Brandstätter im Gespräch mit Hamann: „Alles wurde getan, um einen fertigzumachen“
Sibylle Hamann und Helmut Brandstätter wollen ins Parlament: der bürgerliche Ex-Chefredakteur für die Neos, die feministische Ex-Kolumnistin für die Grünen. Die Abneigung gegen Türkis-Blau eint sie.
INTERVIEW Marie-Theres Egyed, Nina Weißensteiner
31. August 2019
Man merkt, dass die beiden bis vor kurzem noch Journalisten waren: Bei der Frage nach dem jüngsten ÖVP-Vorstoß zur Ausweitung des Kopftuchverbots auch für Unterstufen schalten Helmut Brandstätter, nun bei den Neos, und Sibylle Hamann, jetzt bei den Grünen aktiv, auf stur – und sind sich einig, dass sie damit sicher keine neuen Schlagzeilen produzieren wollen. Lieber debattieren sie angeregt darüber, was in den Schulen dringend umgekrempelt werden müsste.
STANDARD: Auf der Rangliste der beliebtesten Berufe rangieren die Politiker weit abgeschlagen – noch hinter den Journalisten. Warum tun Sie sich das an?
Hamann: Viel weiter geht’s nicht mehr runter. Aber nur zu beobachten und zu kommentieren war mir nicht mehr genug. Während Türkis-Blau habe ich eine lähmende Verzweiflung verspürt – wegen der rücksichtslosen Berserker im Innenministerium, der Rechtsradikalen nah an der Macht. Siebzehn Monate lang haben wir nun autoritäres Regieren und Verhetzung erlebt. Mir haben die Grünen im Parlament gefehlt, ich hatte einen richtigen Phantomschmerz.
Brandstätter: Journalist zu sein ist für mich immer noch der schönste Beruf. Doch ich habe mich gefragt, ob ich das, was auf Österreich zukommt, besser als Publizist oder als Politiker bekämpfen kann. Fest steht: Auch bei den Medien gibt es viele Abhängigkeiten von der Politik. Dort herrscht eine Riesenangst. Überhaupt gibt es kaum ein Land, in dem es so viel Angst gibt wie in Österreich.
STANDARD: In Ihrem Buch schildern Sie, wie Türkis-Blau die Fusion der Krankenkassen mit einer Debatte über Spekulationsgeschäfte und Dienstwagen eröffnete – was sich großteils als Desinformation herausgestellt hat …
Brandstätter: Nichts davon hat gestimmt! Aber sie haben verlangt, dass wir es schreiben. Wenn wir das nicht getan haben, ist wieder Druck gemacht worden. War man Freund, bekam man Informationen, war man Feind, wurde alles getan, um einen fertigzumachen und wegzubekommen. Beides habe ich mit der FPÖ erlebt.
STANDARD: Sie warnen beide vor Türkis-Blau II. Aber haben nicht auch die Neos mit „zu fetten Apparaten“ und „dem Abdrehen der GIS“ Stimmung gegen die Sozialversicherungsträger und den ORF gemacht?
Brandstätter: Im Programm habe ich nichts gefunden, was mich abgestoßen hätte – auch wenn ich nicht „GIS abdrehen“ gesagt hätte. Wir wollen einen unabhängigen ORF, aber der wurde von der Regierung massiv beeinflusst – und auch Mitglieder der ORF-Führung haben sich bei ÖVP und FPÖ angebiedert, weil sie etwas werden wollen.
STANDARD: Kommen wir zu einer möglichen Dreierkoalition nach der Wahl: Können Sie sich eine Zusammenarbeit vorstellen?
