Dies & Das: Flucht und Politik

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Ziehen NGO-Schiffe wirklich Flüchtlinge an?

Rettungsschiffe im Mittelmeer werden von Politikern und Behörden als Pull-Faktor gesehen. Dazu gibt es bisher nur wenige wissenschaftliche StudienKim Son Hoang 

1. August 2019 – 1.152 Postings

Wieso wandern Menschen aus? Und wie entscheiden sie, wohin es gehen soll? Seit Ende des 19. Jahrhunderts gibt es in der Migrationsforschung Überlegungen zu den Motiven über Ein- und Auswanderung. Bekannt ist dabei das Push-Pull-Paradigma. Ausgehend von diesem theoretischen Ansatz ist für einige hochrangige Politiker und Institutionen klar: Der Einsatz von Rettungsschiffen im Mittelmeer ist ein Pull-Faktor.

Die Alan Kurdi von der Organisation Sea-Eye und die Open Arms von Proactiva Open Arms sind aktuell vor der libyschen Küste unterwegs, die Ocean Viking von Ärzte ohne Grenzen und SOS Méditerranée ist auf dem Weg dorthin. Sie sind dieser Lesart zufolge ein Anreiz für Menschen, den Seeweg nach Europa zu wagen.

Salvini, Kurz, Frontex, BND

Die Begründung wirkt auf den ersten Blick plausibel: Wenn die Menschen wissen, dass sie auf hoher See gerettet und dann sicher nach Europa gebracht werden, gehen sie viel eher das Risiko ein, sich aufs Mittelmeer zu begeben. So argumentiert Italiens Innenminister Matteo Salvini, so sehen es auch Altkanzler Sebastian Kurz (ÖVP), die EU-Grenzschutzagentur Frontex oder Bruno Kahl, Präsident des deutschen Bundesnachrichtendienstes (BND).

Dezember 2018: Die NGO Proactiva Open Arms rettet mit der Open Arms Flüchtlinge und Migranten. Auch aktuell ist das Rettungsschiff wieder vor Libyens Küste unterwegs.
Foto: AP Photo / Olmo Calvo

Auf der anderen Seite stehen die NGOs selbst sowie zahlreiche Migrationsforscher. Sie alle gehen von Push-Faktoren aus, also dass die Menschen vor Hunger und Krieg aus ihren Herkunftsländern fliehen – und vor den unmenschlichen Bedingungen in den Internierungslagern in Libyen, von wo die meisten in See stechen. Rettungsschiffe, so die Argumentation, spielen keine Rolle. Diese Diskussion wird seit Jahren geführt – nur, was stimmt denn nun?

Erste Studien im Jahr 2017

Studien zu diesem Thema sind rar gesät. Zwei Forscher der Universität Oxford und der Scuola Normale Superiore, der Elitehochschule in Pisa, verglichen im Frühling 2017 anhand von Frontex-Datensätzen die Ankünfte zwischen 2013 und 2016. In diesem Zeitraum wurde zunächst das umfangreiche italienische Seenotrettungsprogramm Mare Nostrum und danach die abgespeckte Frontex-Operation Triton durchgeführt, die nach einem größeren Bootsunglück aufgestockt wurde. Das Ergebnis: Die meisten Ankünfte wurden in der ersten Triton-Phase registriert, als kaum Seenotrettungen stattfanden.

Im Sommer 2017 folgte eine Studie des Goldsmiths College der Universität von London. Die Forscher analysierten Statistiken, Berichte von unter anderem Frontex und von Journalisten, die sich mit libyschen Schleppern auseinandersetzten, sowie Interviews mit Offiziellen verschiedener Länder, Hilfsorganisationen und geretteten Flüchtlingen und Migranten.

Auf der Alan Kurdi, die vor Libyens Küste kürzlich 40 Menschen gerettet hat, ist auch die Österreicherin Sophie Weidenhiller im Einsatz.
Foto: Pavel D. Vitko

Das Fazit: Nicht Rettungsschiffe sind der Grund, nach Europa zu gelangen zu wollen, sondern politische und wirtschaftliche Probleme in den Heimatländern. Ein Beispiel: 2015 wurde bei den Ankünften von Nigerianern ein Anstieg von 166 Prozent registriert. In deren Heimat, so die Studie, die einen Frontex-Bericht zitiert, habe die Terrororganisation Boko Haram mehr als zwei Millionen Menschen in die Flucht geschlagen, was zum erwähnten Anstieg führte.

