz, nicht nur durch die Medien, er wäre gerne auf Social Media präsent. Er träumt davon, dass das BfS sich dort einmischt, richtigstellt, wenn Falsches gepostet wird, und die Diskussion mit Fakten füttert.

Im April startete das BfS einen Versuch, in die öffentliche Wahrnehmung zu treten, an einem Medientermin sagte der Direktor, das BfS wolle gegen Unwahrheiten im Internet vorgehen. Fake-News nannte sie auch Ulrich und übernahm die Worte jener, die er mit Fakten entlarven wollte – es waren Worte, die ihm nach dem Zurückziehen der Ausschaffungszahlen hämisch vorgehalten wurden. Schon vor zwei Jahren redete der Direktor von dieser Offensive in den sozialen Netzwerken. Aber passiert ist wenig. Die Ressourcen fehlten, sagt er. Das BfS mischt sich nicht ein, in der lauten Welt der sozialen Netzwerke ist es ziemlich leise. Die offizielle Facebook-Seite hat 171 Likes, der deutschsprachige Twitter-Account 3296 Follower. Zum Vergleich: Bei grossen Schweizer Medien sind beide Zahlen mindestens fünfstellig.

«Unser Auftrag wäre, die breite Masse zu erreichen», sagt Schulz. Aber man erreicht die breite Masse nur schwer mit Zahlen. Die Statistiker aus Polen versuchen es mit einem Handyspiel, die Finnen und auch die Schweizer mit Videos. Der Vertreter Irlands besucht Primarschulen, er erzählt dann diese Geschichte: «Auf einer Wiese stehen drei Schafe, wie viele Schafe stehen da?» «Drei», sagen die Kinder. Und wenn es ein Männchen, ein Weibchen und ein Lamm sind, sind es noch immer drei Schafe? «Ja», sagen die Kinder. «Und wenn das Weibchen trächtig ist?» So geht es immer weiter. Statistik heisst, zu wissen, worüber man spricht – Statistik heisst, sich zu einigen.

Schulz und seine Amtskollegen kämpfen mit ihren Spielen, Videos, Geschichten gegen die «statistical illiteracy» – den statistischen Analphabetismus, also die Unfähigkeit, mit Statistiken umzugehen. Sie sei weit verbreitet, sagt Schulz. Aber wer nichts weiss über Statistik, der weiss auch nicht, wie einfach sie manipuliert werden kann.

Vor der Masseneinwanderungsinitiative hantierte die SVP mit BfS-Zahlen, sie rechnete die jährliche Zuwachsrate bei Schweizern und Ausländern linear hoch, das Ergebnis war, dass 2060 16,3 Millionen Menschen in der Schweiz lebten, über die Hälfte von ihnen Ausländer. Das BfS distanzierte sich von solchen Rechenspielen, es war eines der wenigen Male, als das Amt sich einmischte. Ein Jahr später forderte die SVP, das BfS-Budget zu halbieren, der Vorstoss scheiterte im Nationalrat.

Statistik ist hochpolitisch

Georges-Simon Ulrich belädt seinen Teller mit Mittagessen: 2 Pouletspiesse, 2 Bruschette, 1 Salat, 1 Brötchen.

Die öffentliche Statistik sei unabhängig, sagt Ulrich zwischen Pouletspiess und Bruschetta. Ulrich ist in keiner Partei. Das BfS ist ans Departement des Inneren angegliedert, aber es gibt den etwas sperrigen Begriff «Querschnittsbundesamt»: Es ist auf die Daten und die Zusammenarbeit der anderen Bundesämter angewiesen. «Natürlich könnte Bundesrat Alain Berset sich einmischen. Das macht er aber nicht.» Die Statistiker haben einen europäischen Ethikkodex, das ist der Unterschied zu privaten Statistikanbietern. Wenn Politiker in die öffentliche Statistik eingreifen, hat das meist Folgen: Kürzlich wurde der Chef des statistischen Amtes in Griechenland zu zwei Jahren Haft verurteilt, weil er sich geweigert hatte, geschönte Zahlen zu publizieren.

«Natürlich ist Statistik hochpolitisch», sagt Ulrich. Denn was gemessen wird und wie, ist politisch, wen man fragt und welche Fragen man stellt. «Es gibt keine Wahrheit, man kann sich nur einig sein, was man messen will.» Wie hoch ist die Armut? Die Bildung? Das Bruttoinlandprodukt? Mit den Indikatoren macht man Politik, weil man sich auf sie geeinigt hat. «Aber am Ende sucht sich in der Statistik jeder seine eigene Wahrheit, das war schon immer so», sagt Ulrich.

Die Treppenstufen im Glashaus sind aus Metall, bei jedem Schritt schwingen sie ein bisschen, «ting-ting-ting», 72 Mal von der Eingangshalle bis ganz oben.

Georges-Simon Ulrich eilt auf den 13.59-Zug nach Zürich. «Die Uhrzeit», sagt Ulrich, «darauf haben wir uns ja auch geeinigt.»

Zweifel gesät

Nur scheinen sich heute in der Welt alle immer weniger einig zu sein. Weil jeder lieber recht hat, werden Fakten zu Fake-News. «Heute kann man in einer viel grösseren Echokammer leben und sich nur mit Leuten der gleichen Meinung umgeben», sagt Ulrich. Die sozialen Netzwerke haben diese Echokammern, diese Blasen, vergrössert, der Ton ist gehässiger geworden, rechthaberischer. Ulrich sagt: «Früher hatte jede Echokammer eine Basis, irgendwann fragte jemand: Stimmt das? Was sagt die Statistik? Aber dort, wo es nur darum geht, eine Meinung zu haben, dort haben wir keinen Zugang.»

Die zurückgezogenen Ausschaffungszahlen des BfS zeigen, dass man sich immer wieder neu einigen muss, was die Fakten sind und wie sie geschaffen werden.

Die Fake-News-Rufe aber haben einen Zweifel gesät: daran, dass es so etwas gibt wie Fakten, dass es überhaupt etwas gibt, worauf man sich geeinigt hat in diesem Land.

Georges-Simon Ulrich drückt in der Zürcher Bahnhofunterführung noch kurz die Hand, das 20. Mal an diesem Tag. Mit dem 4498. Schritt verschwindet er in der Menge. Einer von durchschnittlich 466 800 Reisenden an Werktagen am Bahnhof Zürich.

Das Leben ist Statistik.

Direktor Ulrich in Zahlen

Einen Arbeitstag lang liess sich der Direktor des Bundesamtes für Statistik selber vermessen: vom ersten Treffen am Bahnhof Zürich bis zum letzten Händedruck. 

Der Faktenlieferant unter DruckIm Zeitalter von Fake-News betont das Bundesamt für Statistik die Wichtigkeit von öffentlichen Statistiken.Valerie Zaslawski, Bern 4.4.2018, 21:54INTERVIEW«Die Medien haben begonnen, sich zu verteidigen und Trump zu verspotten. So gaben sie dem Publikum eine Art Ausrede für ihr Misstrauen, das ist fatal.»Das Vertrauen in Fakten und Experten schwindet weltweit. Warum ist das so? Wir haben dazu einen Experten befragt: den dänischen Philosophen Vincent F. Hendricks.Marie-José Kolly / Tobias Ochsenbein 12.10.2018, 05:30KOMMENTARHeikleKampf gegen Fake-NewsDas Bundesamt für Statistik möchte nicht mehr stillschweigend Daten publizieren, sondern sich aktiv an Diskussionen beteiligen. Damit begibt es sich auf riskantes Terrain.Christof Forster 4.4.2018, 20:28MEINE NZZ