Dies & Das: «Änderungen des Meeresspiegels wirken sich auf Handelswege aus – etwa auf Häfen und die Schifffahrt»

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Interview

Sven Titz

25.09.2019

«Änderungen des Meeresspiegels wirken sich auf Handelswege aus – etwa auf Häfen und die Schifffahrt»

Vom Schmelzen des Permafrosts sei die Schweiz ähnlich wie viele andere Länder betroffen, sagt Nicolas Gruber von der ETH Zürich im Gespräch. Er ist einer der Autoren des neuen Klima-Sonderberichts zu Meeren und Eis, den der Uno-Klimarat an diesem Mittwoch vorstellt.

Herr Gruber, im vergangenen Jahr gab es einen Sonderbericht des Uno-Klimarats (IPCC) zum 1,5-Grad-Ziel, vor einem Monat einen zur Landoberfläche. Jetzt kommt wieder einer, diesmal zum Meer und zum Eis. Warum nun dieser Bericht?

Der IPCC will – neben dem normalen Zyklus der grossen Sachstandsberichte, die alle fünf bis sechs Jahre erscheinen – bestimmte Themen fokussiert angehen. Mit den Sonderberichten soll die klassische Struktur der drei IPCC-Arbeitsgruppen durchbrochen werden: Normalerweise würde die Arbeitsgruppe I die Veränderungen der Ozeane auf naturwissenschaftliche Aspekte hin untersuchen, die Arbeitsgruppe II sich auf die Folgen für Ökosysteme und den Menschen fokussieren und die Arbeitsgruppe III Perspektiven auf den Klimaschutz, die Ökonomie und die Wirtschaftsentwicklung liefern. Das ist gut für Details, aber man verliert den Gesamtüberblick.

Sonderberichte betrachten das ganze System. Ozean und Kryosphäre sind zwei Elemente im Gesamtklimasystem, die bisher nicht die Prominenz besassen, die sie verdienen.

Nicolas Gruber ist Professor im Departement Umweltsystemwissenschaften an der ETH Zürich und einer der Autoren des neuen IPCC-Sonderberichts. (Bild: ETH Zürich)

Was an dem Spezialbericht ist wichtig und neu – vor allem im Vergleich mit den letzten Berichten des Uno-Klimarats?

Das ist immer eine persönliche Einschätzung. Ich würde zwei Punkte in den Vordergrund stellen. Der erste ist die Veränderung des Meeresspiegels. Diese haben wir im Vergleich zum letzten Sachstandsbericht revidiert, und zwar in Richtung eines grösseren Anstiegs. Wir hatten früher Mühe, zu sagen, wie gross der Beitrag der polaren Eisschilde ist. In den ersten Berichten war nur der Anstieg enthalten, der durch die Wärmeaufnahme der Ozeane zustande kommt. Diesen Beitrag können wir relativ präzise bestimmen. Aber wie gross ist der Beitrag von Gletschern, von Änderungen des Grundwasserspiegels an Land und der Beitrag von Grönland und der Antarktis?

Diesmal haben wir zum ersten Mal das Abschmelzen des antarktischen Eisschilds explizit in unsere Abschätzung hineingenommen. Im Wesentlichen ist nun der Meeresspiegelanstieg für das Szenario mit den höchsten Treibhausgaskonzentrationen («RCP8.5») am Ende des 21. Jahrhunderts 10 Zentimeter höher als zuvor und erreicht mehr als 80 Zentimeter über dem heutigen Stand. Für die tiefen Szenarien ist der Unterschied nicht so relevant.

Der zweite Punkt ist, dass wir zum ersten Mal die Rolle von Extremereignissen für die Ozeane und die Kryosphäre begutachtet haben. Dem haben wir ein ganzes Kapitel gewidmet, mit ein paar wirklich spannenden Dingen – marinen Hitzewellen zum Beispiel, aber auch Extremereignissen des Meeresspiegels.

