Dies &Das: Streiflichter – Tirol ohne Maske

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Corona-Krise

Essay Sabine Wallinger

15. Mai 2020

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Tirol ohne Maske

Die in Innsbruck lebende Autorin Sabine Wallinger über Filz und Verstrickungen, Ischgl und Ibiza, Dummstellreflexe und die kluge Frage: Wem gehören eigentlich die Berge?

Impressionen aus Tirol im Frühjahr 2020: Wer hier im Endeffekt im Umgang mit der Pandemie und nach Tiroler Eigen- und Fremdsicht „Mensch“ und wer „Oaschloch“ ist, bleibe dahingestellt.
Foto: APA / EXPA / Johann Groder

Eines der Videos, die sich während der Corona-Quarantäne im Umlauf befinden, zeigt Helmut Qualtinger, der sich in Gestalt eines Hüttenwirts zur Zukunft Tirols äußert. Seinem Monolog entnimmt man vage, dass die Sitten im Tal verkämen und Tirols Zukunft hoch oben auf den Bergen liege.

Redlich bemüht er sich um einen Dialekt, der in fremden Ohren tirolerisch klingen soll, durchsetzt sein Gebrabbel mit ein paar hustenden K-Lauten und fehlgeleiteten Diphthongen, ersetzt an falscher Stelle die s durch sch. Dieser Versuch scheitert am Tirolerischen genauso kläglich wie das ansonsten begnadete Stimmenimitatorenduo Maschek in Willkommen Österreich am 24. März dieses Jahres.

Wegen der Ausbreitung des Coronavirus und vor allem wegen des Umgangs damit rollt auf Tirol, die Schneetourismus-Hochburg, eine Prozesslawine zu.
Foto: Picturedesk.com / EXPA / Erich Spiess

Der Wiener Schriftsteller Carl Techet (1877–1920) sieht das Problem in der „tarrolischen“ Phonetik so: „Die Eingeborenen heißen ihr Land Tarrol oder Tarroi. Daneben finden sich auch noch andere Namen, die jedoch durch die Lautzeichen einer europäischen Sprache nicht annähernd wiedergegeben werden können. (…) Das tarrolische Idiom ist unerlernbar!“

Carl Techet, den es als Lehrer ans Kufsteiner Gymnasium verschlagen hatte, fasste seine traumatischen Tiroler Erfahrungen unter dem Pseudonym Sepp Schluiferer in die satirische Geschichtensammlung Fern von Europa – Tirol ohne Maske (München 1909), die zu einem Literaturskandal führte und in Tirol bis in die 1980er nur unter dem Ladentisch zu erwerben war. Techet, dessen Identität bald gelüftet war, sah sich mit Lynchjustiz bedroht, floh nach München und wurde schließlich nach Mähren versetzt. Er starb verarmt in Wien mit nur 42 Jahren.

Der Tarrola

Qualtinger, der in seinem Der Herr Karl den Prototyp des hässlichen Österreichers vorgezeichnet hat, entspricht weder linguistisch noch von seiner ostösterreichischen Physiognomie her dem hässlichen Tiroler, in diesem Text – auf gut Schluiferisch – schlicht „Tarrola“ genannt. Ihn zu gendern erübrigt sich, nachdem bereits eine renitente Künstlerin daran gescheitert ist, das landesübliche „Grüß Gott“ in „Grüß Göttin“ abzuwandeln.

Foto: Imago / Nordphoto / Hafner

In einem Land, wo selbst Alltagswege wie der zur Bushaltestelle oder zum Supermarkt eine alpine Herausforderung darstellen, sind weder Übergewicht noch Gemütlichkeit prototypisch. Das Sportgerät ist naturgegeben, besteht aus Gefälle und steht vor der Haustür. Kein Fenster, aus dem man blicken und keinen Berg sehen könnte. In Tirol ist die Lebensqualität hoch, der Verbraucherpreisindex noch höher, dafür der Body-Mass-Index niedrig.

Junge Leute aus aller Welt, die in Innsbruck studieren, wissen die alpine Herausforderung zu schätzen und lüften seit Jahren den Innsbrucker Provinzmief durch. Der rustikale Tiroler Phänotyp ist optisch schlanker und drahtiger als der restösterreichische. Wer hier laut Tiroler Eigen- und Fremdsicht Mensch und wer Oaschloch ist, bleibe dahingestellt. Was uns zur Wesensfrage des Tarrolas führt: Wie ist er? Wie evaluiert er im Spannungsfeld zwischen Wirtschaft und Landschaft? Zwischen Fremdenhass und Fremdenverkehr?

