Dies & Das: Selbstbestimmt leben, selbstbestimmt sterben

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Kolumne

Barbara Coudenhove-Kalergi

1. Oktober 2020

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Selbstbestimmt leben, selbstbestimmt sterben

Beihilfe zum Suizid ist derzeit in Kanada, in der Schweiz, in den Niederlanden, Belgien und Luxemburg und seit kurzem auch in Deutschland erlaubt

Soll Beihilfe zum Suizid in Österreich weiterhin verboten bleiben oder nicht? Darüber muss der Verfassungsgerichtshof demnächst entscheiden, und die Diskussion darüber ist in vollem Gange. Im Grunde geht es um eine Auseinandersetzung zwischen zwei Kulturen: eine westlich-aufgeklärte, in deren Mittelpunkt der freie Bürger und die mündige Bürgerin steht, und eine traditionell-autoritäre, in der Staat und Kirche über Leben und Tod des Einzelnen zu entscheiden haben.

In der Schweiz, sagte vor einiger Zeit der Gründer der Schweizer Sterbehilfe-Organisation Dignitas, Ludwig Minelli, ist alles erlaubt, was nicht verboten ist. In Österreich ist alles verboten, was nicht erlaubt ist. In der Sterbehilfefrage sind die Argumente für und wider längst bekannt. Das Leben ist unter allen Umständen zu schützen, sagen die Kirchenvertreter. Palliativmedizin und Verzicht auf Behandlung im allerletzten Lebensabschnitt können Leiden lindern und sind auch jetzt schon möglich, sagen Ärzte.

Transparente der „Österreichischen Gesellschaft für ein humanes Lebensende“ (ÖGHL) vor Beginn einer öffentlichen Verhandlung des Verfassungsgerichtshofes (VFGH) zum Verbot der Sterbehilfe.
Foto: APA/HERBERT NEUBAUER

Und würde eine Liberalisierung der Sterbehilfe nicht Alte und Kranke unter Druck setzen? Einen „Dammbruch“ auslösen? Würde aus „Sterbendürfen“ ein „Sterbenmüssen“ werden? Kann man Missbrauch verhindern?

Vor dem Verfassungsgerichtshof sagte auch die als Auskunftsperson geladene Ärztin und Neurologin Nikola Göttling aus. Sie ist an multipler Sklerose erkrankt und sitzt im Rollstuhl. Sie könne ihre Beine nicht mehr bewegen, sagte sie, und sie wisse, dass sehr bald auch ihre Arme gelähmt sein würden. „Dann bin ich ein Pflegefall und muss gewickelt und gefüttert werden. Das ist entwürdigend.“ Lieber wolle sie zu gegebener Zeit auf zivilisierte und würdige Weise sterben dürfen. Da wirkten die philosophischen Argumente zur Sterbehilfe auf einmal seltsam blass und akademisch.

Historische Entscheidung

Beihilfe zum Suizid ist derzeit in Kanada, in der Schweiz, in den Niederlanden, Belgien und Luxemburg und seit kurzem auch in Deutschland erlaubt. Die Entscheidung des deutschen Verfassungsgerichts wurde damals als „historisch“ bezeichnet. Als sie verkündet wurde, gab es Applaus im Saal. Die Deutschen sind noch weniger restriktiv als die Schweizer. Nicht nur schwere Krankheit wird als Begründung für assistierten Suizid akzeptiert, sondern auch andere Gründe.

Passend zur laufenden Diskussion ist in diesen Wochen auch das Theaterstück „Gott“ des bekannten deutschen Autors und Juristen Ferdinand von Schirach erschienen, das eine Diskussion des Deutschen Ethikrates über Sterbehilfe zum Thema hat. Zum Urteil darüber ist, wie schon in einem anderen Schirach-Buch über Terror, das Publikum aufgerufen. In Umfragen hat die deutsche Öffentlichkeit ihr Urteil schon gesprochen: Sie stimmte mit überwältigender Mehrheit für Ja. Das österreichische Verfassungsgericht will in den kommenden Wochen über das Für und Wider beraten.

In der jüngeren Vergangenheit hat dieses Höchstgericht zwei Entscheidungen getroffen, die im Gegensatz zu konservativen und kirchlichen Meinungen standen. Das Recht auf Abtreibung und das Recht auf Ehen zwischen Homosexuellen wurden festgeschrieben. Jetzt geht es um ein verwandtes Thema. Man kann davon ausgehen, dass sich die Höchstrichter die Entscheidung nicht leichtmachen werden. (Barbara Coudenhove-Kalergi, 1.10.2020)

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