Zu kurzer Zeitraum geprüft

Beide Studien liefern wichtige Informationen über die Flüchtlingskrise im Mittelmeer, geben aber keine allgemeingültige Antwort auf die Frage nach dem Pull-Faktor. Sie hätten, monieren Experten, einen viel zu kurzen Zeitraum untersucht. Außerdem handelte sich dabei nicht um private Schiffe, sondern um staatliche Rettungsschiffe, die nicht so nah vor Libyens Küste patrouillierten.

Eine andere Studie der Global Initiative against Transnational Organized Crime erschien bereits im März 2017 und basiert auf Aussagen zahlreicher Schlepper. Auch dabei werden nicht die NGO-Schiffe als Pull-Faktor ausgemacht, sondern das ab 2013 entstandene politische Chaos in Libyen, wie Studienautor Mark Micallef damals dem STANDARD sagte: „Milizen haben angefangen, im Schleppergeschäft mitzumischen.“ Diese hätten Schlepper geschützt, die dann in Ruhe ihre Strukturen ausbauen konnten. Doch die Rettungsmaßnahmen, so der Bericht, hätten dazu geführt, dass Schlepper ihr Geschäft einfacher verrichten können. Ein indirekter Pull-Faktor also?

Die Ocean Viking von Ärzte ohne Grenzen und SOS Méditerranée befindet sich derzeit noch im Hafen von Marseille, soll sich aber bald in Richtung libyscher Küste aufmachen.
Foto: AFP/CLEMENT MAHOUDEAU

Geht es nach Matteo Villa, dann hat sich das nicht so auf die Ankünfte in Europa ausgewirkt, wie es Salvini und Co predigen. Der italienische Migrationsforscher hat die Zahlen des UN-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR) und der Internationalen Organisation für Migration (IOM) für das erste Halbjahr 2019 unter die Lupe genommen. Das Resultat: Waren NGO-Schiffe im Einsatz, legten pro Tag im Schnitt 32,8 Menschen von Libyen ab. Ohne Einsatz waren es 34,6. Auf Twitter ergänzte er Ende Juli: Zwischen 1. und 25. Juli legten ohne Präsenz von Rettungsschiffen im Schnitt 86 Personen täglich ab. An den anderen Tagen waren es lediglich 18.

Kooperation mit Libyens Küstenwache

Dass es trotzdem zu einem drastischen Rückgang an Ankünften in Italien kam, begründet Villa mit der Mitte 2017 beginnenden Kooperation mit libyschen Milizen. Diese werden seitdem bezahlt, um die Menschen nicht außer Landes zu lassen. Zahlen des UNHCR stützen seine These (siehe Grafik).

Die nackten Zahlen lassen also keinen Pull-Faktor durch NGO-Schiffe erkennen. Doch um die Situation wirklich umfassend einschätzen zu können, fordert die deutsche Politikwissenschafterin Petra Bendel neue, systematischere Studien. Zu berücksichtigen seien dabei Faktoren wie der Rückzug staatlicher Rettungsmissionen, die Ausbildung der libyschen Küstenwache sowie die Verweigerung des Anlandens von NGO-Schiffen – und wie sich das auf die Umleitung von Flucht- und Migrationsrouten auswirkt.

Methodenmix gefordert

Die Vorsitzende des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration schlägt einen Methodenmix vor: einerseits die Analyse harter Daten und Schätzungen von UNHRC und IOM, andererseits regelmäßige Befragungen von Betroffenen und Experten. Dann wisse man wirklich Bescheid.

Übrigens: DER STANDARD hat bei der ÖVP, beim italienischen Innenministerium, bei Frontex und dem BND am Sonntag per Mail nachgefragt, auf welchen Informationen deren Aussagen zum angeblichen Pull-Faktor NGO-Schiffe beruhen. Antworten bis zum Redaktionsschluss am Mittwoch: Fehlanzeige. (Kim Son Hoang, 1.8.2019)

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