Der Dummstellreflex

Was den Tarrola in den Medien, die er einerseits aus Werbezwecken sucht und andererseits aus Geschäftszwecken meidet, kennzeichnet, ist eine Weiterentwicklung des biologisch verankerten Totstellreflexes: Er reagiert auf kritische, aus seiner Sicht böswillige Fragen mit einem Dummstellreflex.

Ein weltberühmtes Beispiel dafür ist der Multiunternehmer und ÖSV-Präsident Peter Schröcksnadel, der, während die Carabinieri schon die österreichische Unterkunft stürmten und betroffene Sportler noch die Blutbeutel aus dem Fenster warfen, der internationalen Presse in tarrolischem Englisch erklärte „We are a too small country for making good doping“.

Foto: APA / Markus Stegmayr

So geschehen im Jahr 2006 bei den Olympischen Winterspielen in Turin. Allein das aus tiefster Kehle gehustete K in „country“ und „making“! Unnachahmlich. Der Dank der Skination Österreich ist ihm auf ewig gewiss. Oder der Tarroler Seilbahnbetreiber, der, weil sich der Pitztaler Gletscher aus ihm unerfindlichen Gründen zurückgezogen hat, 2018 einen neuen Skipistenweg anlegen „musste“ und zu diesem Zweck gleich einen ganzen Berggrat im hochalpinen Gelände wegsprengen ließ.

Der Dummstellreflex der Auftraggeber: Ach so? Dafür hätte es eine Genehmigung gebraucht? Gar eine Umweltverträglichkeitsprüfung? Ups. – Doch der Verantwortungsträger, in dem Fall die Pitztaler Gletscherbahn GmbH, sei unbesorgt. Selbst wenn der Verstoß gegen die Naturschutzbestimmungen sich durch den behördlichen Verdauungsapparat wie Ludwig Anzengrubers Gwissenswurm durchfressen sollte, bliebe den Tätern nur eine geringfügige Geldstrafe zu zahlen. Nicht ärgerlicher als ein Strafzettel auf der Mercedes-Windschutzscheibe.

Ein speckiger Walkjanker

Bei der Verbindung von politischer Macht und privatwirtschaftlichem Lobbying, gemeinhin als „Verstrickung“ bezeichnet, ist für die Tarroler Verhältnisse eine stärkere Metapher aus der Textilbranche heranzuziehen: In Tarrol sind die Machtverhältnisse verfilzt wie ein speckiger Walkjanker, von dem beispielsweise die Landesumweltanwaltschaft einfach abperlt.

Da werden für die Schneekanonen Speicherseen gebaut, Bäche begradigt und durch Betonrinnen geleitet, Liftstützen ins ewige Eis gepflanzt, Straßen trassiert, Parkplätze angelegt und Gletscherflächen pistentauglich gemacht. Um Gletscherspalten zuzuschütten, wird ringsum das Eis mit Baggern aufgehackt und hineingeschaufelt.

Foto: Picturedesk.com / EXPA / Johann Groder

Man muss kein Glaziologe sein, um zu wissen, dass die Gletscherschmelze dadurch beschleunigt wird. Man braucht nur einen Hausmeister zu fragen, der ein paar Eiskrusten auf dem Gehweg anpickelt, damit sie beim nächsten warmen Wind verschwinden. Wenn jedoch kritische Medien darauf hinweisen und es ihnen gar gelingt, einen Liftkaiser vors Mikro zu zerren, erfolgt die dummdreiste Antwort: Gletscherspalten zuzuschütten sei eine Klimaschutzmaßnahme.

Wem gehören die Berge?

Gerade im Zusammenhang mit immer neuen Skigebiet-Verbindungen stellt sich die Grundsatzfrage, wem denn die Berge, die für Tirol so identitätsstiftend sind, eigentlich gehören. Bei den Österreichischen Bundesforsten, Naturfreunden und dem Alpenverein ist unser Gebirge als schützenswertes Allgemeingut wohl in guten Händen. Aber bei Großgrundbesitzern, Agrargemeinschaften und auch Gemeindeverbänden ist Misstrauen angebracht. Bis sie als Cashcow entdeckt wurden, standen Berge einfach zweckfrei in der Gegend herum und erodierten witterungsgemäß vor sich hin.

