Dies & Das: Die Aufnahme von minderjährigen Flüchtlingen ist eine humanitäre Pflicht

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Béatrice Acklin Zimmermann und Kurt Fluri

Die Aufnahme von minderjährigen Flüchtlingen ist eine humanitäre Pflicht

Den verletzlichsten unter den Flüchtlingen rasch und unbürokratisch zu helfen, ist nicht nur ein Gebot der Menschlichkeit, sondern auch eine vorrangige Pflicht, der die Schweiz nachkommen kann.

Zerstörtes Flüchtlingscamp auf der griechischen Insel Lesbos.
Milos Bicanski / Getty

Im vergangenen Mai landete in Zürich ein Flugzeug mit zwei Dutzend Kindern und Jugendlichen an Bord. Es waren unbegleitete minderjährige Asylsuchende, die unter meist katastrophalen Bedingungen in den überfüllten griechischen Flüchtlingslagern gehaust hatten. Diese jungen Menschen haben in der Schweiz eine Unterkunft, medizinische Versorgung und ein ordentliches Asylverfahren erhalten, wie es Bundesrätin Karin Keller-Sutter anlässlich des EU-Minister-Treffens Ende Januar 2020 in Zagreb versprochen hatte. Geht es nach der Mehrheit der Nationalrätinnen und Nationalräte, werden diesen minderjährigen Asylsuchenden bald weitere in die Schweiz nachfolgen. Die politisch breit abgestützte Motion «Aufnahme von Flüchtlingen aus Griechenland sowie Reform des Dublin-Abkommens», die vom Nationalrat gutgeheissen wurde, verlangt nämlich, dass die Schweiz «auch eigene Solidaritätsleistungen ergreift» und sich verstärkt darum bemüht, unbegleitete minderjährige Asylsuchende aufzunehmen.

Die einen stehen dieser Forderung skeptisch gegenüber, sie sprechen sich gegen weitere Kollektivaufnahmen von Flüchtlingen aus und betrachten eine aktive Rolle der Schweiz in dieser Sache als falsch. Für andere wiederum – unter ihnen hauptsächlich Kirchen und humanitäre Organisationen – geht die Massnahme zu wenig weit: Sie fordern den Bund auf, die Aufnahme von Flüchtlingen aus Griechenland auf 5000 auszuweiten. Die Schweiz ist aufgrund ihrer geografischen Lage nicht gleichermassen mit Asylgesuchen konfrontiert wie die Länder an den Aussengrenzen und profitiert deshalb in hohem Masse vom Dublin-System. Deshalb sollte die Schweiz ihre humanitäre Verantwortung wahrnehmen und die Aufnahme von minderjährigen Asylsuchenden vorantreiben.

Seit über einem Jahr beratschlagen die EU-Länder, wie den allein reisenden Minderjährigen in den griechischen Migrantenlagern geholfen werden könnte. Wurde eine Umsiedlung zuerst verschleppt durch bürokratische Bedenken und das Warten auf eine gesamteuropäische Lösung, die es bis dato nicht gibt, so ist es nun die Corona-Pandemie, die als Grund für die Verzögerung genannt wird. Auf die längst fällige Dublin-Reform und einen gerechten Verteilungsschlüssel können die auf sich allein gestellten Kinder und Jugendlichen in den griechischen Flüchtlingscamps jedoch nicht warten. Von den rund 5000 unbegleiteten minderjährigen Migranten in Griechenland werden bis jetzt nur gerade 1800 in geeigneten Unterkünften betreut. Über 3000 leben unter menschenunwürdigen Bedingungen in überfüllten Lagern.

Den verletzlichsten unter den Flüchtlingen rasch und unbürokratisch zu helfen, ist nicht nur ein Gebot der Menschlichkeit, sondern auch eine vorrangige Pflicht, der die Schweiz nachkommen kann, ohne dass sie deshalb das Dublin-Abkommen umgehen oder ihren bedachten Kurs in der Migrationspolitik verlassen muss. Weil nämlich die Dublin-Verordnung eine unbürokratische Übernahme von minderjährigen Asylsuchenden bei familiären Verbindungen zum entsprechenden Land vorsieht, hätten derzeit rund 200 minderjährige Flüchtlinge in den griechischen Lagern ein Recht darauf, in die Schweiz gebracht zu werden. Sie alle haben Verwandte, die in der Schweiz leben, so dass für sie eine Familienzusammenführung infrage käme.

Sollten von den insgesamt 40 000 Flüchtlingen in den griechischen Lagern 200 Minderjährige mit Familienbezug in die Schweiz geholt werden, so wäre dies gewiss nur ein Tropfen auf den heissen Stein. Und die Übersiedelung von 200 Kindern und Jugendlichen in die Schweiz ändert auch nichts an den katastrophalen Bedingungen, denen die Menschen in den Camps ausgesetzt sind. Aber mit dieser Massnahme würde die Schweiz zeigen, dass sie in Zeiten, in denen eine gemeinsame europäische Asylpolitik faktisch nicht mehr existiert und das Coronavirus fast alle anderen Themen von der politischen Agenda verdrängt hat, für humanitäre Mindeststandards einsteht und nicht bereit ist, die humanitäre Notlage in den griechischen Flüchtlingslagern einfach hinzunehmen.

Béatrice Acklin Zimmermann ist habilitierte Theologin und FDP-Abgeordnete im Freiburger Parlament; Kurt Fluri ist FDP-Nationalrat und Stadtpräsident von Solothurn.