Dies & Das: Standpunkte-NZZ

Die europäische Bevölkerung hat sich pluralisiert – ob einem das gefällt oder nicht

Der starke Populismus und die Schwäche der etablierten Parteien sorgen für hitzige Debatten in Europa. Die Wiener Philosophin Isolde Charim, die in der jüngsten Folge der «NZZ-Standpunkte» zu Gast war, sieht in dieser Entwicklung das Ergebnis einer zunehmenden Pluralisierung der Gesellschaft, die als Krise erlebt wird.

Nicht erst seit der Europawahl herrscht politische Verunsicherung in vielen Ländern des alten Kontinents. Die Programme der etablierten Volksparteien sprechen die breite Menge der Bevölkerung nicht mehr an. Warum das so ist, darüber rätseln die alten Platzhirsche. Gleichzeitig gewinnen populistische Parteien Aufwind. Das Ergebnis des Brexit-Referendums in Grossbritannien machte eine Spaltung deutlich, die fast überall vorherrscht: Die eine Hälfte der Gesellschaft befürwortet die Globalisierung und profitiert auch von ihr. Die andere Hälfte fühlt sich von den Veränderungen in Wirtschaft, Lebenswelt und Technologie überfordert und von den eigenen Eliten im Stich gelassen – eben sie begrüsste den Brexit, damit ihre Welt wieder Grenzen erhält und überschaubarer und sicherer wird.

Krise der herkömmlichen Identitätskonzepte

Die Philosophin und Publizistin Isolde Charim sieht als Grund für diese Spaltung die zunehmende Individualisierung der Gesellschaft in Zeiten der Globalisierung. In ihrem 2018 erschienenen Buch, «Ich und die Anderen – wie die neue Pluralisierung uns alle verändert», erklärt sie, wie sich durch die zunehmende Individualisierung der Gesellschaft die klassischen kollektiven Identitätskonzepte wie Religion, Klasse, Kultur oder Nation langsam auflösten.

Gemäss Charim kommt ein Teil der Menschen mit dieser Individualisierung und Freiheit nicht zurecht und sehnt sich nach einer neuen übersichtlichen Ganzheit. Das Problem ist, dass die Veränderung bereits unumkehrbar stattgefunden hat: «eine Pluralisierung unser aller Gesellschaften». Diese Realität müssen wir uns bewusstmachen, so Charim. «[Der Populismus] ist die Abwehr der Veränderung durch Rückwärtsgewandtheit.» Das aber ist für sie kein Weg in die Zukunft.

Die Globalisierung muss laut Charim adressiert und für alle verständlich gemacht werden. Nur dann könne man neue Strukturen entwerfen, die zur heutigen Gesellschaft passten. Diese sollen die Menschen sowohl rechtlich als auch moralisch miteinander verbinden. «Einem neuen Konzept der Gesellschaft werden wir alle nicht entgehen können.» Bis anhin seien die etablierten Parteien daran gescheitert, mit den veränderten Realitäten umzugehen und die bisherigen Strukturen und Konzepte komplett zu hinterfragen, so Charim.

Von den Populisten lernen

Die preisgekrönte Philosophin fordert die etablierten Politiker auf, von den Populisten zu lernen: Die Emotionen und Interessen, welche diese mit grossem Erfolg ansprächen, seien nämlich echt und unter den Menschen vorhanden. Ob die Verlusterfahrungen von Trump-oder AfD-Anhängern real sind oder nur eingebildet – Gefühle verändern das politische Feld. Der Kampf des bedrängten Mittelstandes geht gegen die globalisierten Eliten oben und die Migranten unten, doch es ist ein Kampf gegen Windmühlen. «Es ist ein Faktum, dass sich die Bevölkerung pluralisiert hat», so Charim. «Egal ob einem das gefällt oder nicht.» Das könne man nicht mehr rückgängig machen.

Wie soll man die «benachteiligte» Hälfte der Bevölkerung an die Veränderung heranführen? Laut Charim ziehen sich die Menschen heute mehr und mehr in ihre kleineren Gemeinschaften zurück, in denen sie sich wohl fühlen. Hier herrsche Homogenität, ein Gefühl der Solidarisierung und Geborgenheit. Die Herausforderung sei es, für diese Gemeinschaften einen gemeinsamen Nenner zu definieren, damit sie sich als Teil eines gesellschaftlichen Ganzen fühlen könnten. «Wir erleben eine Veränderung der Bevölkerungszusammensetzung», so Charim. «Man muss den Leuten Zeit geben, das zu verdauen. Es ist für jeden schwierig zu verstehen, wie sehr sich die Gesellschaft verändert hat.» Erst mit der Einsicht in die veränderte Lage könne ein Prozess des «Aneinandergewöhnens» beginnen, so Charim. Es sei für den Staat wichtig, die Durchmischung der verschiedenen Gruppen zu fördern, indem man Begegnungszonen einrichte, wo möglichst wenige Regeln herrschten. «Die Unsicherheit aller erzeugt eine sicherere Gesamtsituation.»

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Weitere Links:

„Wir leben im identitären Prekariat“ Isolde Charim im Gespräch mit Günter Kaindlstorfer

Alexandra Oetzlinger, Isolde Charim: #MeToo und die Folgen – eine Debatte

Die „pluralisierte Gesellschaft“ – Isolde Charim und Armin Thurnher im Gespräch – #44

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