Dies & Das: Die neuen Leiden des alten Wienerwaldes

Die neuen Leiden des alten Wienerwaldes

Der Wienerwald ist essenziell für die Stadt. Er bindet ihr Kohlendioxid. Er produziert Sauerstoff. Er kühlt sie. Und er hat große Probleme.

© Biosphären GmbH/Lammerhuber

Wien ist anders. Nicht etwa wegen der grantigen, morbiden, aber gemütlichen Einwohner. Nicht etwa wegen dem Sisi-Kitsch und der ewigen Habsburg-Nostalgie. Nicht etwa wegen der Donau, an deren Ufer der Wiener rührselige Lieder singt. Auch nicht wegen dem Prater, dem Habitat des Strizzis. Das sind nichts als Klischees.

Das echte Spezifikum der Metropole liegt ganz woanders. Nämlich jenseits ihrer Grenzen. Es besteht vorwiegend aus Holz. Die halbe Stadt ist von einer riesigen Waldfläche umgeben. Keine andere Millionenstadt Europas hat einen so großen Wald direkt vor der Haustüre. Er ist Wiens Besonderheit. Er macht die Stadt anders. Und er hat Probleme.

Die 51 Gemeinden im Wienerwald wachsen: ein weiterer Feind des Wienerwalds. – © Winterer

Nord- und südwestlich von Wien tut sich der Wienerwald auf. Bewaldete Hügel soweit das Auge reicht. Die Kronen der Eichen und Eschen schaukeln im Wind. Fassdicke Rotbuchen wachsen in den Himmel. Buntspechte hämmern sich durch ihre Borke. Irgendwo balzt der Wiedehopf. Bäche plätschern dahin. Am Waldrand stehen Holunderstauden. Erdhummeln bestäuben Brombeerbüsche. Der Wald wird von Streuobstwiesen und Feldern durchbrochen.

20 Millionen Besuche jährlich

Der Wienerwald ist ein Mittelgebirge und der östlichste Ausläufer der Nordalpen. Rund 280.000 Menschen leben hier. Er erstreckt sich über 51 Gemeinden und Teile von sieben Wiener Gemeindebezirken. Die Asphaltbänder der West- und Südautobahn durchkreuzen ihn genauso wie die Gleiskörper der West- und Südbahn. Der Wienerwald fasst mehr als 105.000 Hektar und besteht zu 60 Prozent aus Holz – vorwiegend Laubwald.

Das macht ihn zum Segen für ganz Wien. Und er erfreut sich reger Beliebtheit. Jährlich wird er rund 20 Millionen Mal aufgesucht. Gestresste Großstädter gehen nach Feierabend hier laufen. Pensionisten pflücken Bärlauch. Mountainbiker brettern über gatschige Trails. Kinder reiten auf Feldwegen. Wanderrouten durchziehen das Gebiet. Doch der Wienerwald ist weit mehr als Naherholungsgebiet. Er ist essenziell für die Hauptstadt. Er bindet ihr Kohlendioxid. Er produziert Sauerstoff. Er kühlt sie.

23 Millionen Klimaanlagen stark

Der Wienerwald ist die Klimaanlage der Stadt. Bäume spenden nicht nur Schatten. Sie schwitzen für uns. Ihre Blätter verdunsten Wasser, wodurch die Luft abkühlt. Pro Quadratmeter Laubwald verdunsten laut Biosphärenpark Wienerwald Management GmbH (BPWW) im Schnitt zwei Liter Wasser am Tag. Eine herkömmliche Raumklimaanlage schafft eine Leistung von etwa 2500 Watt. Die Kühlleistung eines Hektars Wienerwald ist 360 Mal höher. Hochgerechnet ist der gesamte Wienerwald 23 Millionen Klimaanlagen stark. Außerdem liegt der Wald deutlich höher als Wien, an manchen Stellen über 500 Meter. „Pro hundert Höhenmeter nimmt die Lufttemperatur im Schnitt um 0,6 Grad ab“, sagt Maja Zuvela-Aloise. Die Klimatologin der Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik (ZAMG) beschäftigt sich mit dem Mikroklima von Städten.

Über Zuvela-Aloises Bildschirm flimmert eine Landkarte des Wiener Umlandes. Hunderte kleine schwarze Pfeile sind über die Region verteilt. Sie zeigen Intensität und Richtung des Windes. An manchen Stellen sind sie länger und deuten gebündelt nach Wien. „Das sind Frischluftschneisen“, sagt Zuvela-Aloise. „Sie wehen die kalte Luft des Waldes nach Wien.“

Die Stadt wird über mehrere solche Kanäle belüftet. Einer von ihnen liegt über dem Wienfluss. Wie in einem Kamin zieht die Wienerwald-Brise von Purkersdorf über Schönbrunn in die Innenstadt. Neben dieser unmittelbaren Wirkung kühlt der Wienerwald aber auch auf lange Sicht. Bäume sind wertvolle Kohlenstoffspeicher. Sie filtern Kohlendioxid (CO2) – den Hauptverursacher der Klimakrise – aus der Luft. Im Sommer 2019 sorgten Forscher der ETH Zürich mit der Idee für Aufsehen, die Erderhitzung durch großflächige Aufforstung zu drosseln. Eine Milliarde Hektar zusätzlicher Wald würde zwei Drittel aller jemals von Menschen verursachten CO2-Emissionen speichern.