Hamann: In einigen Bereichen finden wir mit den Neos bestimmt Gemeinsamkeiten: bei Menschenrechten, im gesellschaftspolitischen Bereich. Wo wir uns aber sicher nicht treffen, ist bei der Wirtschaftspolitik, etwa wenn es um ihr CO2-Steuermodell geht. Das bedeutet eine Steuersenkung, die Unternehmen entlastet und die dicke SUVs billiger macht. Dabei hat sich Österreich dazu verpflichtet, innerhalb von zehn Jahren den CO2-Ausstoß um die Hälfte zu senken.
Brandstätter: Sonst drohen Strafzahlungen in Milliardenhöhe.
Hamann: Aber die Regierung hat nichts gemacht! Wir sind die Einzigen, die ihr Versprechen mit Leben erfüllen wollen.
Brandstätter: Da habe ich von den Grünen noch nichts gesehen. Die Neos haben ein Konzept, das man sofort umsetzen könnte.
Hamann: Wir wollen klimaschonendes Verhalten belohnen, Öffis ausbauen und fossile Treibstoffe teurer machen.
Brandstätter: Das reicht aber noch lange nicht.
Hamann: Deshalb treten wir auch für eine grundsätzliche Neuordnung der Art, wie wir leben und uns fortbewegen, ein.
Brandstätter: Das geht aber nicht innerhalb eines Jahres.
Hamann: Also ein Bus in ein Dorf fährt schnell einmal.
STANDARD: Und wie stehen Sie zur Koalitionsfrage?
Brandstätter: Irgendjemand wird das Land regieren müssen. Ich will die ÖVP nicht ausschließen, damit der heilige Sebastian Kurz nicht sagen kann, er hätte gerne einen anderen Regierungspartner als die FPÖ gehabt, aber die anderen wollten ja nicht.
STANDARD: Welche Beschlüsse mit Türkis-Blau nehmen Sie den Neos übel?
Hamann: Beim Zwölf-Stunden-Arbeitstag wären wir sicher nicht mitgegangen. Die Grünen wollen Arbeit reduzieren und Überstunden abbauen. Wir brauchen eine bessere und gerechtere Aufteilung von Lohn- und Familienarbeit, gerade bei Geringverdienern.
Brandstätter: Wir steuern auf eine Rezession zu. Mit grüner Ideologie kommt man nicht weiter. Die Praxis ist, dass viele Menschen sehr wohl flexibel arbeiten wollen. Ich hätte beim Zwölfstundentag bedenkenlos mitgestimmt.
Hamann: Die Ideologie sehe ich bei Ihnen woanders: Die Neos zeigen eine große Abneigung gegen Investitionen im öffentlichen Bereich, siehe ihre Einigung mit Türkis-Blau zur Schuldenbremse. Doch ich bin mehr denn je eine Freundin von Investitionen, in Infrastruktur oder Schulen.
STANDARD: Auch beim Thema Freihandel sind Sie einander nicht grün.
Hamann: Bei Ceta, dem Abkommen der EU mit Kanada, hätten wir sicher nicht mitgestimmt. Auch jetzt bei Mercosur, dem EU-Abkommen unter anderem mit Brasilien:Der Regenwald brennt, aber trotzdem gibt es das Bestreben, südamerikanisches Rindfleisch zu importieren, damit wir im Austausch Autos exportieren können. Das ist doch ein Konzept aus den Siebzigerjahren. So werden wir unseren Planeten nicht retten!
Brandstätter: Natürlich bin ich für Freihandel – denn nur so können wir Brasilien auch ökonomisch unter Druck setzen, Klimaschutzmaßnahmen umzusetzen.
Hamann: Dieses Abkommen muss definitiv neu verhandelt werden.
Brandstätter: Wenn wir nicht unterschreiben, rettet man keinen einzigen Baum im Amazonas-Urwald. Einen Jair Bolsonaro (Brasiliens Präsident, Anm.) kann man nicht bei der Ehre nehmen.
STANDARD: Für Neos und Grüne ist Bildung zentral: Sie fordern den Ausbau ganztägiger Schulen. Sind Sie für die gemeinsame Schule?
