- Skandalprozess in London: Dramatischer Kampf um das Leben von Julian Assange
- „Sie töten ihn langsam“
- Schikanen für Verteidiger und Prozessbeobachter
- Pläne der Amerikaner, Assange zu vergiften
- Ein warnendes Beispiel für uns alle
- Das Schweigen der Politik
- Framing
- Die Trump-Putin-Wikileaks-Verschwörungstheorie
- Unbequeme Wahrheiten
- Widerstand
Skandalprozess in London: Dramatischer Kampf um das Leben von Julian Assange
Der STANDARD-Kolumnist Hans Rauscher irrt leider, wenn er zwar einräumt, dass es bei dem Fall Julian Assange skandalöse Vorgänge gebe, gleichzeitig aber in dem Australier kein Symbol einer bedrohten Pressefreiheit sehen will.
Wenn er so schreibt, ist ihm die politische Tragweite der Ereignisse offenbar nicht bewusst. Tatsächlich muss jeder, dem nur irgendwie an einem unabhängigen und kritischen Journalismus gelegen ist, alles daransetzen, dass Assange enthaftet wird. Andernfalls ist die freie westliche Welt Geschichte.
Den USA geht es darum, und das spricht der ehemalige CIA-Direktor Leon Panetta sogar ganz ungeniert mit diesen Worten aus, ein Exempel zu statuieren. Wird Assange an die Vereinigten Staaten ausgeliefert, so wird das geschaffen, was man in der Sprache der Justiz einen Präzedenzfall nennt. Das heißt, dass dann mit jedem investigativen Journalisten, der beispielsweise Recherchen über Kriegsverbrechen durch Angehörige der US-Armee anstellt und die Ergebnisse an die Öffentlichkeit bringen will, theoretisch genau dasselbe gemacht werden kann wie jetzt mit Assange.
Und was mit diesem gemacht wird, ist so schrecklich, dass es schier unglaublich ist, dass so etwas in einem zivilisierten Land der westlichen Welt möglich ist, das bis vor kurzem immerhin noch der Europäischen Union angehört hat: nämlich Großbritannien.
„Sie töten ihn langsam“
Zur Erinnerung: Assange befindet sich immer noch – also mittlerweile seit insgesamt 19 Monaten – im Londoner Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh, dem „britischen Guantanamo“, wie manche es nennen, in dem ansonsten nur supergefährliche Mörder sowie Terroristen verwahrt werden.
23 Stunden am Tag befindet er sich in vollständiger Isolation. „Weiße Folter“ nennt man das unter Menschenrechtsexperten. Jeden Morgen um 5 Uhr wird er geweckt, mit Handschellen gefesselt, in eine Arrestzelle gesteckt, nackt ausgezogen und einer Röntgenuntersuchung unterzogen. Besuch darf er nur einmal im Monat für 40 Minuten empfangen. Für das Telefonieren steht ihm ebenso bloß ein äußerst beschränktes Zeitkontingent zur Verfügung.
Der Kontakt zu seinen Anwälten wird dem Australier fast vollständig verwehrt, er kann sich nicht mit ihnen beraten. Er kann seine Verteidigung nicht ordentlich vorbereiten, und nach einem Jahr in Haft hat er zwar wenigstens endlich einen Computer erhalten, aber ohne Internetzugang. Nicht einmal die Tasten kann er bedienen, weil sie festgeklebt sind, um ihn daran zu hindern, etwas zu schreiben.
Während der Verhandlung, zu der er durch einen unterirdischen Gang gebracht wird, sitzt er in einem Panzerglaskasten im hintersten Teil des Gerichtsaals, abgeschirmt auch von seinen Verteidigern, mit denen er, falls überhaupt, nur durch einen Schlitz reden kann. Ohnehin gehandicapt durch die schwerwiegenden psychologischen Auswirkungen der weißen Folter, tut er sich dabei auch aufgrund der schlechten Akustik schwer, dem Verfahren zu folgen.
Eine Anzahl von Ärzten und Psychiatern fürchtet um sein Leben, sei es aufgrund seines angeschlagenen Gesundheitszustandes, sei es, dass er dem psychischen Druck nicht mehr standhalten und Selbstmord begehen könnte. Dem Gericht ist dies gleichgültig.
„Sie töten ihn langsam“, kommentiert der Philosoph Slavoj Žižek das Geschehen.