Mittlerweile wird dieser Erosion durch Lifttrassen und Pistenkilometer kräftig nachgeholfen. Die Berge sind Gegenstand massiver Finanzinteressen geworden. So ist in Tirol ein großflächiger Landraub im Gange, bei dem alpines Gelände privatwirtschaftlich erschlossen und genutzt wird. Es waren dabei ausgerechnet die kleinen Stolperer, die dem öffentlichen Bewusstsein dabei nachhalfen: René Benko, der im Tiroler Karwendel gleich ein ganzes Tal kaufen wollte, um die Zufahrt zu seinem Jagdhaus zu erleichtern, da es sich mit dem Helikoptershuttle für seine Jagdgäste aus Politik und Wirtschaft bewilligungstechnisch spießte (abgelehnt durch die ÖBf.) Oder der läppische Versuch der BIG, zwei Osttiroler Gipfel um wohlfeile 121.000 Euro an Bieterfirmen zu versilbern, was die uralten Flurnamen durch Produktmarken ersetzt hätte (überboten von den ÖBf.)

Foto: APA / EXPA / Johann Groder

Es sind auch die Luxuschalets im Arlberggebiet, welches sich vorwiegend in Privatbesitz befindet, deren Baugenehmigungen auf wundersame Weise erwirkt wurden und werden. Und es ist die geplante „Gletscherehe“ zwischen Pitztal und Ötztal, eine Zweckheirat aus finanziellen Beweggründen. Im altbekannten Dummstellreflex wird für das touristisch bis auf das „Gletschergeil-Gebiet“ noch relativ wenig erschlossene Pitztal der Notstand ausgerufen, sollte keine Gletscherkommunion samt Gipfelopferung erfolgen. Schließlich habe man im Hinblick darauf schon die Familienpension zum Großhotel ausgebaut, erzählt eine Hotelière blauäugig in die Kamera, und wer solle nun die Kreditraten bezahlen, wenn die Gästemassen ausbleiben, von denen Ziller-, Ötz- und Paznauntal so gesegnet sind?

St. Corona in Tirol

Für die Erkenntnis, dass alpiner Massentourismus seine Schattenseiten hat, wirkte der Corona-Ausbruch als Katalysator. Dass beim Massentourismus Touristen in Massen mit dem Auto in die Täler kommen, in Massen den Berg hinauf- und ihre Fäkalien den Berg wieder hinuntergepumpt werden, ist längst bekannt. Wie viele Menschen die WC-Anlagen einer großen Bergstation benutzen, weiß jeder Skifahrer, doch kann es keiner beziffern. Wie viele Menschen stehen dicht an dicht mit ihren Tabletts um ihre Knödel und Fritten samt Weizenbier und Cola in der Schlange und dann noch einmal um einen Strudel mit Schlag samt Obstler? Üben sich in Achter-Sesselliften oder in plexiglasummantelten Zehner-Gondeln im Smalltalk? Warten enggedrängt zu Hunderten auf die letzte Talfahrt? Feiern dann Leib an Leib im Après-Ski-Stadel ab? Wo man sich, wiewohl brüllend, nur nah am Ohr des Gegenübers verständigen kann?

Armageddon, Tristesse

Die lukrative Synthese zwischen Fremdenhass und -verkehr führt in den Skihochburgen zu einem architektonischen Armageddon von Hotels im Lederhosenstil mit Marmorfurnier und venezianischen Löwen im Eingangsbereich, zu Discostadeln und dem berüchtigten Glockentürmchen auf der Doppelgarage des Drittwohnsitzeigentümers.

Foto: APA / EXPA / Erich Spiess

Doch nivelliert der Skizirkus nicht nur ästhetische, sondern auch sozialpartnerschaftliche Ansprüche nach unten. Wirtschaftlich stützt er sich auf Hire-and-Fire-Verträge für unterbezahlte ausländische Saison-Arbeitskräfte, die er in enge Schlafquartiere pfercht. Der solchermaßen erwirtschaftete Reichtum sickert zur Bevölkerung nicht breitschichtig durch. Die Restprofite für Handwerks- und gastronomische Zulieferbetriebe sammeln sich bestenfalls in lokalen Auffangbecken. Außerhalb der Saison ist ein Skiort wie Ischgl von gespenstischer Tristesse. Keine Rede von gewachsener Dorfstruktur. Wer außerhalb der Wintersaison ins – äußerst sehenswerte und von Naturkatastrophen gebeutelte – Paznauntal fährt, lässt Ischgl links liegen wie eine in der Remise abgestellte Seilbahngondel.

