Dies & Das: Kann es ein Zentrum ohne Einkaufsstraße geben?

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Zukunft der Innenstadt

Jakob Pallinger

19. Dezember 2020

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Kann es ein Zentrum ohne Einkaufsstraße geben?

Die Einkaufsstraßen werden immer leerer – nicht erst seit der Pandemie. Wie sich unsere Innenstädte trotzdem, oder gerade deshalb, neu gestalten lassen

Vom Ende des Rummels sind viele Einkaufsstraßen noch weit entfernt, in der Krise stecken sie durch den wachsenden Onlinehandel aber allemal.
Foto: APA/GEORG HOCHMUTH

Stellen Sie sich vor, in Ihrer Stadt gäbe es in den Einkaufsstraßen keine Geschäfte mehr. Wien ohne Mariahilfer Straße und ohne Graben, Graz ohne Herrengasse oder Salzburg ohne Getreidegasse: Würden Sie noch in die Innenstadt gehen? Und was würden Sie dort tun?

Beliebte Shoppingmeilen sind wie Magnete, die Bewohner und Touristen anziehen. Orte, an denen es nicht ums Einkaufen für den täglichen Bedarf, sondern ums Flanieren, ums Bummeln, ums Zeitvertreiben oder Geschenkekaufen geht – letzteres gerade in der aktuellen Weihnachtszeit. Sie sind das Herzstück einer jeden Stadt. Schon für den Duden ist die Innenstadt jener Teil der Stadt, „durch den meist die Hauptgeschäftsstraßen führen“.

Aber schon seit Jahren zieht der Onlinehandel den Geschäften im Zentrum die Kunden ab. Und nun kommen auch noch die Corona-Pandemie und die Lockdown-bedingten Geschäftsschließungen hinzu. Laut Handelsverband könnten trotz Weihnachtsgeschäfts noch in diesem Jahr tausende Händler in die Insolvenz schlittern. Viele Unternehmer warnen bereits: Ohne Geschäfte stirbt die Innenstadt. Haben sie recht?

Zu viel Verkaufsfläche

Wiener Neustadt in der Vorweihnachtszeit: Paare, Familien oder Pensionisten schlendern durch die weihnachtlich dekorierte Einkaufsstraße, vorbei an den Bekleidungs-, Sport- und Elektronikgeschäften, die mit Sonderrabatten locken. Der Andrang ist überschaubar, viele Geschäfte sind nur mäßig besucht. Und immer wieder klafft zwischen den hell beleuchteten Schaufenstern ein dunkles Loch. Dort sind die Scheiben mit Vorhängen verdeckt oder geben den Blick in leere Räume frei. Es sieht aus, als habe jemand den Stecker gezogen.

„Wir haben schon seit Jahren zu viel Verkaufsfläche in Österreich“, sagt die Handelsexpertin Hania Bomba. Zuerst hätten die Einkaufszentren am Stadtrand die Innenstädte unter Druck gesetzt, nun habe sich durch Corona noch einmal der Trend zum Online-Einkaufen verstärkt. „Zurück bleiben Lücken, für die es keine Lösung gibt.“ Wie in Wiener Neustadt, wo seit Jahren die Innenstadt mit Einkaufszentren wie der Merkurcity am Stadtrand konkurriert. Zudem steht die Stadt im Schatten der Tourismushochburg Wien, die die meisten Passanten anzieht. Laut Handelsverband stehen 26 Prozent der Geschäfte in Wiener Neustadt leer.

Wiener Neustadt hat – wie viele andere Städte auch – mit Leerständen im Zentrum zu kämpfen. Diese bieten aber auch Möglichkeiten.
Foto: Jakob Pallinger

Leerstände als Potenzial

Stadtentwicklern sind Leerstände ein Dorn im Auge. Weil sie nicht schön aussehen und die Innenstädte immer unattraktiver machen. Aber Leerstände beinhalten auch Potenzial, sagt Hannes Lindner, Geschäftsführer der Beratungsfirma Standort und Markt. Denn sie können Platz schaffen für neue Wohnungen, Büros, Arztpraxen oder Betreuungseinrichtungen.

„Wir müssen uns von der Idee verabschieden, dass Geschäfte das Allheilmittel zur Belebung der Innenstädte sind“, sagt Lindner. Mindestens genauso wichtig seien leistbare Wohnungen, Ämter, Schulen und Kindergärten.