Diese Behandlung gilt aber einem Mann, dessen einziges Verbrechen auf britischem Boden – man kann es nicht oft genug wiederholen – darin besteht, gegen Kautionsauflagen verstoßen zu haben. Das ist ein Vergehen, für das es in Großbritannien üblicherweise gar keine Haftstrafe gibt. Assange hingegen wurde dafür zu 50 Wochen Gefängnis verurteilt. Mittlerweile wird seine Inhaftierung damit begründet, dass er sich dem Auslieferungsverfahren entziehen könnte. Der ursprüngliche Anlass seiner juristischen Verfolgung aber spielt auf einmal gar keine Rolle mehr. Es handelt sich um ein, wie sich inzwischen herausgestellt hat, von den schwedischen Behörden fingiertes Sexualdelikt. Nun ist offenbar, dass es von Anfang an nur ein Vorwand gewesen war, um seiner habhaft zu werden.
Nichts von alledem rechtfertigt aber eine Verwahrung unter den geschilderten Bedingungen. Das in mehrfacher Hinsicht vollkommen willkürliche Vorgehen der britischen Justiz spottet allen Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit, wie auch der Schweizer Rechtswissenschafts-professor und UN-Sonderbeauftragte für Folter, Nils Melzer, immer wieder betont. Er hat den Fall gründlicher recherchiert als irgendjemand anderer.
Schikanen für Verteidiger und Prozessbeobachter
Hinzu kommt, dass der Prozess in „Old Bailey“, dem Zentralen Strafgerichtshof der englischen Hauptstadt, praktisch unter Ausschluss der Öffentlichkeit geführt wird. Nicht einmal die großen Medienhäuser und NGOs haben so ohne weiteres die Möglichkeit, das Verfahren direkt zu beobachten. Das ist mit ein Grund dafür, dass nur sehr wenig von dem, was dort geschieht, nach außen dringt. Schon im vergangenen Februar war es schwierig, einen Zugang zur Besuchertribüne zu erlangen, da dort nur 18 Plätze zur Verfügung gestellt wurden. Diese Anzahl wurde während der Anfang Oktober zu Ende gegangenen vierwöchigen Anhörungsphase noch einmal drastisch reduziert, zuerst auf vier und schließlich überhaupt auf bloß noch zwei, zuzüglich zu den fünf Plätzen für Angehörige von Assange.
Ursprünglich hätte es zwar darüber hinaus einen Videostream für Vertreter von Amnesty International, Reporter ohne Grenzen, PEN und andere Nichtregierungsorganisationen geben sollen. Allerdings wurde ihnen plötzlich unter fadenscheinigen Begründungen von der Richterin Vanessa Baraitser der Zugang dafür entzogen.
Erschwerend für die Verteidigung kam im Herbst dazu, dass die US-Kläger vom Gericht die Möglichkeit bekamen, die Anklage kurzfristig vollkommen umzustrukturieren. Den Anwälten Assanges aber wurde gerade 30 Minuten gegeben wurde, sich auf die neuen Fragestellungen vorzubereiten. Eine Vertagung wurde abgelehnt.
Der vor dem langen Arm der USA nach Russland entflohene Whistleblower Edward Snowden, der das Geschehen, so gut er kann, aus der Ferne verfolgt, verglich diese Vorgänge mit dem, was man sonst nur von Kafka kenne. Christian Mihr wiederum, der Geschäftsführer von Reporter ohne Grenzen in Deutschland, spricht davon, dass bei dem Verfahren nicht einmal versucht werde, den Anschein von Fairness und Transparenz zu wahren.
Sowieso stellt sich die Frage, wie es überhaupt dazu kommen kann, dass die amerikanische Justiz einen Mann für sich beansprucht, der nicht einmal amerikanischer Staatsbürger ist und der keines seiner angeblichen Vergehen auf amerikanischem Boden begangen hat. Überdies ist im englischen Recht eine Auslieferung für das hier kunstreich unterschobene Delikt, nämlich Spionage, eigentlich ausgeschlossen. Darum ist der ganze Prozess ohnehin nur mit Hilfe sehr verwinkelter juristischer Schachzüge möglich.
