Der Schweizer Wald ist krank
Jetzt fordert der Dürresommer 2018 seinen Tribut: Viele Buchen sind krank oder bereits tot, selbst der Weisstanne wird es zu heiss. Was passiert da gerade im Schweizer Wald?
von Andreas Frey, 6.7.2019
Als die Mutter des Waldes hat man die Buche früher bezeichnet, als einen beständigen Baum, der das Leben im Wald nährt und beschützt. Doch jetzt scheint die Mutter des Waldes selbst auf Hilfe angewiesen. In vielen Regionen ist der sommergrüne Laubbaum nur noch eine «welke Erscheinung».
Viele Buchen sind krank, manche bereits tot. Das ganze Ausmass des Sterbens ist noch unklar. Denn erst allmählich wird sichtbar, wie sehr der Laubbaum unter dem Dürresommer 2018 gelitten hat. Eines ist aber sicher: Es sind nicht nur Einzelbäume betroffen, ganze Buchenbestände sind tot, berichten Forstwissenschafter.
Im Basler Hardwald sind die Schäden bereits unübersehbar; der Wald sieht aus wie im Spätherbst – das Laub rot, die Wipfel kahl. Eine halbe Million Blätter hat eine ausgewachsene Buche normalerweise, doch viele Bäume haben dieses Jahr gar nicht mehr ausgetrieben. Äste brechen ab, überall liegt morsches Holz. Es sei eine Extremsituation für die Region Basel, sagen Fachleute.
Die vorläufige Bilanz: 2000 grosse Bäume müssen gefällt werden, das entspricht einem Fünftel des gesamten Waldbestands. Abgestorben sind hauptsächlich die Buchen, vertrocknet auf dem kiesigen Boden, der kaum Wasser speichern kann. Zwischen Birsfelden und Muttenz kreischen deshalb jetzt die Motorsägen, das beliebte Naherholungsgebiet bleibt bis Ende des Jahres gesperrt. Es herrscht Lebensgefahr.
Am stärksten betroffen dürften Schaffhausen, das Zürcher Weinland, der Aargau, Solothurn, Basel und Chur sein.
Wer sich mit Andreas Rigling über die Schäden unterhält, der ahnt, wie angespannt die Situation in den Wäldern derzeit ist. Rigling ist Forstwissenschafter an der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) in Birmensdorf. Derzeit erarbeitet er mit seinen Kollegen eine Übersicht über das räumliche Ausmass der Dürreschäden in der Schweiz. Mithilfe von Satellitenfotos werten sie den Schaden aus. Bei der Buche hat die WSL bereits eine Vorbilanz gezogen.
Von tausend untersuchten Buchen, die 2018 frühzeitig verwelkten, weise etwa ein Sechstel sichtbare Schädigungen auf, sagt Rigling. Einige seien bereits vollständig abgestorben. Endgültige Zahlen über den Zustand des Waldes werden noch diesen Monat vorgestellt, die Forscher gehen von grossen regionalen Unterschieden aus.
Hotspots sind wohl Bergkuppen, Waldränder und Gegenden, wo die Böden nur wenig Wasser speichern. Am stärksten betroffen dürften Schaffhausen, das Zürcher Weinland, der Aargau, Solothurn, Basel und Chur sein. Weniger stark gelitten haben jene Regionen, wo die Böden Reserven anlegten und Gewitter ein wenig Wasser brachten.
Wenn sich Andreas Rigling an den Dürresommer vor einem Jahr erinnert, dann ist er immer noch erstaunt. «Etwas in diesem Ausmass habe ich noch nicht erlebt», erzählt er. Er hat die Dürre 1976 und auch das Jahr 2003 analysiert, jetzt sagt er: «Was wir derzeit in den Wäldern sehen, ist ausserordentlich.» Vom Alpenbogen bis nach Südschweden fiel 2018 monatelang kein Regen. Die Böden trockneten aus, der Wald litt unter grossem Trockenstress.
Als Erstes kränkelten wie immer die Fichten. Sie vertrocknen zwar nicht, bildeten aber irgendwann nicht mehr genug Harz, um die Bohrlöcher der Borkenkäfer zu verkleben. Kurze Zeit später färbten sie sich braun und waren bald verloren. Ähnlich erging es der Weisstanne, wenn auch verzögert. Sie war ebenfalls nicht mehr in der Lage, sich gegen solche Sekundärschädlinge zu wehren. Ausserdem sei die Waldkiefer in den tieferen Lagen des Wallis in einem «erschreckenden Zustand», sagt Andreas Rigling.
Dass selbst die Weisstanne schwächelt, besorgt den Fachmann besonders. Der Nadelbaum war ein Hoffnungsträger für das Klima der Zukunft, weil er im Gegensatz zur Fichte besser mit Trockenheit umgehen kann. Die Weisstanne verankert sich tiefer und legt ein stark verzweigtes Wurzelsystem an, das Stürmen trotzt und Bodenwasser aus tieferen Schichten zieht.
Offenbar hat man aber ihre Hitzeempfindlichkeit unterschätzt, weshalb sie für tiefere und heissere Lagen wohl weniger geeignet ist.
Immer mehr einheimischen Baumarten geht es schlecht. Nach Ulme, Esche und Erle ist jetzt auch der Ahorn gefährdet. Die Schlauchpilzart Cryptostroma corticale befällt vor allem den Bergahorn, russige Flecken bilden sich, der Baum stirbt.
