Dies & Das: Virologin Karin Mölling: «Wir wissen überhaupt nicht, ob es bei diesem Coronavirus eine zweite Episode geben wird, wie das bei der Influenza der Fall war»

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Interview
Anna Schneider
Berlin 19.04.2020


Virologin Karin Mölling: «Wir wissen überhaupt nicht, ob es bei diesem Coronavirus eine zweite Episode geben wird, wie das bei der Influenza der Fall war»

Frau Mölling, wie erleben Sie als Expertin für dieses Thema die Quarantäne?

Mir geht es gut. Ich schreibe ununterbrochen, weil ich momentan an meinem nächsten Buch arbeite. Es beschäftigt sich mit multiresistenten Keimen und damit, was Viren dagegen tun können. Bald bin ich fertig, die Quarantäne dauert ja schon lange.

Die Quarantäne macht Ihnen also nichts aus?

Mein Leben war auch davor schon sehr von Home-Office geprägt. Natürlich kann ich gerade – wie jeder – nicht verreisen, dabei müsste ich längst einmal wieder nach Zürich. Also ja, natürlich ist es auch für mich eine Einschränkung, aber es ist kein Problem. Ich bekomme viele Anrufe, auch von erkrankten Personen.

Wie wirkt sich die Situation auf Ihre sozialen Kontakte aus – geben Sie noch jemandem die Hand?

Die Hand gebe ich seit 20 Jahren nicht mehr, dafür bin ich bereits bekannt. Als ich noch Professorin an der Universität Zürich war, machte ich den Vorschlag, das Händeschütteln in der Klinik unbedingt abzuschaffen. Da wurde mir gesagt, das würde der gebotenen Patientennähe nicht genügen. Mein Vorschlag wurde also abgelehnt. Das überraschte mich, denn gerade in der Klinik sollte das Händeschütteln verboten sein.

Spätestens jetzt nimmt Ihnen das niemand mehr krumm.

Ich begründete meine Weigerung immer nett, daher nahm es mir auch niemand übel. Schliesslich bin ich vorbelastet durch die Forschung an multiresistenten Keimen – die können natürlich im Krankenhaus übertragen werden. Daher bin ich der Meinung, dass gerade dort das Händeschütteln generell verboten sein sollte.

«Viren können also krank machen, aber daran trägt der Mensch sehr oft eine grosse Portion Schuld.»

Karin Mölling
PD

Im Allgemeinen werden Viren als Krankmacher definiert und ihr Verhalten mit Kriegsvokabular beschrieben. Sie halten in Ihrem Buch «Supermacht des Lebens – Reisen in die erstaunliche Welt der Viren», das 2014 erschienen ist, dagegen. Weshalb?

Viren gehören zu unserem Ökosystem, zu unserem Leben, zu unserer Umwelt, zu unserer Verdauung. Rund 50 Prozent des menschlichen Erbguts stammt von Viren! Sie sind allgegenwärtig und wahnsinnig viele – es gibt 10 hoch 33 Viruspartikel auf diesem Planeten. Viren stehen ganz am Anfang der Evolution, sie sind die Treiber der Evolution, nicht primär Krankmacher. Sie führen nur dann zu Krankheiten, wenn sich in der Umwelt etwas verändert und die Viren dadurch die Chance bekommen, diese Veränderung zu nutzen. Sie können also krank machen, aber daran trägt der Mensch sehr oft eine grosse Portion Schuld.

Das müssen Sie erklären.

Ich sage nicht gerne «Schuld» oder «Krieg», diese Vokabeln passen nicht zur Beschreibung der Evolution oder der Viren. Viren sind Opportunisten: Sie nutzen Situationen und Chancen aus. Auf dem Markt in Wuhan gab es vielleicht keinen anderen Wirt als den Menschen, auf den das Virus übergehen konnte. Das ist eine rein opportunistische Verhaltensweise. Vielleicht zahlen wir nun einen hohen Preis für die Errungenschaften, die wir so schön finden: Städte mit grosser Bevölkerungsdichte wie New York, aber auch Reisen. Beides bietet den Viren kurze Wege an, diese Gelegenheit lassen sie sich nicht entgehen. So breiten sie sich aus. Niemand ist schuld daran, dass sie das machen. Das Coronavirus ist ausserdem von ungeheurer Fitness. Unsere Hoffnung kann sein, dass sich diese Fitness zurückentwickelt. Vielleicht verschwindet dann das Virus. Jedenfalls wissen wir bis heute nicht, wo das Sars-Corona-Virus aus dem Jahr 2003 geblieben ist.