Man erkennt an diesen Punkt aber vielleicht auch die ungeheure Gefahr, die von einer Auslieferung Assanges an die USA ausgeht. In der Folge könnte mit jeder anderen Person theoretisch genau dasselbe wie mit ihm gemacht werden. Und das weltweit, gleich, wo auf dem Planeten sich dieser Mensch gerade befindet, und ganz unabhängig davon, welche Staatsbürgerschaft er hat. Es reicht, dass man seiner habhaft wird und man ihm irgendeines der betreffenden Delikte ebenso kunstreich unterschieben kann. Die Folge wäre eine ungeheure Ausweitung der Machtsphäre der amerikanischen Regierung und ihrer Geheimdienste. Die USA überwachen alles, gleichzeitig aber dürfen sie von niemandem mehr kontrolliert werden.
In diese Diagnose fügt sich, dass die Vereinigten Staaten ohnehin schon seit Jahrzehnten alles tun, um die Berichterstattung über ihre militärischen Aktivitäten ihren Wünschen zu unterwerfen (Stichwort „embedded journalism“). Man hat aus den Erfahrungen des Vietnamkriegs gelernt, über den zu viel Grauenhaftes an die Öffentlichkeit gelangte. Parallel dazu gibt es anhaltende Bestrebungen, sich der Internationalen Justiz zu entziehen. Erst im September hat Außenminister Mike Pompeo Sanktionen gegen die Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofs, Fatou Bensouda, verhängt. Der Grund: Sie wagte es, US-Kriegsverbrechen in Afghanistan zum Thema ihrer Untersuchungen zu machen.
Pläne der Amerikaner, Assange zu vergiften
Es gibt also ganz allgemein enorme Bestrebungen der Vereinigten Staaten, das internationale Recht entweder zu ignorieren oder es den eigenen Wünschen entsprechend umzuformen und zu unterwerfen. Vor diesem Hintergrund wird leichter verständlich, dass auch im Falle Assanges die USA und ihre Brudernation, England, sich nicht von irgendwelchen kleinlichen rechtstheoretischen Bedenken bremsen lassen. Stattdessen wird das Recht so gebeugt und umgedeutet, wie man es braucht.
Tatsächlich kümmert man sich hier um Recht oder um Rechtsstaatlichkeit schon lange nicht mehr. Wenn man glaubt, es gehe bei dem Verfahren gegen den Wikileaks-Gründer darum, ihn dem Recht oder der Gerechtigkeit zuzuführen, hat man etwas gründlich missverstanden. Das Recht ist hier offensichtlich nur mehr Fassade zum Zwecke ungenierter, blanker Macht- und Gewaltausübung.
Keinesfalls darf man die Skrupellosigkeit, die hier am Werke ist, unterschätzen. Ist doch in den vergangenen Wochen bei der Anhörung der von der Verteidigung aufgerufenen Zeugen zutage getreten, dass die US-Geheimdienste ernsthaft erwogen haben, Assange während seines Aufenthalts in der ecuadorianischen Botschaft nicht nur zu kidnappen, sondern auch vergiften zu lassen. Den Weg in das Gebäude fanden die Amerikaner über die eigentlich von der Regierung des lateinamerikanischen Landes beauftragte spanische Sicherheitsfirma UC Global. Deren Chef, David Morales, war bei einem Aufenthalt in Las Vegas kontaktiert worden. Daraufhin hatten Mitarbeiter des Unternehmens die bereits installierte Überwachungstechnik durch Kameras mit versteckten Mikrofonen ersetzt und zusätzlich Wanzen installiert.
Nicht nur hat man bei persönlichen Gesprächen Assanges mit seinen Besuchen, mit seinen Anwälten, Ärzten und Vertretern von Medien sowie NGOs, stets mitgehört. Ebenso ist man in die privaten Räume des Australiers eingebrochen. Und es wurde sogar versucht, einen Angestellten der Firma dazu anzustiften, die Windel oder den Schnuller eines Babys zu stehlen, um mit Hilfe eines DNA-Tests Gewissheit über die Vaterschaft zu bekommen. Selbst die Kinder des Wikileaks-Gründers hat man also nicht in Ruhe lassen wollen. Mittlerweile ist ein spanisches Gericht mit all dem befasst.
Wird aber Assange an die USA tatsächlich ausgeliefert, so drohen ihm 175 Jahre Haft im ADX Florence, dem berüchtigten Supermax-Gefängnis im US-Bundesstaat Colorado. Dabei handelt es sich um eines der schlimmsten Gefängnissysteme überhaupt auf der Welt. Der Aufenthalt darin kann nach Auffassung von Menschenrechtskommissionen fortwährender Folter gleichgesetzt werden.