Mit Extremereignissen des Meeresspiegels meinen Sie kurzfristige regionale Abweichungen vom globalen Anstieg, richtig?

Genau. Äusserst relevant sind die Sturmfluten. Extreme Pegelanstiege des Meeresspiegels sind wahrscheinlich bedeutsamer als der mittlere Anstieg. Wir erläutern jetzt im Bericht, was das für das Gefahrenpotenzial bedeutet, etwa für niedrig gelegene Inselstaaten. Steigt der mittlere Meeresspiegel zum Beispiel um 50 Zentimeter, können die Extreme gegenüber dem heutigen Niveau um 75 Zentimeter höher werden oder kurzzeitig noch höher ausfallen. So kann etwas, das sonst – im globalen Mittel – erst 2090 eintritt, schon 2060 passieren. Extremereignisse führen uns somit vor, was die Zukunft bringen wird. Zudem können gehäuft auftretende Extreme bewirken, dass die Grenzen der Anpassungsfähigkeit überschritten werden.

Für niedrig gelegene Inselstaaten kann das verheerende Folgen haben, zum Beispiel für die Wasserversorgung. Viele dieser Inseln beziehen ihr Wasser aus Grundwasser, das aus den Niederschlägen kommt und den Boden infiltriert. Bei einem extremen Pegelhochstand kann das Meer die Insel überfluten und das Grundwasser versalzen.

Das können die Leute nicht mehr nutzen, bis genügend Zeit vergangen ist, in der das Niederschlagswasser das salzige Wasser aus dem Grundwasserleiter ausgeschwemmt hat. Kommen Pegelhochstände zu häufig vor, versalzt das Grundwasser, und es geht nichts mehr. Klar: Man kann im grossen Stil Entsalzungsanlagen installieren, um Trinkwasser herzustellen. Aber das ist sehr teuer, und viele Länder können sich das nicht leisten.

Was verstehen Sie unter marinen Hitzewellen, die Sie auch erwähnten?

Hitzewellen im Ozean sind das Pendant zu den uns bekannten Hitzewellen auf dem Land. Wir zeigen im Bericht auf, dass diese marinen Hitzewellen in den letzten Jahrzehnten häufiger geworden sind und dass ihre Intensität stark zugenommen hat, mit teilweise verheerenden Folgen für marine Ökosysteme. Insbesondere Korallenriffe sind stark in Mitleidenschaft gezogen worden. Das – zusammen mit der Versauerung des Meerwassers – hat uns dazu bewogen, dass wir dieses ikonische Ökosystem schon bei der jetzigen Ozeanerwärmung von weniger als einem Grad Celsius als äusserst verletzlich beurteilen.

Wie werden sich denn gemäss dem neuen Bericht die Veränderungen in den Ozeanen und im Permafrost auf die Speicherung oder Freisetzung der Treibhausgase CO2 und Methan auswirken?

Dazu haben wir relativ wenig gesagt, da wir keine neuen Simulationen zur Verfügung haben, die über den letzten Sachstandsbericht hinausgehen würden. Die Fähigkeit der Ozeane, CO2 zu speichern, wird jedenfalls abnehmen. Was den Permafrost angeht, so gibt es ein signifikantes Risiko, dass substanzielle Mengen von Methan herauskommen, wie jetzt schon an ein paar Orten beobachtet wird. Wie viel und wie schnell, dazu hat es im Vergleich zum letzten Zustandsbericht keinen grossen Durchbruch gegeben.

Mit dem Klimawandel in den Bergen ändert sich die saisonale Verteilung von Schneeschmelze, Niederschlägen und Abflüssen durch Gletscherschmelze. Das wird sich auch auf die Erzeugung von Strom aus Wasserkraft auswirken – im Bild die Staumauer Grande Dixence nahe Sion. (Bild: Denis Balibouse / Reuters)

Welche Resultate in dem Bericht sind besonders für die Schweiz relevant?