3 Milliarden Tonnen Co2-Speicher

In Österreichs Wäldern sind insgesamt rund drei Milliarden Tonnen Kohlendioxid gespeichert. Das entspricht der 35-fachen Menge, die wir jährlich an Treibhausgasen ausstoßen – vorwiegend in den Städten natürlich. Die Kiefern, Buchen, Pappeln, Fichten, Eschen des Wienerwaldes retten die schlechte Bilanz der Hauptstadt. Denn hier wird kaum CO2 gebunden. Und auch kein Sauerstoff produziert. Das machen die Wälder im Westen. Sie versorgen uns mit dem lebensnotwendigen Gas.

Ein Quadratmeter Laubwald produziert laut BPWW 6,4 Gramm Sauerstoff – so viel ist in 23 Litern Luft enthalten. Insgesamt erzeugt der Wienerwald 716.800 Tonnen Sauerstoff. Die Menge deckt den jährlichen Bedarf von rund zwei Millionen Menschen. Wien ohne Wienerwald wäre also nicht nur ein großes Stück weit langweiliger. Die Stadt wäre ein drückender Moloch. Stickig, dreckig und heiß. Pop-up-Radwege, begrünte Bushaltestellen und coole Straßen hin oder her. Das haben die Wiener Stadtregierung und das Bundesland Niederösterreich längst erkannt.

Seit 2005 Biosphärenpark

2005 wurde beinahe die gesamte Wienerwald-Region zum sogenannten Biosphärenpark. Beide Bundesländer errichteten die gemeinsame Biosphärenpark Wienerwald Management GmbH. Weltweit hat die Unesco 701 Regionen in 124 Ländern als Biosphärenparks ausgewiesen. Sie sind Modellregionen für die nachhaltige Entwicklung von Mensch, Natur und Wirtschaft. Sie unterliegen speziellen Gesetzen und Auflagen. Hier soll der Mensch im Einklang mit der Natur leben und diese schützen. Angesichts der drohenden Zukunft keine leichte Aufgabe.

Denn das Idyll trügt. Dem Wienerwald geht es längst nicht so gut, wie das sattgrüne Blätterdach suggeriert. Auch er leidet an den extremen Bedingungen. Hitze und Trockenheit stressen den Wald. Viele Bäume kränkeln. Der Unterboden des Waldes ist ausgetrocknet. Die Grundwasserreserven konnten nach den beiden vergangenen Hitzesommern nicht wieder aufgefüllt werden. Die Eschen – zehn Prozent aller Bäume im Wienerwald – rafft ein Pilz dahin.

Fichten sterben wie die Fliegen

Die Fichten sterben wie Fliegen. Die flachen Wurzeln der Nadelbäume erwischen weniger Wasser, als ihre Nadeln verdunsten. Der geschwächte Baum kann sich gegen Schädlinge wie die Borkenkäferarten Buchdrucker und Kupferstecher nicht mehr wehren. Er stirbt. Während die Fichte heiße trockene Sommer hasst, liebt sie der Käfer. Er vermehrt sich explosionsartig und frisst sich durch ganz Österreich. 2018 mussten in Österreich vier Millionen Festmeter schadhaftes Fichtenholz geschlägert werden. Das entspricht einer Fläche von 18.000 Fußballfeldern.

Vor allem Ober- und Niederösterreich sind betroffen. Doch auch vor dem Wienerwald machen Buchdrucker und Kupferstecher nicht halt. „Im Wienerwald ist die Fichte zum Glück unterrepräsentiert“, sagt Harald Brenner, Mitarbeiter im Naturraummanagement der Biosphärenpark Wienerwald GmbH. Etwa sechs Prozent aller Bäume sind Fichten. Auf lange Sicht wird sie verschwinden. „Sie wird den Lärchen und Tannen – beides tief wurzelnde Bäume – weichen“, sagt Pia Buchner, Pressesprecherin der Österreichischen Bundesforste, die das Gros des Waldes bewirtschaftet.

Zu trocken für Buchen

Doch auch die Buche ist nicht resistent gegen den Klimawandel. Sie ist der häufigste Baum im Wienerwald. Fast jeder zweite Baum ist eine Buche. „Die Buche ist das Fragezeichen im Wienerwald“, sagt Brenner. Sie ist durstig. Eine Buche braucht etwa 600 Milliliter Niederschlag im Jahr. Mehr als in den vergangenen Jahren in großen Teilen des Waldes fiel.