Ein warnendes Beispiel für uns alle
Man versteht diesen drakonischen Umgang mit Assange vollkommen falsch, wenn man glaubt, es ginge hier bloß um sein persönliches Schicksal. Das Ziel der amerikanischen Regierungsvertreter ist global. Was mit Assange gemacht wird, ist gedacht als eine grelle Warnung der Supermacht an die ganze Welt, an uns alle: Demnächst, so sagt uns sein Beispiel, kann genau dasselbe dir oder mir geschehen, falls wir uns nicht gut benehmen, falls wir etwas verbreiten, was nach Auffassung der USA nicht an die Öffentlichkeit gehört.
Melzer durchschaut das mit Scharfsinn: „Die Botschaft der USA ist folgende: ‚Wenn du das tust, was Assange getan hat, dann wirst du nie mehr freikommen, du wirst niemals wieder imstande sein, deinen Mund aufzumachen und zu der Öffentlichkeit zu sprechen.‘“
Das sei, so fährt Melzer fort, auch der Grund, warum die Vertreter der amerikanischen Regierung es mit der Auslieferung des Australiers nicht so eilig hätten. Es gehe ihnen gar nicht darum, Assange dem Recht zuzuführen. Es macht ihnen daher auch nichts aus, wenn er in Belmarsh stirbt, Selbstmord begeht oder sich das Verfahren schlicht so sehr in die Länge zieht, dass er hinter Gittern verrottet, ohne je verurteilt worden zu sein. Hauptsache, er ist zum Schweigen gebracht und man weiß, dass er ein schreckliches Schicksal erlitten hat für das, was er getan hat.
Und die Warnung ist möglicherweise bereits angekommen. So liegt es vielleicht nicht bloß an der üblichen Identifikation west- und mitteleuropäischer Massenmedien mit den USA begründet, dass sie nur sehr zurückhaltend über die ungeheuerlichen Umstände dieses Prozesses berichten, anstatt sich darüber ebenso lautstark zu empören wie etwa über die Vergiftung des russischen Oppositionellen Alexei Nawalny.
Dabei haben fünf große Leitmedien früher einmal eng mit Assange und Wikileaks zusammengearbeitet und waren durchaus Nutznießer seiner Arbeit, bevor die Jagd auf ihn begann. Nun treten sie leise auf: Der britische „Guardian“, der französische „Le Monde“, der deutsche „Spiegel“, das spanische Blatt „El País“ und die „New York Times“.
Das Schweigen der Politik
Aber auch die europäischen Politiker haben beschlossen, über diesen Fall nicht mehr allzu viele Worte zu verlieren. Am liebsten möchten sie ihn ganz aus ihrem Gedächtnis zu streichen. Melzer schildert, wie er gegen Mauern rennt, wenn er versucht, die Aufmerksamkeit auf die schweren Menschenrechtsverletzungen im Fall Assange zu lenken. Mitglieder des deutschen Außenamts ziehen sich in ihren Statements mantraartig auf den Standpunkt zurück, es handle sich um eine innere Angelegenheit Großbritanniens. Man sehe keinen Grund, an der Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens zu zweifeln.
Und das, obwohl es Belege dafür gibt, dass das deutsche Außenministerium in Wahrheit bestens über den Prozess in London informiert wird und auch über das Ausmaß der Menschenrechtsverletzungen sehr genau Bescheid weiß.
Melzer: „Dieser Typus ausweichenden Verhaltens ist ziemlich charakteristisch für das, was ich überall mit dem politischen Establishment erlebe. Man fühlt sich so unwohl mit der Wahrheit über das Verfahren und die Folgen für die Rechtstaatlichkeit, dass man nur möchte, dass der Fall irgendwie so schnell und leise wie möglich vorübergeht.“
Man muss aber auch zugeben, dass es einiges an Mut, Charakterstärke und Idealismus abverlangt, hier deutlicher Stellung zu beziehen. Denn das hat Folgen. Die Anwälte von Assange wissen, dass sie sich für den Rest ihres Lebens unter ständiger Überwachung des amerikanischen Geheimdienstes befinden werden. Melzer wiederum ist sich darüber im Klaren, dass seine Tage als UN-Sonderbeauftragter gezählt sind.