Vom Gast zum Fremden

Der Tiroler Umgang mit dem Auftauchen des Sars-CoV-2-Virus überrascht vor diesem Hintergrund nicht. Umso mehr zeugt er vom altbekannten Filz zwischen finanzstarken Stakeholdern und Landespolitik. Vom Massentourismus auf die Gefahr einer Massenepidemie zu schließen verhinderte allein schon der tarrolische Analogschluss, dass es, weil’s „auf der Alm koa Sünd‘ gibt“, dort auch kein Virus geben könne.

Als Ischgl im fernen Ausland Anfang März bereits offiziell als Corona-Infektions-Hotspot rangierte, rollte dort der Rubel fröhlich weiter. Stillschweigend ließ man neu anreisende, ahnungslose Touristen ins Messer laufen. Bereits im Februar muss sich in Ischgl ein expansives Infektionsgeschehen abgespielt haben, wofür enge Personalunterkünfte als ideale Brutstätte fungierten. Servicepersonal, das eindeutige Corona-Symptome zeigte, wurde daran gehindert, das Quartier zu verlassen, um sich im nächstgelegenen Krankenhaus testen zu lassen.

Wenigen Ausreißern gelang es dennoch, Befund positiv, wie die ORF-Sendung Am Schauplatz vom 2. April dokumentierte. Testfrei wurden den Mitbetroffenen fragwürdige Gesundheitsatteste ausgestellt. Ein Lügengebäude im Lederhosenstil. Als sich die breite Infektionslage trotz Geheimhaltung zuspitzte, aktivierte sich zuallererst der Tarroler Beißreflex, noch bevor man in den Dummstellmodus verfiel: Man sperrte die Grenze zu Italien. Nur eingeborenen Tirolern ist die Unterscheidung geläufig, wann es sich bei Brenner und Reschenpass um eine Grenze zu „Südtirol“ (vulgo Unrechtsgrenze) und wann um eine Grenze zu „Italien“ handelt.

Foto: Picturedesk.com / EXPA / Johann Groder

Kurzgefasst: Bei Flüchtlingen und Seuchen grenzt Tirol an Italien. Dann Dummstellung Stufe eins: Die verharmlosenden Äußerungen von Tiroler Gesundheitslandesrat und Sanitätsdirektion zu einem drohenden Seuchenausbruch in Skihochburgen („Ansteckungsgefahr unwahrscheinlich“) sind bereits jetzt Legende. Stufe zwei: der noch dümmere Versuch einer Negation des für ganz Europa entstandenen gesundheitlichen Schadens, die Infizierten hätten sich entweder beim Heimflug im Flugzeug angesteckt oder schon die Infektion nach Tirol eingeschleppt.

„Ein Virus auf der Durchreise“, wie es der Ischgler Kitzloch-Besitzer nennt. Und dann, Stufe drei, jener Moment, als aus „Gästen“ ratzfatz „Fremde“ wurden: Spät, aber doch wurde die Quarantäne über die betroffenen Gebiete Paznaun, Arlberg und später Sölden verhängt. „Quarantäne“ bedeutet gemäß der Übersetzung ins Tarrolische nicht etwa, dass alle potenziell Verseuchten an Ort und Stelle bleiben müssten wie Hans Castorp auf Thomas Manns Zauberberg, nein, im Gegenteil, man schmeißt sie hinaus mit der zwangsunterzeichneten Auflage, das Land sofort zu verlassen.

Dann wäscht, nein, eher reibt man sich die Hände in Unschuld und zeigt sich medienwirksam irritiert, dass einige böswillige Fremde sich bis zu ihrem Abflug in Innsbruck eingemietet und dort das Virus verbreitet hätten, anstatt den Heimweg nach Skandinavien zu Fuß anzutreten.

Schockstarre

Mit zunehmender Medienkritik aus dem Ausland schlug die augenzwinkernde Tarroler Politik in Schockstarre um. Die Landesbehörden verhängten über die Tiroler Bevölkerung eine rigide Ausgangssperre, nicht nur, um den Musterknaben zu geben und das ramponierte Ansehen Tirols als Tourismusstandort zu retten, sondern weil die lokale Durchseuchung tatsächlich weit über dem Bundesdurchschnitt lag.

Ganz Tirol wurde unter Quarantäne gestellt. Das Ischgler Corona-Infektionscluster umfasst laut Profil vom 10. April 57 Prozent aller bisher österreichweit ausgewerteten Corona-Erkrankungen. Mittlerweile weiß man, dass nach gesamteuropäischer Zählung 11.000 Infektionen auf Ischgl zurückverweisen. Eine „beachtliche Leistung“ für ein Tiroler Seitentaldorf mit weniger als 1700 Einwohnern. Selbst beim einzigen Corona-Fall im Innsbrucker Gefängnis handelt es sich um einen Insassen, der vor Haftantritt noch in Ischgl Ski fahren war.

