Dies & Das: Dem Mittelstand geht es an den Kragen – und zwar nicht nur beim Lohn

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Er gilt als das Rückgrat von Gesellschaft und Wirtschaft. Doch um den Mittelstand steht es nicht zum Besten. In den Industriestaaten sieht sich die Einkommensgruppe gleich auf drei Ebenen herausgefordert.

Thomas Fuster, 10.4.2019


Solider Mittelstand

Ein solider Mittelstand ist wichtig für jedes Land. Das gilt ökonomisch, gesellschaftlich und poli­tisch. Keine andere Einkommensklasse hält den Konsum gleichermassen am Laufen und sorgt für Investitionen in Bildung, Gesundheit und Immobilien. Staaten mit einem starken Mittelstand weisen ausserdem tiefere Kriminalitätsraten und eine höhere Lebenszufriedenheit aus. Ist der Wohlstand breit verteilt, profitieren auch die soziale Kohäsion und die politische Stabilität. Nicht ohne Grund gilt der Mittelstand seit je als Fundament einer demokratischen Volkswirtschaft.

Der Lohn kommt nicht vom Fleck

Um dieses Fundament steht es derzeit aber nicht gut. Diesen Eindruck hinterlässt eine neue Studie der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Sie zeichnet das Bild einer Gruppe, die auf drei Ebenen herausgefordert ist: Erstens entwickeln sich die Einkommen seit über drei Jahrzehnten weit träger als jene der Oberschicht. Zweitens steigen die Lebenshaltungskosten rascher als die Einkommen. Und drittens verdüstern sich die Perspektiven, da die Digitalisierung und Automatisierung viele Jobs der Gruppe zu eliminieren droht.

Doch wer gehört überhaupt zum Mittelstand? Nach Massgabe der OECD jene Haushalte, die zwischen 75% und 200% des nationalen Median-Einkommens verdienen. Der Median ist dabei jener Lohn, der von der Hälfte der Bevölkerung über- bzw. unterschritten wird. Hält man sich an diese Definition, zählen im OECD-Klub der Industrieländer rund 61% der Bevölkerung zum Mittelstand. Die Streuu­ng ist aber gross: In Ländern wie Chile, Mexiko, den USA und Israel beträgt der Anteil 50%; in den egalitären Staaten Nordeuropas indes 70%.

Die Schweiz ist eine Ausnahme. Hierzulande kann kein Bedeutungsverlust der Mittel­klasse festgestellt werden.

Jedoch sinkt der Anteil des Mittelstands stetig. Zählten noch 70% aller Babyboomer (Geburtsjahr: 1943 bis 1964) im Alter zwischen 20 und 30 Jahren zur Mittelschicht, gilt dies bei der Generation der Millennials (1983 bis 2002) nur noch für 60%. Die Bedeutung der Gruppe als «ökonomisches Gravitationszentrum», so die Umschreibung der OECD, schrumpft. Heute machen die aggregierten Einkommen der Mittelklasse weniger als das Drei­fache der einkommensstarken Haushalte aus; vor drei Jahrzehnten lag das Verhältnis noch bei vier.

Die Kosten steigen überproportional

Die Schweiz ist eine Ausnahme. Hierzulande kann kein Bedeutungsverlust des Mittelstands festgestellt werden. Neben Irland und Spanien gehört die Schweiz unter den OECD-Staaten zu den einzigen Ländern, in denen der Einkommensanteil des Mittelstands nicht stärker zurückgegangen ist als dessen Anteil an der Bevölkerung. Die Schweiz gehört neben Irland und Frankreich ausserdem zum Trio jener Industrieländer, in denen der Anteil der hohen Einkommen an den Gesamteinkommen zwischen Mitte der 1980er und der 2010er Jahre gesunken ist. Dies im Gegensatz zur OECD als Gruppe; hier stieg die Quote von 18 auf 23%.

Aggregierte Daten verschleiern nationale Unterschiede. Doch Tatsache bleibt, dass in der OECD die Löhne des Mittelstandes seit Mitte der 1980er Jahre deutlich weniger zugelegt haben als jene im oberen Segment. Dieser Trend ist durch die Finanzkrise noch verstärkt worden. So stieg der reale Medianlohn zwischen 2007 und 2016 nur noch um 0,3%, verglichen mit einem Plus um immerhin 1% zwischen Mitte der 1980er und 1990er Jahre und einer Zunahme um hohe 1,6% zwischen Mitte der 1990er und 2000er Jahre.