Framing
Zu der Situation trägt auch bei, dass es der USA und den mit ihnen Verbündeten gelungen ist, ein sogenanntes Framing in der öffentlichen Meinung zu installieren. Das heißt, die Diffamierungsstrategien haben durchgeschlagen. Einmal in die Welt gesetzte Narrative sind kaum mehr aus den Köpfen der Menschen zu bekommen, und das, obwohl sie mittlerweile durch gründliche Recherchen widerlegt oder zumindest entkräftet worden sind.
Kübel von Schmutz sind über Assange gegossen worden, man hat aus ihm ein wahres Monster fabriziert. Immer noch hat jeder, der sich für Assange einsetzt, damit zu kämpfen, dass ihm alsbald vorgehalten wird, der Australier sei doch ein Vergewaltiger, ein geltungssüchtiger Narzisst, ein undankbarer Rabauke, der sich in der ecuadorianischen Botschaft nicht gut benommen habe, und obendrein ein übler Spion, der sich auf die Seite Trumps und Putins gestellt habe, kein seriöser Journalist, ja, überhaupt kein Journalist. Eher schon so eine Art Terrorist, den man einfach ohne Gerichtsverfahren erschießen sollte. Notorisch erhält sich vor allem die Behauptung am Leben, er habe Geheimdokumente einfach so komplett ins Netz gestellt, ohne Rücksicht darauf, dass durch die Veröffentlichung der Informationen andere in Gefahr gebracht werden könnten.
Dieses Framing hat so nachdrückliche Wirkung entfaltet, dass sogar Amnesty International davon beeinflusst wird und sich immer noch weigert, dem nachdrücklichen Aufruf Melzers und diverser Aktivisten zu folgen und Assange den Status eines „prisoners of conscience“ („POC“, wörtlich „Gewissensgefangener“) zuzuerkennen.
Dabei hat sich schon 2013 während des US-Verfahrens gegen Manning herausgestellt, dass nicht einmal dem Pentagon auch nur ein einziger Fall bekannt ist, in dem jemand durch die Wikileaks-Publikationen einen Schaden erlitten hätte. Ganz im Gegenteil: Assange hat mit höchster Vorsicht und Sorgfalt gearbeitet und alles getan, um Menschenleben zu schützen.
Während der Anhörung hat dies der Bieler Informatikprofessor Christian Grothoff noch einmal bestätigt. „Mit dem nötigen Fachwissen lässt sich alles Schritt für Schritt nachvollziehen“, erklärte er anschließend auch in einem Interview dem Schweizer Online-Magazin „Republik“. Assange sei „verantwortungsvoll mit den Daten umgegangen“.
Hingegen sei dafür, dass die Dokumente auf einmal ungeschwärzt im Netz zu zirkulieren anfingen, ein ehrgeiziger, aber schlampig arbeitender Journalist des „Guardian“ verantwortlich gewesen: David Leigh, der dem Australier zuerst ein wichtiges Passwort abschwatzte und dann so leichtsinnig gewesen sei, es ohne jede weitere Rücksprache mit Assange einige Monate später in einem Buch zu veröffentlichen.
So unglaublich sich das anhört: Es deckt sich mit den Aussagen eines ehemaligen Investigativjournalisten des „Spiegel“, John Goetz, der eng mit Assange zusammengearbeitet hat.
„Die Sensibilität war eines der Themen, über die geständig gesprochen wurde“, legt er dar. Das wirkliche Geschehen stimme einfach nicht überein mit der Erzählung, die seit zehn Jahren von den Vertretern der US-Regierung wiederholt werde.
In der sehenswerten ARD- Doku „Wikileaks – Die USA gegen Julian Assange“ vom 7. September 2020 bekräftigt auch Holger Stark, der Korrespondent für den „Spiegel“in Washington war, dass der Vorwurf, der Australier habe für seine Veröffentlichungen die Gefährdung von Menschenleben in Kauf genommen, schlicht nicht stimme.
Die Trump-Putin-Wikileaks-Verschwörungstheorie
Ähnliches ergaben die Recherchen des Publizisten Mathias Bröckers. Bald nach der Verhaftung des Australiers in der ecuadorianischen Botschaft am 11. April 2019 hat er beim Westend-Verlag ein kleines Büchlein veröffentlicht. Ich kann es jedem nur empfehlen kann, der ein Interesse an einer fundierten Einführung in die Geschichte von Wikileaks hat. Titel: „Don’t kill the messenger! Freiheit für Julian Assange“.