Brandstätter: Bis zur mittleren Reife ja. Denn fest steht, dass bis zu 25 Prozent der Fünfzehnjährigen von der Schule abgehen und weder sinnerfassend lesen noch schreiben können. Uns ist es wichtig, Kinder nach Begabung individuell zu fördern, auch die Hochbegabten.
Hamann: Von den Neos höre ich das zum ersten Mal – und bin positiv überrascht. Denn wir setzen uns seit Jahren für die gemeinsame Schule ein, in der Kinder mit besonderen Bedürfnissen genauso Platz haben wie die mit besonderer Begabung.
Brandstätter: Dass bei uns Bildung über allem steht, ist kein Geheimnis. Bei vielen Problemen können Lehrer gar nicht helfen. Deswegen brauchte es nicht nur mehr Pädagogen, sondern auch Sozialarbeiter – etwa indem man den Eltern von Migrantenkindern sagt: „Nein, das Mädchen soll jetzt nicht heiraten. Nein, der Bub soll nicht auf den Bau – die sollen jetzt noch etwas lernen.“ Auf dem Land hat das früher der Pfarrer gemacht.
STANDARD: Die ÖVP setzt wieder auf eine Ausweitung des Kopftuchverbots …
Hamann: Über das Kopftuch rede ich hier nicht. Dieses Spiel von Kurz spiele ich nicht mit!
Brandstätter: Genau, das ist alles Show. Und über Polizeipferde wollen wir auch nicht reden!
Hamann: Natürlich erledigen sich in einer gemeinsamen Schule nicht alle Integrationsprobleme von selbst. Fakt ist, dass wir derzeit zu viel Energie dafür aufwenden, Kinder mit sechs, dann zehn Jahren auseinanderzusortieren. Das sorgt für eine Abschottung der Milieus, denn in die Halbtagsschulen gehen meist Kinder aus Familien mit sozialen Problemen, in die Ganztagsschulen der Nachwuchs der Mittelschicht. Die öffentliche Schule für alle, von denen die Grünen träumen, ist die Schule gleich ums Eck. Dort soll es auch Sport- und Kulturangebote für alle Schüler geben – und sie soll die Kinder nicht zu Mittag mit leerem Magen und einem Haufen an Hausaufgaben ausspucken.
Brandstätter: Begabung ist keine Frage der Herkunft. Wenn ein Kind vif ist, muss es entsprechend gefördert werden.
STANDARD: Einige Journalisten, die in die Politik eingestiegen sind, endeten für ihre Parteien als Unguided Missiles: Problem bewusst?
Brandstetter: Also dass wir jetzt mit einem Hans-Peter Martin oder einer Monika Lindner verglichen werden, weisen wir strikt zurück! Im Ernst: Mir ist wichtig, den Ruf des Parlaments zu verbessern. Anders als in Ungarn und in Polen dürfen wir es nicht zulassen, dass die Institutionen zerstört werden.
Hamann: Und in eine gefährliche Richtung ging es schon, als Kurz plakatieren ließ: „Rot-Blau hat bestimmt. Das Volk wird entscheiden.“ Das abschreckendste Beispiel unter den Quereinsteigern waren jene Abgeordneten, die Kurz geholt hat und denen dann ein Schweigegebot erteilt wurde.
Brandstätter: Wenn man um ein Interview angefragt hat, hieß es: „Sie bekommen einen Rückruf aus dem Sekretariat von ÖVP-Klubchef August Wöginger!“ Die durften nicht reden. (Marie-Theres Egyed, Nina Weißensteiner, 31.8.2019)
HELMUT BRANDSTÄTTER (64), Jurist, war Herausgeber des „Kurier“, bis 2018 auch Chefredakteur, ehe er zu den Neos wechselte.
SIBYLLE HAMANN (53), Politikwissenschafterin, schrieb zuletzt für „Falter“ und „Presse“, bevor sie bei den Grünen anheuerte.