Dies & Das: Demokratie, Moral – und politische Grenzüberschreitungen

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Demokratie, Moral – und politische Grenzüberschreitungen

Warum unnachgiebige Korruptionskritik auch Nachteile hat und es ein realistisches Bild von Politik braucht.

KOMMENTAR DER ANDEREN Jens Ivo Engels, 20. November 2019

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Im Gastkommentar wirft der Historiker Jens Ivo Engels einen Blick auf die Geschichte der Korruption – und mögliche Lehren daraus.

Es ist eine vertrackte Sache mit der Korruption und mit dem Postengeschacher in der Politik. In Sonntagsreden weisen alle solches Verhalten weit von sich. In der Praxis sind dann doch sehr viele beteiligt. Besonders auffällig: Auch jene Politiker sind dabei, die angeblich antraten, das System der „Altparteien“ abzulösen. Ihre Anhänger scheint das kaum zu stören: In Österreich hat die FPÖ nach der Ibiza-Affäre zwar Stimmenanteile verloren, aber für viele nicht ihre Glaubwürdigkeit. Auch Donald Trump brüstet sich unter dem Jubel seiner Anhänger mit der Ukraine-Affäre.

Die Zeit der Französischen Revolution prägt unser politisches Denken – und unser heutiges Verständnis von Korruption.
Foto: APA/AFP/PATRICK KOVARIK

Unser heutiges Verständnis von Korruption geht auf die Zeit der Aufklärung und der Französischen Revolution zurück. Damals hat man begonnen, eine strikte Grenze zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen zu ziehen. Seitdem ist Korruption der Missbrauch öffentlich anvertrauter Macht zum privaten Nutzen. Entscheidend ist die Grenzverletzung: Man nutzt, was allen gehört, zum eigenen Vorteil.

(Un)bestimmte Grenze

Noch in der Vormoderne konnte man solche Übertretungen rechtfertigen, weil die Grenze sehr unbestimmt war. Damals konnten Würdenträger und Steuerpächter in ihren Ämtern reich werden – heute sollte ein Bundesminister das tunlichst vermeiden.

Allerdings hat die unnachgiebige Korruptionskritik auch Nachteile. Denn die Grenze zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen ist häufig schwer zu ziehen. Das zeigt ein einfaches Beispiel: Wird ein Politiker zum Essen eingeladen, ist oft nicht klar, ob er als Amtsträger oder Privatperson begünstigt ist. Über solche Fragen stolperten der deutsche Bundespräsident Christian Wulff 2012 und in diesem Jahr der französische Umweltminister François de Rugy.

Gefährliche Idee

Noch heikler ist ein anderes Problem. Wenn ein Politiker nach Macht strebt, wird ihm dies oft als persönlicher Vorteil ausgelegt. Als Helmut Kohl 1999 zugab, dass er schwarze Kassen anlegte, warfen ihm viele Kommentatoren Korruption vor. Keine Frage, Kohl hatte das Gesetz übertreten. Aber die Gelder nutzte er nie für private Zwecke, sondern gab sie an Landesverbände seiner Partei weiter. Persönlicher Vorteil und Korruption lagen in den Augen der Kritiker darin, dass er seine eigene Macht mit dem Geld vermehrte.

Das Problem: Wenn wir Machtstreben korrupt nennen, ist schnell jedes politische System korrupt, das auf Wettbewerb beruht. Unkorrupt wäre dann nur eine Diktatur – eine absurde Vorstellung. Aber nicht so absurd, dass dies nicht eine gefährliche Idee wäre. In der Zwischenkriegszeit machten in Europa viele autoritäre Gruppen Stimmung gegen die Demokratie. Sie hatten großen Erfolg, die Korruptionsskandale jagten einander. Benito Mussolini, Marschall Pétain, Francisco Franco und nicht zuletzt Adolf Hitler empfahlen sich damals als Gegenmittel zum korrupten Parlamentarismus.

Moralische Unnachgiebigkeit

Später gab es weniger Korruptionskritik. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sank die Zahl der Korruptionsskandale. Ganz sicher nicht weil Politiker ehrlicher wurden, sondern weil Kritiker abwogen, ob ein Skandal reinigende Wirkung hatte oder ob er dem Ruf der Demokratie Schaden zufügen könnte.

Solche Vorsicht ging mit der Erinnerung an die Zwischenkriegszeit allmählich verloren. Seit dem Untergang des Ostblocks erlebte Korruptionskritik weltweit einen großen Aufschwung. Im Bemühen, den Staat und seine Vertreter noch vom letzten Anschein der Korruption zu reinigen, nahm die moralische Unnachgiebigkeit zu. Vor allem seit der Jahrtausendwende wurden immer kleinere Verfehlungen zu immer größeren Affären gemacht. Der Effekt glich den Debatten in der Zwischenkriegszeit: Mit der Zeit setzte sich der Eindruck fest, jede Politik sei korrupt. So richteten sich die Selbstreinigungskräfte der Demokratie gegen sie selbst, wie eine Autoimmunkrankheit.

Kleiner Sünder

Die heutigen Populisten bedienen sich nach Kräften an diesen Debatten. „Schaut her, wie korrupt das System ist“ kann man so oder so ähnlich von Silvio Berlusconi, Donald Trump, Boris Johnson und Heinz-Christian Strache über die Affären der anderen hören. Nur haben sie zu keinem Zeitpunkt behauptet, es besser zu machen. Während sich die liberale Öffentlichkeit auf den Weg der moralischen Optimierung machte, boten die Populisten eine Alternative.

Berlusconi war nicht trotz, sondern wegen seiner Steueraffären und Bunga-Bunga-Skandale populär. Er setzte der in ihrer Übertreibung unglaubwürdigen Moralerzählung seine Authentizität als kleiner Sünder entgegen. Daher hilft die Skandalisierung von Korruption in ihren Reihen kaum gegen Populisten.

Klare Kante – und Gelassenheit

Aber vielleicht könnte sich die liberale Demokratie von ihren Selbstansprüchen entlasten. Wäre es schlimm zuzugeben, dass Politik vom Willen Einzelner nach Macht lebt? Könnte man es ertragen, dass politisches Handeln oft auch auf Geschäften auf Gegenseitigkeit beruht? Nicht das Streben nach moralischer Reinheit wäre das Ziel, sondern ein realistisches Bild von Politik. Dies würde es aber auch erlauben, die Grenzen des Erlaubten neu zu ziehen. Mit klarer Kante gegen gekaufte politische Entscheidungen, aber größerer Gelassenheit im Angesicht von Essenseinladungen und Hinterzimmernetzwerken. (Jens Ivo Engels, 20.11.2019)

Jens Ivo Engels ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Technischen Universität Darmstadt. Er forscht zur Geschichte von Korruption, Patronage und Transparenz wie auch zur Geschichte technischer Infrastrukturen und zur Umweltgeschichte.

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