Die sogenannte Russrindenkrankheit ist in der Schweiz schon länger bekannt, doch jetzt mehren sich die Fälle. Ist ein Baum befallen, muss er weg: Die Pilzsporen gefährden die Gesundheit der Anwohner, weil sie in die Lunge eindringen. In Basel wurde kürzlich ein vierzig Jahre alter Bergahorn zerstückelt und verbrannt, kurz nachdem die Krankheit entdeckt worden war.
Was passiert da gerade im Schweizer Wald, der sich hauptsächlich aus Fichten, Tannen und Buchen zusammensetzt? Hat er eine Zukunft, besonders auch als CO2-Speicher, wenn jetzt sogar die Mutter des Waldes bedroht ist? Zum Klimawandel kommt noch ein Problem hinzu. Die Globalisierung könne zu einer Verschlechterung des Waldzustands beitragen, sagt Andreas Rigling.
Über den Warenverkehr werden Schädlinge und Krankheiten nach Mitteleuropa eingeschleppt, denen heimische Baumarten häufig schutzlos ausgeliefert sind – zumal sie wie im vergangenen Jahr mit Trockenstress zu kämpfen haben. Man muss sich Sorgen machen um die heimischen Bäume, die hier seit Jahrhunderten angepasst sind.
Erleben wir ein neues Waldsterben? Allein der Begriff löst bei vielen Forschern Unbehagen aus. Dabei war die Beschreibung des desolaten Waldzustands in den achtziger Jahren korrekt: Sehr viele Bäume waren krank, vor allem in den Hochlagen. Falsch war allerdings die Prognose: Ein Wald kann nicht einfach synchron absterben.
Leugner des menschengemachten Klimawandels berufen sich heute gerne darauf, um die Erderwärmung infrage zu stellen. Das Waldsterben sei ja auch nicht eingetreten, heisst es. Sie verkennen dabei, dass das Problem damals ein grundsätzlich anderes war: Die Bäume litten unter schwefelhaltigen Luftschadstoffen und dem daraus resultierenden sauren Regen.
Dieses regionale Problem konnte man vergleichsweise einfach mit Filteranlagen lösen. Klimawandel und eingeschleppte Krankheiten gehen hingegen auf ein globales Problem zurück, für das es bisher kaum Lösungen gibt.
Der Wald muss bunter, robuster und artenreicher werden, er muss an das künftige Klima angepasst werden, wenn er überleben soll.
Der Wald braucht robuste Bäume, das ist nicht erst seit der verheerenden Dürre vor einem Jahr klar. Und doch hat der Sommer etwas verändert, sagt auch der Gebirgswaldökologe Harald Bugmann von der ETH Zürich. Regelmässig spricht er mit Waldbewirtschaftern über den Umbau des Waldes. Vor zehn Jahren sei die Reaktion noch abweisend gewesen. «Klimawandel? Das betrifft mich nicht», hätten die Forstleute ihm geantwortet.
Mittlerweile kommen sie von sich aus auf ihn zu und fragen, welche Baumarten sie künftig wann pflanzen sollen. Dass auch die heimischen Laubbäume unter der Trockenheit leiden, überrascht und besorgt ihn. Das vollziehe sich alles viel schneller als gedacht, sage ihm sein Bauchgefühl. Der Forscher in ihm sagt aber auch: «Ein Sommer lässt noch keine Baumart verschwinden.»
Und doch drängt die Zeit. Der Wald muss bunter, robuster und artenreicher werden, er muss an das künftige Klima angepasst werden, wenn er überleben soll. Das bedeutet: Mischwälder statt Monokulturen, Vielfalt statt Einfalt und mehr Bäume aus Regionen der Erde, die an heissere und trockenere Bedingungen gewöhnt sind.
Und der Wald muss rechtzeitig verjüngt werden, bevor die alten Riesen sterben. Auf der Alpensüdseite wären Arten aus dem Mittelmeerraum sinnvoll. Auf der Alpennordseite hingegen könnten Bäume aus kontinentalen Klimazonen ein Teil der Lösung sein. Sie kommen mit Frost genauso gut zurecht wie mit Hitze und Trockenheit.
Zudem raten Forstexperten zu genetischer Vielfalt im Wald. Diese wird erreicht, indem man Samen von robusten Wäldern in kränkelnde versetzt. Oder indem man zum Beispiel die Orientbuche mit der heimischen Rotbuche kreuzt. Das hätte den zusätzlichen Vorteil, dass nebenbei die ökologische Vielfalt erhalten bliebe. Eines allerdings sagen Forstwissenschaftler unisono: Den einen Wunderbaum wird es nicht geben.
Ohne die heimischen Bäume wie Eiche und Ahorn werde es auch in Zukunft nicht gehen, sagt Harald Bugmann. Sie seien trotz allem vergleichsweise trockenresistent. Wer auf solche Bäume setzt, braucht aber auch ein Konzept, wie man mit dem Wild in den Schweizer Wäldern umgeht. Bleibt seine Zahl hoch, haben Jungbäume keine Chance.
Die Lösungen für das Problem sind nicht populär: Sie heissen Wolf, Luchs und Jagd. Vorerst rückt aber die Trockenheit in weiten Teilen des Landes erneut in den Fokus. Noch ist sie nicht dramatisch, aber die Wasserreserven in den Böden fehlen. Die Folgen einer erneuten Dürre möchten sich die Wissenschafter lieber nicht ausmalen.