Löhne der Mittelklasse wachsen langsamer als die Top-Einkommen

Insgesamt hat der Medianlohn in den OECD-Staaten um einen Drittel weniger zugelegt als der Lohn der reichsten 10%. Entsprechend verschärft hat sich die Polarisierung der Einkommensverteilung. Das bekannteste Beispiel sind die USA: Dort hat sich der Anteil der 1% Topverdiener am gesamten Einkommen in den letzten 30 Jahren fast verdoppelt. Rund die Hälfte des gesamten Einkommenszuwachses in den USA ist auf diese kleine Gruppe der Topverdiener zurückzuführen. Der sozialen Kohäsion ist dies wenig förderlich.

In keiner anderen Einkommensgruppe ist der Anteil überschuldeter Haushalte derart hoch wie im Mittelstand.

Doch nicht genug damit, dass der Mittelstand einkommensmässig kaum vom Fleck kommt. Hinzu kommt, dass die typischen Lebenshaltungskosten der Gruppe stärker steigen als die ausgewiesene Inflation. Ein Beispiel sind die überproportional steigenden Gesundheits­kosten. Aber auch die Ausbildung der Kinder belastet die Budgets immer stärker. Gleiches gilt für die Wohnkosten; diese beanspruchten noch in den 1990er Jahren einen Viertel des verfügbaren Einkommens, heute liegt die Quote bei einem Drittel.

Lebenshaltungskosten steigen stärker als Inflation

Zwar gibt es bei der Kostenentwicklung grosse nationale Unterschiede. Gesamthaft sind in der OECD aber allein die Häuserpreise in den letzten zwei Jahrzehnten dreimal so stark gestiegen wie das Median-Einkommen. Diese Divergenz tangiert das Selbstverständnis des Mittelstands. So wird mit der Zugehörigkeit zu dieser Bevölkerungsgruppe vielerorts vor allem der Besitz eines Eigenheims assoziiert. Ein solches können sich aber immer weniger Menschen leisten – oder sie müssen hierzu gefährlich tief in die Tasche greifen.

Nährboden für sozialen Unmut

Wenig überraschend ist der finanzielle Spielraum enger geworden. Jeder fünfte Mittelstandshaus­halt gibt mehr aus, als er einnimmt. Entsprechend steigt das Schuldenrisiko. In der OECD sind bereits 11% aller Haushalte des Mittelstands überschuldet; das heisst, deren Verbindlichkeiten sind höher als drei Viertel ihrer Vermögenswerte. In keiner anderen Einkommensgruppe – weder ganz unten noch ganz oben – ist der Anteil überschuldeter Haushalte grösser als im Mittelstand. Ent­sprechend negativ beurteilt diese Gruppe auch die wirtschaftlichen Perspektiven für ihre Kinder.

Die Chancen der Jungen, dereinst ebenfalls zum Mittelstand zu zählen, sinken in der Tat. Zum einen, weil Ältere meist besser geschützt sind vor Umwälzungen am Arbeitsmarkt. Zum andern, weil mittlere Fähigkeiten längst nicht mehr ausreichen, um zur mittleren Einkommensschicht zu gehören. Vielmehr sind schon heute fast die Hälfte aller Vertreter des Mittelstandes in Berufen tätig, die ein hohes Qualifikationsniveau voraussetzen; vor zwei Jahrzehnten lag die Quote erst bei einem Drittel. Das heisst: Eine hohe Ausbildung garantiert zusehends weniger auch ein hohes Einkommen.

Die beruflichen Anforderungen an den Mittelstand steigen

Heute braucht es in den meisten OECD-Haushalten zwei Verdiener für einen Platz im Mittelstand. Früher war dies anders. Das schürt Frustration. Die Stagnation des Mittelstandes wird denn auch oft als Hauptgrund für isolationistische Reflexe genannt, wie sie in der Wahl von Donald Trump oder im Brexit-Vo­tum zum Ausdruck kamen. Das Wirtschaftssystem wird von einer wachsenden Zahl von Menschen als un­fair empfunden. Man glaubt nicht länger an die Verheissung, dass die Globalisierung letztlich allen zugutekommt. Die Daten der OECD zeigen, dass die Skepsis nicht gänzlich aus der Luft gegriffen ist.

Die Zugehörigkeit zum Mittelstand wird vielerorts vor allem durch den Besitz eines Eigenheims symbolisiert. Doch leisten können sich das immer weniger. (Bild: Christian Beutler / NZZ)

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