Bröckers räumt darin auch mit einigen anderen Mythen auf, wie zum Beispiel der Behauptung, Wikileaks hätte nie etwas Negatives über Putins Russland veröffentlicht. Tatsächlich hat die Plattform Hunderttausende von Dokumenten und Kommentare online gestellt, die ein kritisches Licht auf die russischen Verhältnisse geworfen haben.
Assange war also nie ein Vasall Putins. Nur einer Obamas halt auch nicht. Oder einer Clintons. Aber auch keiner Trumps. Die abenteuerlichen, an Verschwörungstheorien erinnernde Behauptungen, er habe 2016 bewusst Wahlhilfe für Trump geleistet, werden schon dadurch widerlegt, dass dieser nach seiner Ernennung zum Präsidenten nichts anderes zu tun hatte, als sofort die Aktion scharf gegen den Australier ausrufen und Anklage gegen ihn erheben zu lassen.
Assange war gegen Clinton, aber das heißt nicht, dass er jemals für Trump war. Das gleichzusetzen, heißt zwei grundlegend verschiedene Dinge miteinander zu verwechseln. Und wenn Rauscher sich über die Veröffentlichung der Clinton-Mails während des US-Wahlkampfs 2016 empört, so ist das aus seiner Perspektive zwar verständlich. Doch begibt er sich dabei selbst auf ein gefährliches Terrain. Als Journalist ist man der Wahrheit verpflichtet, auch dann, wenn ihre Enthüllung Unliebsames über jene Person zutage fördert, die man persönlich gerne als US-Präsidentin gesehen hätte. Die Veröffentlichung der Clinton-Mails war natürlich richtig.
Unbequeme Wahrheiten
Fassen wir die simplen Tatsachen zusammen, ohne uns von all diesen Zwischenrufen verwirren zu lassen: Da hat jemand enthüllt, was die Mächtigen der Welt so alles auf dem Planeten treiben, viele Dinge, von denen man sonst nichts wüsste. Da hat jemand schwerste Kriegsverbrechen an die Öffentlichkeit gebracht. Hat etwa gezeigt, wie Angehörige der US-Armee einfach nur so zum Spaß vom Hubschrauber aus unbewaffnete Zivilisten mit dem Maschinengewehr niedermähen – um nur das bekannteste Beispiel zu nennen, das sogenannte „Colleteral-Murder“-Video. Paradoxerweise steckt dafür im Gefängnis und unter unmenschlichen Bedingungen verwahrt nun der Aufdecker, aber kein einziger von denen, die diese Verbrechen begangen haben.
Was uns andernfalls blüht, fasst Snowden in einem prägnanten Statement zusammen: „Wenn das Aufdecken von Verbrechen wie ein Verbrechen behandelt wird, werden wir von Verbrechern regiert.“
Bröckers fügt hinzu: „Am Ausgang des Verfahrens gegen Julian Assange wird sich entscheiden, inwieweit sie die Macht schon übernommen haben.“
Leider aber „scheinen nur wenige […] sich bewusst zu sein, dass mit seinem Fall unser aller Schicksal verhandelt wird.“ (Žižek)
Widerstand
Widerstand ist also angesagt. Die Liste prominenter Unterstützer von Assange ist lang: Vivienne Westwood, Slavoj Žižek, Roger Waters, Günter Wallraff, Yanis Varoufakis, Pamela Anderson, Oliver Stone, Ai Weiwei, um nur einige von ihnen zu nennen.
Was letzteren betrifft, so sollte es jedem Engländer zu denken geben, wenn die Sache so weit gediehen ist, dass ein chinesischer Dissident, der wahrlich wissen muss, was Menschenrechtsverletzung bedeutet, die Zeit dafür reif sieht, für die Menschenrechte eines Gefangenen des britischen Empire auf die Straße zu gehen.
Langer Atem ist dabei gefragt. Auch wenn das Urteil im Auslieferungsverfahren für den 4. Jänner 2021 anberaumt ist, wird dann die Sache noch lange nicht vorbei sein. Die Angelegenheit wird bis in die höchsten Instanzen und wahrscheinlich bis zum Europäischen Gerichtshof getragen werden. Das alles kann Jahre dauern. (Ortwin Rosner, 19.11.2020)
Dieser Beitrag stellt die überarbeitete und erweiterte Fassung eines zuvor bei „Telepolis“ erschienen Textes dar.
Das sagen die Anderen…