Die wichtigsten Themen für die Schweiz sind die direkten Veränderungen wie der Gletscherrückgang und das Schmelzen des Permafrosts. Dadurch entsteht eine gewisse Verletzlichkeit, die auch global zu sehen ist. Mit dem Abschmelzen des Permafrosts haben wir Rutschungen, Instabilitäten in Hanglagen und so weiter. Die Schweiz ist eines von vielen Ländern, die davon betroffen sind. Wir müssen uns hier in Bezug auf den Schutz gewaltig anstrengen, aber das kann auch für die Entwicklungshilfe oder für Firmen wichtig werden: Das Know-how kann dann anderswo gebraucht werden.

In der Schweiz schmelzen die Gletscher

1850

(Bild: Auf Datenbasis von Glamos) NZZ / brt., mjk.

2010

(Bild: Auf Datenbasis von Glamos) NZZ / brt., mjk.

Und was sind die indirekten Folgen für die Schweiz?

Änderungen des Meeresspiegels wirken sich auf Handelswege aus – etwa auf Häfen und die Schifffahrt. Andere Folgen betreffen die Ökosystemdienstleistungen, welche die Ozeane und die polaren Gebiete liefern. Sie sind zum Beispiel für die Fischerei relevant.

Auch wird der Klimawandel dazu führen, dass es Gebiete geben wird, in denen man nicht mehr leben kann – Stichwort Klimaflüchtlinge. Direkt oder indirekt wird das Auswirkungen auf die Schweiz haben. Es ist nicht möglich, genaue Aussagen darüber zu machen, wie viele Leute zu Klimaflüchtlingen werden könnten. Aber wir zeigen im Bericht auf, dass mehrere hundert Millionen Menschen allein vom Meeresspiegelanstieg betroffen sein werden, da sie weniger als zehn Meter über dem Meeresspiegel wohnen.

Viele Änderungen sind sehr langfristig, etwa beim Meeresspiegel. In einem Szenario mit äusserst hohen Emissionen – ganz ohne Klimaschutz – haben wir bis ins Jahr 2500 einen Meeresspiegelanstieg um mehrere Meter. Selbst in Szenarien mit Klimaschutz klettert der Pegel bis dahin um mehr als einen Meter. Kulturelle Güter und Bauten, die teilweise schon Jahrtausende alt sind, werden aufgrund des menschengemachten Klimawandels unter Wasser verschwinden. Das löst bei mir schon ein starkes Gefühl aus. Das kann man nicht wirklich wissenschaftlich erfassen, das ist der Bauch.

In den letzten Monaten haben die Klimajugend und die Fridays-for-Future-Demonstrationen die Gesellschaft stark auf das Klimathema eingeschworen, mit einer grossen Breitenwirkung. Freut Sie das? Oder fürchten Sie, der Wissenschaft werde die Deutungshoheit genommen?

Bezüglich der Deutungshoheit sehe ich die Wissenschaft in keiner Weise unterminiert. Das Erstaunliche an der Klimabewegung ist, wie stark sie sich auf die wissenschaftlichen Fakten bezieht.

Auf die erste Frage kann ich nur als Bürger antworten. Wenn es um die politische Aktion geht, so darf die Wissenschaft ja gar nicht die Deutungshoheit haben. Die Politik ist Aufgabe der Bürgerinnen und Bürger. Ich persönlich befürworte die Aktivitäten der Klimajugend ungemein. Es ist fast ein bisschen beschämend für unsere Generation, dass wir es nie geschafft haben, das Thema so weit ins politische Zentrum zu bringen. Die Saat war allerdings da: Die Wissenschaft hat über Jahrzehnte die Basis gelegt.

Alle müssen nun am gleichen Strick ziehen, denn die Herausforderung ist einfach enorm. Wir müssen unsere gesamte Gesellschaft innerhalb der nächsten Jahrzehnte den fossilen Energieträgern entwöhnen, das heisst dekarbonisieren. Das wird das Meisterstück des 21. Jahrhunderts sein.

(Illustration: Anja Lemcke)