Dies & Das: Millionen leben in Armut, und wir kaufen noch einen Fernseher. Ist das vertretbar?

In der Serie alles gut? denkt STANDARD-Redakteur Andreas Sator über eine bessere Welt nach – und darüber, welchen Beitrag er leisten kann. 
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Er spendet seit 20 Jahren bis zur Hälfte seines Einkommens und findet, wir sollten das alle tun: Der australische Philosoph Peter Singer meint: Geld, das man nicht unbedingt braucht, sollte man an Arme geben. Sein Buch „The Life You Can Save“ (Deutscher Titel: „Leben retten: Wie sich Armut abschaffen lässt – und warum wir es nicht tun“) ist vor zehn Jahren erschienen. Nun wurde es neu aufgelegt. Im STANDARD-Interview erklärt Singer, der die Tierrechtsbewegung und den effektiven Altruismus angestoßen hat, seine Vision eines moralischen Lebens.

Wie viel spenden Sie, Herr Singer?
Foto: THOMSON REUTERS FOUNDATION/Tristan Martin

STANDARD: Sie sagen, die meisten Leute leben unmoralisch. Warum?

Singer: Der Lebensstandard im Westen ist sehr gestiegen. Wir kaufen viele Dinge, die wir in Wahrheit nicht brauchen. Gleichzeitig gibt es 700 oder 800 Millionen Menschen, die in extremer Armut leben. Um ein ethisches Leben zu führen, genügt es nicht, dass ich niemanden verletze oder betrüge. Wir müssen etwas tun, um jenen zu helfen, die in schwierigeren Bedingungen leben.

STANDARD: Was?

Singer: Das kommt dazu. Wir haben heute die Möglichkeiten, das zu tun. In der Vergangenheit wussten wir relativ wenig darüber, was an weit entfernten Orten passiert. Jetzt gibt es das Internet, und wir haben viele Informationen darüber, welche Organisationen wirklich effektiv helfen. Unsere Moralvorstellungen haben sich in einer Zeit entwickelt, in der es all das noch nicht gab.

STANDARD: Ein Beispiel dafür, bitte.

Singer: Wenn ein Mädchen in einem Teich ertrinkt, würden wir es als falsch einschätzen, einfach weiterzugehen. Wir müssen helfen! Auch wenn unsere Kleidung schmutzig wird. Auf der Welt sterben Kinder, die nicht sterben müssten, wenn wir helfen würden. Etwa wenn wir Geld schicken würden, damit Malaria-Bettnetze ausgeteilt oder das Trinkwasser aufbereitet wird, damit Kinder keinen Durchfall bekommen und sterben. Psychologisch ist das anders als das ertrinkende Kind vor unseren Augen. Aber mein Argument ist, dass es, ethisch betrachtet, dasselbe ist.

STANDARD: Wenn man Ihre Moralvorstellungen akzeptiert, welche Schlüsse zieht man daraus?

Singer: Wenn du alles tun möchtest, was du kannst, dann wäre es das Richtige, gar kein Geld mehr für Luxusdinge auszugeben. Aber das ist eine zu radikale Forderung, um damit Leute zu überzeugen. Wenn man fünf Prozent des Einkommens spendet, dann ist das für die meisten Menschen kein großer Einschnitt. Das Geld soll nicht an irgendwelche NGOs gehen, sondern an jene mit sehr wirksamen Programmen. Es gibt viel Forschung dazu, die man im Internet findet, auf givewell.org und thelifeyoucansave.org. Würde das jeder tun, könnten wir die extreme Armut auf der Welt radikal verringern oder ganz eliminieren.

STANDARD: Wie machen Sie das?

Singer: Meine Frau und ich schauen am Ende des Jahres, wie es uns finanziell geht. Dann entscheiden wir, wie viel wir spenden. Wir haben das gerade gemacht. In den vergangenen 20 Jahren war das immer mindestens ein Drittel bis die Hälfte unseres Einkommens. Dann schauen wir uns die neueste Forschung dazu an, welche NGOs effektiv sind. Wir spenden an Give Directly, an die Against Malaria Foundation und an Oxfam.

STANDARD: Für viele gehören der teure Urlaub, das schöne Auto oder das gute Restaurant zum Leben und zum sozialen Umfeld dazu. Wissen die Leute nicht selbst am besten, was für sie das Richtige ist?