„Einige Experten sehen den Wienerwald der Zukunft mit deutlich weniger Buchen, andere glauben, dass junge Buchen, die unter diesen Bedingungen groß werden, auch mit weniger Wasser auskommen“, sagt Brenner. Die Bundesforste setzen jedenfalls auf die Eiche. „Langfristig bauen wir den Wald um“, sagt Buchner. „Die Eiche hält lange Trockenperioden besser aus und wächst auch auf trockenen Standorten. Sie bildet zwei Meter tiefe Pfahlwurzeln, mit der sie auch aus tieferen Schichten Feuchtigkeit holen kann.“

Das Bild des Wienerwaldes wird sich also nachhaltig verändern. Ohne waldbauliche Maßnahmen – wie eben die Pflanzung anderer Baumarten – wird der Wienerwald seine positiven Effekte auf Wien unweigerlich verlieren. Wissenschaftler der Boku Wien haben die Auswirkungen des Klimawandels am Beispiel des Wienerwaldes modelliert. Das Ergebnis: Selbst bei einem moderaten Anstieg der Temperaturen und Absinken der Niederschläge leiden Holzproduktion und Kohlenstoffspeicherung des Waldes massiv. Das Ökosystem würde kippen. Tierarten sterben. Bäche und Quellen versiegen.

Ein düsteres Szenario. Doch neben der Erderwärmung kämpft der Wald auch an anderer Front. Der Feind – Städter, die an seinen Rändern leben wollen. Denn die 51 Gemeinden im Wienerwald wachsen. Der Wald, ihre Nähe zu Wien, die gute Verkehrsanbindung machen sie zu äußerst beliebten – wenn auch teuren – Wohnorten. Die Hauptstraßen sind mit den Werbetafeln der Makler gepflastert. Häuser mit Blick in den Wald, Schrebergärten, Altbauperlen neben dem Kirchturm, Mitwohnungen im Block. Alles wird feilgeboten. In keiner anderen Region des Landes ist der Anteil an Zuwanderern aus Österreich höher als hier. Laut Statistik Austria stieg die Bevölkerung von 2005 bis 2019 um 11,7 Prozent. Tendenz steigend. Bis 2040 wird ein weiteres Wachstum von 10 Prozent erwartet. Die Corona-Pandemie wird dem Trend einen weiteren Schub geben. Halb Wien will raus in den Wienerwald.

Stellt sich die Frage, wo all die Menschen leben sollen. Schon jetzt sind die Baugründe rar. Rodungen wird es keine geben. Denn als Teil des Biosphärenparks unterstehen die Gemeinden strengen Raumordnungsgesetzen. Im Wienerwald gibt es drei Zonen: Kernzone, Pflegezone und Entwicklungszone. Die mosaikartig verteilten Kernzonen nehmen fünf Prozent des gesamten Biosphärenparks ein. Sie sollen unberührt bleiben. „Hier wächst der Urwald von morgen“, sagt Brenner von der BPWW. In Kernzonen sind Widmungen als Verkehrsfläche oder Bauland verboten. Auch in den Pflegezonen – 31 Prozent des Biosphärenparks – sind sie schwierig und nur dann zulässig, wenn dadurch die Siedlungskultur verbessert und im Gemeindebiet keine anderen Flächen zu Verfügung stehen. Beide Bedingungen müssen erfüllt sein, um in Pflegezonen ein Haus bauen zu können. Alle anderen Flächen sind Entwicklungszonen. Für sie sind die Gemeinden verantwortlich. Und hier wird natürlich gebaut – vom Einfamilienhaus bis zum Gewerbepark im Grünen.

22 Hektar in 12 Jahren verbaut

Von 2006 bis 2018 wurden innerhalb der Grenzen des Biosphärenparks 22 Hektar Land bebaut. Das entspricht einer Fläche von 31 Fußballfeldern. In ganz Niederösterreich waren es im gleichen Zeitraum 3957 Fußballfelder. Der Biosphärenpark liegt damit im Pro-Kopf-Vergleich unter dem Durchschnitt des Bundeslandes. Doch der Siedlungsdruck steigt. Auch Brenner sieht der Zukunft herausfordernd entgegen. Grundsätzlich funktioniere die Zonierung der Region aber gut. „Das Konzept kommt an. Das Bekenntnis der Gemeinden zum Biosphärenpark ist da“, sagt er. Die Wienerwaldgemeinden würden vorwiegend ihre Ortskerne verdichten. „Maßvoll“, wie er betont.

In die Höhe statt in die Breite ist also die Devise. Neben der Rudolfswarte in Purkersdorf wachsen Rotbuchen in die Höhe. Der Regen der vergangenen Wochen hat ihnen gutgetan. Ihre Wipfel sind satt. Wie ein grüner Teppich liegt das Blätterdach unter der Aussichtswarte. An seinen Rändern beginnen die Häuserschluchten Wiens. Wo die morbiden Einwohner der Kaiserin Sisi nachhängen. Oder im Prater mit einem Messer in der Hosentasche in der Grauzone zwischen legal und illegal wandeln. Die Klischees der Stadt sind uferlos. Dass der Wienerwald ihre grüne Lunge ist, ist keines. Hoffentlich noch lange.

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