Nun rollt auf die Tiroler Verantwortlichen eine Prozesslawine von unabsehbarem Ausmaß zu, Vorwurf: Gemeingefährdung. Auch die Einschaltung der Korruptionsstaatsanwaltschaft wegen Amtsmissbrauchs scheint angebracht, denn dass parteispendende Unternehmen auf Behörden Verheimlichungsdruck ausgeübt haben, geschah zwar in der kritischen ersten Märzhälfte des Jahres 2020 nicht zum ersten Mal, aber bislang noch nie so offensichtlich. Man darf gespannt sein, ob Landes- und Bundesgerichte den Tarroler Machtfilz durchleuchten können.

Es wird schwierig werden zu widerlegen, wer von den Verantwortlichen wann warum nichts von der drohenden Gefahr gewusst haben könne. Im Prinzip: gar nix. Telefonate werden nicht geführt worden sein, E-Mails versehentlich gelöscht, Textnachrichten nicht erhalten, Pressemeldungen nicht gelesen.

Nur weil man ein bisschen mehr Geld hat als die anderen, bleibt man im Verteidigungsfall ein schlichter Tarrola, die verbale Mistgabel hinter der Stalltür stets griffbereit. Und wer weiß, wie viele Bagger und Kipplader und Betonmaschinen gerade jetzt, im Corona-Ausnahmezustand, die Gunst der Stunde nützen, um Gletscher und Pistengebiete ein bisschen weiter zu beackern, ohne dass man sich vor Anzeigen irgendwelcher Naturschutz-Querulanten fürchten müsste, jetzt, wo auf den Bergen Stillstand herrscht, keine naturliebenden Tourengeher und Wanderer unterwegs sind?

„Ibiza der Alpen – Wie sich der Tiroler Ort Ischgl als klimaneutral verkauft“ hieß die fast prophetische „Am Schauplatz“-Sendung des ORF-Journalisten Ed Moschitz, die am 12. März ausgestrahlt wurde. Teil 2, ein Corona-Update, ging am 2. April auf Sendung. Foto: ORF

Wer und wie sind „wir“?

Für die Tiroler Bevölkerung ist ein gesunder Eskapismus besonders niederschwellig und naheliegend. Drei Länder in Reichweite. Über uns die Berge, dahinter der Strand. Mögen uns diese Fluchtmöglichkeiten trotz oder wenigstens nach Corona erhalten bleiben. Das Virus hat den alpinen Hedonismus gebremst, aber vielleicht den Weitblick gestreckt. Hören wir bitte auf, „uns“ – wer immer das ist – im Bedarfsfall dummzustellen und Tirol, das selbsternannte „Herz der Alpen“, plötzlich fern von Europa anzusiedeln. „So sind wir nicht“, sagte vor rund einem Jahr ein verzagter Bundespräsident über Österreichs Image nach der Ibiza-Affäre.

Jetzt, im Frühjahr 2020, gibt es ein „Tiroler Ibiza“. Wie wir diesmal aus dem Schlamassel herauskommen? Vor einem Jahr bedurfte es dafür einer Staatskrise und eines Regierungswechsels. Noch wiegen sich Tiroler Touristiker, Politiker und Behörden in der (be)trügerischen Behauptung, gesundheitspolitisch „alles richtig gemacht“ zu haben. Die Behörden wollen sich auf die Infektionsmeldepflicht seitens der Touristiker verlassen haben, diese wiederum auf die behördlichen Vorgaben. Ein Schelm, der Böses dabei denkt.

Erst mal tief durchatmen durch die Maske. Wird nach Corona in Tarrol alles beim Alten bleiben? Der schwarze Landeshauptmann beruhigt, die grüne Vizelandeshauptfrau nickt ab, Carl Techet schüttelt den Kopf. Ach ja, Tobias Moretti beschwichtigt. Und ich? Ich stehe auf von meinem Homeoffice-Schreibtisch, ziehe Fleecejacke und Trekkingschuhe an, schnalle mir die Walking-Stöcke ans Handgelenk und gehe auf die Höttinger Alm, obwohl sie zu ist. Ob ich das darf? Allein der Ausblick ist eine Sünde wert. (Sabine Wallinger, 15.5.2020)

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