«Wir kommen bis jetzt sehr glimpflich davon.»

Karin Mölling
PD

Verfallen wir im Umgang mit dem Coronavirus in Panik?

Ich habe mich vor ein paar Wochen zu dieser Frage geäussert, aufgrund der zu jenem Zeitpunkt vorhandenen Informationen. Da habe ich die jetzige Pandemie mit der Influenza des Jahres 2018 verglichen – in jenem Jahr sind in Deutschland 25 000 Menschen an der Grippe gestorben, und niemand hat darüber gesprochen. Ich habe mich gewundert, warum das so ist. Inzwischen kann ich es mir erklären: Das Endstadium ist anders. Die Menschen, die 2018 an der Influenza erkrankt und gestorben sind, brauchten keine Beatmungsgeräte. Bei der Influenza 2018 haben die Krankenhausbetten gereicht, das war kein Thema in der Presse, es gab auch keinen Shutdown der Ökonomie. Die Corona-Berichte aus Italien lösten hierzulande Panik aus. Daran wird hochgerechnet, wie schlimm es noch werden könnte, darauf müsse man unbedingt vorbereitet sein. Wir kommen bis jetzt sehr glimpflich davon. Durch meine Äusserung, dass Panikmache ein Problem sei, wollte ich die drohende Ausgangssperre verhindern. Denn dafür gab es in China ganz andere Gründe als in den europäischen Städten. Dazu zählt die hohe Bevölkerungsdichte und die Luftverschmutzung. Es gibt einen «Peking-Husten», alle husten dort, und das ist ein Risikofaktor für Chinesen. Vielleicht war auch die schmutzige Luft in der Lombardei ursächlich für die vielen schweren Verläufe. Dort war vielleicht auch noch ein Fussballspiel ein explosionsartiger Auslöser.

Empfinden Sie die momentan geltenden Beschränkungen als legitim, oder hätte man auch anders reagieren können?

Die Entscheidung, die für Deutschland getroffen wurde, war bezüglich der Ausgangssperre nicht so streng, wie ich befürchtet hatte. Wir haben eine Kontaktsperre. Mein Motto lautet: Die Sonne tötet und die Luft verdünnt das Virus. Die Sonne enthält ultraviolettes Licht, das zerstört Viren. Darum machen auch wir nachts im Labor UV-Lampen an. Diese wären auch sonst vielleicht ganz praktisch: UV-Licht steigert die Immunität. Und drinnen ist die Virusmenge viel grösser als draussen, auch in Supermärkten, wo man die Luft nur umwälzt. Wofür ich deshalb seit Monaten und Wochen plädiere, ist der Mundschutz: Wir tragen ihn schliesslich auch im Labor, Zahnärzte auch. Es wurden ja beinahe Glaubenskriege um den Mundschutz geführt. Dabei gab es wohl nur nicht genug. «Selber nähen», haben sich dann viele Leute gesagt. Denn die Tröpfcheninfektion ist nun mal die vorherrschende Übertragungsart dieses Virus. Jede Maske hilft da mehr als keine.

Wie zufrieden sind Sie mit dem Krisenmanagement der Bundesregierung?

Die getroffenen Entscheidungen waren eine Ermessensfrage. Ich suche keine Schuldigen, ich suche nicht nach Fehlern – ich bin der Ansicht, das war eine so schwierige Situation, in der es viele Möglichkeiten gab. Man hat sich für diese Massnahmen entschieden, denen habe ich mich dann untergeordnet.

Wäre eine weitere Lockerung der Beschränkungen aus virologischer Sicht denn momentan vertretbar?

Auch da trifft man auf Unwissenheit. Woher wissen denn allein Virologen, was richtig ist? Wir wissen vieles nicht. Leider. Wir wissen zum Beispiel überhaupt nicht, ob es bei diesem Coronavirus eine zweite Episode geben wird, wie das bei der Influenza der Fall war. Dafür gibt es Berichte, wie abgeflachte Kurven je nach Bedingungen zu einem neuen Anstieg führen können, je nach Exitstrategie. Aber ob das kommt, weiss niemand. Ich betrachte das auch gar nicht rein virologisch. Es werden ja nun auch ganze Kommissionen von Wissenschaftern zu Rate gezogen, wie etwa die der Leopoldina. Da sind die Vertreter verschiedenster Disziplinen dabei: Ethiker, Wirtschaftswissenschafter, Psychologen und so weiter. Sie sind alle gefragt, um bei den nächsten Schritten zu helfen.

