KOMMENTAR DER ANDEREN Anja Oberkofler, 12. Februar 2020
PostingsOperation Sophia: Besser etwas tun, als gar nichts zu tun
Im Gastkommentar antwortet Anja Oberkofler, Juristin und Vizepräsidentin des Österreichischen Roten Kreuzes, auf Wolfgang Pusztai. Der Vorsitzende des Beirats des National Council on U.S.-Libya Relations sieht die Operation Sophia kritisch. Oberkofler hingegen sagt: Die Wiederaufnahme der europäischen Marinemission bedeute, Verantwortung zu übernehmen.
Vor beinahe 70 Jahren wurde die UN-Flüchtlingskonvention verabschiedet und stellt bis heute das wichtigste internationale Dokument für den Flüchtlingsschutz dar. Vor dem Hintergrund der Gräuel des Nationalsozialismus und den Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs, der Millionen Menschen zur Flucht zwang, legte die Konvention klar fest, wer ein Flüchtling ist, welchen rechtlichen Schutz, welche Hilfe und welche sozialen Rechte sie oder er von den Unterzeichnerstaaten erhalten sollte. War die Genfer Flüchtlingskonvention zunächst darauf beschränkt, hauptsächlich europäische Flüchtlinge direkt nach dem Zweiten Weltkrieg zu schützen, so wurde ihr Wirkungsbereich durch das Protokoll von 1967 zeitlich und geografisch erweitert, um den geänderten Bedingungen der Flüchtlinge weltweit gerecht werden zu können.
Wenn Wolfgang Pusztai als Vorsitzender des Beirats des National Council on U.S.-Libya Relations und Direktor von Perim Associate (siehe „Gut gemeint ist nicht immer gut„) daher meint, es wäre „sinnvoller die Lage der Migranten in den libyschen Lagern spürbar zu verbessern, eine freiwillige Rückkehr in die Heimatländer über einen bestimmten Zeitraum mit entsprechenden Anreizen zu bewerben und diese zu organisieren“, so ist dies aus zweierlei Gründen verfehlt: Im Unterschied zu Österreich ist Libyen der Genfer Flüchtlingskonvention nicht beigetreten und somit der Schutz von Flüchtlingen nicht sichergestellt. Flüchtlinge werden in Libyen in geschlossenen Flüchtlingslagern untergebracht und dort Bedrohungen ihrer grundlegenden Menschenrechte ausgesetzt. Sie haben keinen Zugang zu wichtigen, in der Genfer Flüchtlingskonvention verbürgten Rechten – wie der Zugang zu medizinischer Versorgung, Bildung und Sozialleistungen. So urteilte der EGMR bereits 2012, dass Schutzsuchende in Libyen willkürlich inhaftiert, gefoltert und unmenschlichen Unterbringungsbedingungen, mangelnder Hygiene und unzureichender medizinischer Versorgung ausgesetzt gewesen seien und systematische Menschenrechtsverletzungen begangen werden. An dieser Situation hat sich bis heute nichts geändert.
Erst vor wenigen Tagen warnte der Auswärtige Dienst der EU vor einer möglichen humanitären Krise in Libyen, die durch den aufflammenden Krieg in dem instabilen Küstenstaat begünstigt wird. Diese Sorge scheint berechtigt, zumal das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR seine Mitarbeiter von einem auch von der EU finanzierten Auffanglager abzieht.
Aber nicht nur in diesem Punkt verkennt Pusztai die Lage. Viele Flüchtlinge, die die libysche Küstenwache auf dem Meer aufnimmt und in die libyschen Lager bringt, kommen aus Ländern wie Eritrea. Dort ist die Lage für viele Menschen derzeit so bedrohlich, dass sie in der EU und in Österreich – sofern sie es trotz aller Abschottungsmaßnahmen hierherschaffen – von den zuständigen Behörden zu über 80 Prozent internationalen Schutz nach der Genfer Flüchtlingskonvention erhalten. Ein sehr großer Anteil dieser Menschen ist aufgrund von Verfolgung, Gewalt und schweren Menschenrechtsverletzungen auf der Flucht. Dennoch werden sie oft zu Unrecht pauschal als „illegale Migranten“ bezeichnet und mit allen Mitteln bekämpft.
Kein Meer zu tief
Wenn im Gastkommentar einen Konnex zwischen der Anzahl der Ertrunkenen und der Anwesenheit von Rettungsschiffen im Mittelmeer hergestellt wird, so ist dies nicht richtig. Die aktuelle Studie des renommierten Robert Schuman Centre for Advanced Studies des European University Institute in Florenz belegt vielmehr, dass kein zahlenmäßiger Zusammenhang zwischen der Seerettung durch NGOs und der Anzahl der Geflüchteten, die Libyen verlassen, nachweisbar ist. Vielmehr lassen sich Zusammenhänge zwischen Wetterbedingungen und der politischen Instabilität in Libyen und der jeweiligen Anzahl an Geflüchteten, die das Mittelmeer überqueren, erkennen. Wenn Menschen auf der Flucht vor Verfolgung aus ihren Heimatländern sind, dann ist kein Meer zu tief, kein Berg zu hoch, keine Wüste zu staubig, um das eigene Leben zu retten. Das bewusste Ertrinkenlassen von Menschen, denen man leicht helfen könnte, rettet keine Leben – ganz im Gegenteil. Und es entwertet und zerstört gleichzeitig einen der wichtigsten humanitären Grundwerte: den absoluten Wert des menschlichen Lebens und seines Schutzes. Die Wiederaufnahme der Operation Sophia bedeutet, dass die europäischen Staaten wieder Verantwortung übernehmen. Es sind nämlich in erster Linie diese Staaten, die durch die Europäischen Menschenrechtskonvention, die Genfer Flüchtlingskonvention und die internationalen Übereinkommen über Suche und Rettung in Luft- und Seenotfällen, verpflichtet sind, für den Schutz und die Rettung der über das Mittelmeer flüchtenden Menschen Sorge zu tragen.
Mit dem Wandel der globalen Migrationsbewegungen und zunehmenden Flüchtlingszahlen wird die Relevanz der Konvention oft infrage gestellt. Das Rote Kreuz wie auch das UNHCR sind aber davon überzeugt, dass die Konvention nach wie vor die beste Grundlage für den Flüchtlingsschutz darstellt, nicht zuletzt aufgrund der (noch) hohen Akzeptanz durch die vielen Unterzeichnerstaaten.
Wahre Schande
Bisher hat die Konvention zum Schutz von dutzenden Millionen Menschen in den verschiedensten Situationen beigetragen. Solange Menschen verfolgt werden, kann auf die Flüchtlingskonvention nicht verzichtet werden. Aber ein völkerrechtlicher Vertrag ist dann das Papier nicht wert, wenn sich seine Vertragsstaaten aus ihren Verpflichtungen zu entziehen trachten und mit fragwürdigen Argumentationen das Ertrinken von Menschen zu rechtfertigen versuchen. Das ist die wahre Schande der Menschheit in unserer Zeit! (Anja Oberkofler, 12.2.2020)
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