Singer: Das glaube ich nicht. Es gibt eine riesige Werbeindustrie, die uns davon überzeugt, Dinge zu kaufen, die wir nicht brauchen. Es gibt psychologische Forschung, die zeigt, dass uns das nicht langfristig glücklich macht. Wenn wir Gutes tun und anderen helfen, dann erhöht das hingegen sehr wohl die Zufriedenheit. Da geht es auch darum, sich nicht von seinem Umfeld beeinflussen zu lassen. Oder vielleicht sogar eines zu finden, das dieselben Werte hat. Darum ist die Bewegung des effektiven Altruismus so wichtig. Überall auf der Welt gibt es Gruppen, die sich austauschen und das probieren, wovon ich hier rede. Das befreit aus der Konsumfalle.

STANDARD: Es gibt staatliche Entwicklungspolitik. Warum ist es die Aufgabe des Einzelnen?

Singer: Idealerweise würde man das einfach mit einer Steuer lösen, ja. Das ist aber nicht so. Die Staaten geben zu wenig Geld. Österreich gibt nicht einmal die Hälfte der versprochenen Entwicklungshilfe. Das Geld fließt auch nicht immer an die Ärmsten. Wir können politisch aktiv sein. Aber bis sich das ändert, haben wir auch als Individuen Verantwortung.

STANDARD: Armut ist ein politisches, ein gesellschaftliches Problem, kein technisches. Wir können impfen, entwurmen, Netze verteilen. Aber der wichtigste Grund für Armut ist doch lokal, institutionell. Da hilft Geld von außen begrenzt?

Singer: Es stimmt, dass institutionelle Faktoren zu Armut beitragen. Die sind aber sehr schwer zu ändern. Ich weiß nicht, was wir tun könnten, um die Situation im Kongo zu verbessern. Aber in der Zwischenzeit verteilt die Against Malaria Foundation dort Bettnetze, damit die Menschen keine Malaria bekommen. Das mag nicht heißen, dass die Armut eliminiert wird, solange es diese Faktoren gibt. Da haben Sie wohl recht. Es ist sehr schade, dass wir nicht mehr tun können. Das ist aber kein Grund zu sagen, dass wir den Menschen überhaupt nicht helfen können.

STANDARD: Hilfe von außen kann auch nach hinten losgehen. Eine Kritik ist, dass NGOs langfristig womöglich die lokale Gesundheitsversorgung untergraben, weil keine eigenen Strukturen entstehen.

Singer: Ich kenne diese Theorien, aber ich sehe die Evidenz nicht. Es gibt eine Studie, die sich angeschaut hat, was passiert, wenn die Entwicklungshilfe reduziert wird. Den Ländern geht es danach schlechter, nicht besser. Solange es nicht große Evidenz gibt, dass das nicht passiert, sollte man weiter helfen. Das wäre sonst ein Spiel mit dem Leben von Menschen.

STANDARD: Der effektive Altruismus will Wirkung genau in Zahlen gießen. Das geht bei einer Entwurmungspille. Aber was, wenn eine NGO subtil über Jahrzehnte auf die Politik einwirkt wie Amnesty?

Singer: Das stimmt. Man kann NGOs einfach evaluieren, die nur eine Sache machen, etwa Bettnetze austeilen. Bei Oxfam ist das schwieriger. Sie haben etwa NGOs in Ghana geholfen, die Regierung dazu zu bringen, das Geld von neuen Öl- und Gasfeldern an arme Bauern auszuzahlen. Das hat gewirkt und zig Millionen für diese Leute gebracht. Die Kampagne hat vielleicht 200.000 Dollar gekostet. Das kann man aber nicht bei jeder Kampagne so genau messen. Aber wenn man solche großen Brocken schafft, dann ist das auch ohne genaue Wirkungsmessung unterstützenswert.

STANDARD: Sie reden viel von Spenden, wenig von Politik. Dabei hat sie große Hebel in der Klima-, Migrations- und Handelspolitik.

Singer: Viele Menschen fühlen sich da machtlos. Ich plädiere nicht dafür, nicht politisch aktiv zu sein. Der Klimawandel hat große Wirkungen auf die Ärmsten. Wir sollten alle politisch aktiv sein. Meine Heimat Australien macht schreckliche Klimapolitik. Ich versuche das zu beeinflussen. Aber bei meinen Spenden bin ich mir sicherer, dass das etwas bringt.

STANDARD: Wenn man so viel wie Sie spenden will, wie fängt man an?

Singer: Für manche ist es schwer zu glauben, dass mit den Spenden etwas Sinnvolles passiert. Es gibt aber seit langem Leute, die sich damit beschäftigen, wie wir gut helfen können. Wenn es schwerfällt, kann man langsam anfangen. Wie beim Laufen. Manche geben sich Mühe, dass sie ihre beste Zeit übertrumpfen. So kann man das auch hier machen: Ein bisschen etwas spenden. Geht nächstes Jahr mehr? Die meisten Leute, die es probieren, sind danach ziemlich glücklich, dass sie anderen helfen.

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