Noch sind wir von einer Herdenimmunität weit entfernt. Ist sie nur durch kontrollierte Durchseuchung erreichbar?

Wieso denn «kontrolliert» – nein! Der Begriff der Herdenimmunität wird sehr oft missverstanden. Eine Durchseuchung ordnet man nicht an und kontrolliert sie nicht. Die Idee ist, dass sich die Menschen untereinander immunisieren, unabsichtlich. Manche, besonders junge Leute, die ja auch weniger erkranken, sind mutiger als andere und setzen sich dem Risiko vielleicht eher aus – das können sie selbst entscheiden. Es geht also nicht um Zwang. Dabei bleiben die Gebote des Abstandhaltens und der Kontaktsperre aufrecht, uralte seuchenhygienische Massnahmen. Alte Menschen und jene, die multifaktoriell belastet sind, sollten zu Hause bleiben.

Wie sieht das in Ländern ohne funktionierendes Gesundheitssystem aus?

So eine Durchseuchung könnte in der Dritten Welt von allein passieren. Dort fehlen viele Mittel, die es bei uns gibt, die Menschen sind viel jünger und damit vielleicht weniger krank. Allerdings können dort Tuberkulose oder HIV zusätzliche Risikofaktoren sein.

Zudem weiss man ja auch nicht, ob jemand immun ist, wenn er einmal infiziert war.

Ja, das ist ein Problem, dass man das noch nicht so genau weiss. Normalerweise ist man nach einer Virusinfektion eine gute Weile immun und überbrückt damit zumindest die Zeit, bis zum Beispiel eine Impfung vorhanden ist. Es gibt sehr seltene Virusinfektionen, die nicht zu einer Immunität führen, sondern sogar das Gegenteil bewirken können. Das wird im Hinblick auf das Coronavirus momentan geprüft und bestimmt sehr schnell herausgefunden werden. Was ich mir an dieser Stelle wünsche, sind Schnelltests, Soforttests, kleine Papierstreifen mit Farbstrichen, die anzeigen, ob man immun ist. Wir brauchen sie dringend, darin sollte investiert werden. Ich stelle also die Frage: Warum gibt es sie noch nicht? Sie sind nicht so genau. Das weiss man. Je schneller sie jedoch zur Verfügung stehen, desto besser – dann könnte man das normale Leben auch eher wieder aufnehmen.

Würde das Gesundheitssystem überstrapaziert, wenn sich nach einer allfälligen Lockerung der Beschränkungen die Infektionszahlen erhöhen?

Das weiss doch keiner. Da regiert in der Politik die Vorsicht. Wir wollen Leben schützen und den Tod verhindern. Ich würde eine Lockerung des Alltags begrüssen. Hier möchte ich auch die Frage stellen, ob es nach einem Kontakt mit Infizierten die 14-tägige Quarantäne wirklich braucht oder ob beispielsweise auch 8 Tage ausreichend wären. Für Ärzte reichen 8 Tage, das alles müsste einmal genau berechnet werden. Eine Kontaktsperre muss beibehalten werden, aber man könnte doch beispielsweise an die Ostsee fahren oder Berge besteigen oder sich vor ein Café in die Sonne setzen mit gebührendem Abstand – das wird kommen.

Die Frau, die Viren liebt.

Karin Mölling ist fasziniert von den winzigen Erregern. Sie hat ihnen ihr Forscherleben und ein eigenes Buch gewidmet. «Supermacht des Lebens – Reisen in die erstaunliche Welt der Viren» erschien im Jahr 2014. Gerade schreibt Mölling an einem Buch über die Wirkung von Viren auf resistente Bakterien. Sie ist Virologin, Physikerin und emeritierte Direktorin des Instituts für Medizinische Virologie an der Universität Zürich. In der Krebs- und der HIV-Forschung hat sie wichtige Erfolge erzielt. Sie lebt in Zürich und Berlin und wurde mit dem Swiss Award und dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.

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