Konsumfreie Zonen

Aber genau diese Einrichtungen seien vom Handel in den letzten Jahrzehnten schrittweise aus den Innenstädten verdrängt worden, so Lindner. Es gebe immer weniger Platz, wodurch die Mieten teurer werden und sich nur mehr wenige das Wohnen im Zentrum leisten können. Stattdessen brauche es – neben einer „kritischen“ Menge an Shopflächen – wieder mehr „Begegnung ohne Geldbörsel“, also konsumfreie Zonen, in denen sich Autofahrer, Fußgänger und Radfahrer treffen können.

Ähnlich sieht es auch Gernot Stöglehner, Experte für Raumplanung an der Universität für Bodenkultur in Wien. Eine Innenstadt lebe von ihrer Vielfalt: Arbeitsplätze in der Stadt, Restaurants, Wohnungen, Büros und Coworking-Spaces. „Innenstädte müssen sich von den Einkaufszentren abheben und ihre Identität fördern. Es braucht andere Angebote als die, die es ohnehin schon in großen Einkaufsketten und online gibt“, sagt Stöglehner.

Was sich in der Theorie gut anhört, ist in der Praxis nicht immer leicht umzusetzen. Wie einen Ort beleben, in dem es kaum Touristen und Passanten gibt und der so klein ist, dass Arbeitsplätze und junge Menschen fehlen?

Kampf gegen die Abwanderung

Für Erich Biberich gehören diese Probleme zum Alltag. Der 59-Jährige ist „Kümmerer“, wie die Bewohner im Ort sagen, oder „Innenstadtentwickler“, wie es auf der Gemeindewebsite heißt. „Kümmern“ soll sich Biberich um Trofaiach, eine kleine Gemeinde in der Obersteiermark mit rund 11.000 Einwohnern, 15 Fahrminuten von Leoben entfernt. Biberich ist großgewachsen, hat kurze graue Haare und trägt eine rechteckige Brille. Wenn er einen Rundgang durch den Ort macht, nickt er den Bewohnern zu oder grüßt sie mit „Servus, griaß di“.

Erich Biberich hat noch viel vor in Trofaiach. Die Markierungen auf der Straße sollen schon einmal den Verkehr verlangsamen.
Foto: Jakob Pallinger

„Trofaiach war vor ein paar Jahren ziemlich tot“, sagt Biberich. Immer mehr Menschen zogen aus dem Ort weg, Geschäfte sperrten zu, die Innenstadt starb langsam aus. Was zurückblieb, waren düstere Schaufenster, abblätternde Betonwände und verwahrloste Aufschriften von Restaurants und Cafés.

Manche Gebäude stehen seit Jahren leer

Und auch heute noch ist der Leerstand kaum zu übersehen. Biberich führt durch die Hauptstraße des Orts, die auch als Durchfahrtstraße für Autofahrer dient und wo an diesem Montagvormittag nur wenige Passanten unterwegs sind. Er zeigt auf die einzelnen Gebäude, die sich an beiden Seiten der Straße aneinanderreihen. „Hier war das alte Café und Pub, hier der alte Secondhandladen, hier ein Reparaturgeschäft.“ Manche Gebäude stehen seit Jahren leer, für viele findet sich überhaupt kein Käufer.

Leerstände sehen nicht schön aus – und machen die Innenstadt unattraktiv. Für eine neue Nutzung braucht es Geld, Ideen, kooperative Eigentümer und nicht zuletzt interessierte Käufer.
Foto: Jakob Pallinger

Biberich soll das ändern, dafür hat ihn die Gemeinde vor fünf Jahren angestellt. Sie hat die Bürger eingeladen und Ideen gesammelt, wie die Innenstadt wieder belebt werden kann. Seither spricht Biberich mit den Bewohnern, trifft sich mit Architekten, Baumeistern, Studenten und Forschern und entwirft Konzepte für öffentliche Plätze, Gebäude und Straßen in Trofaiach.

Neue Initiativen

„Das Problem sind oft die Eigentümer“, sagt Biberich. Da die meisten Häuser im Ort in Privatbesitz sind, müssen diese einer Veränderung erst zustimmen. „Viele wollen ihr Haus auf ewig behalten, obwohl sie oft nicht mehr darin wohnen, oder verlangen viel zu hohe Mieten oder Verkaufspreise.“ Biberich trifft sich mit den Eigentümern, um sie zu einem Verkauf oder einer neuen Nutzung zu überreden, und versucht dann, sie mit möglichen Käufern zusammenzubringen.

Trofaiach war lange Abwanderungsgebiet. Neue Geschäfte und Anbindungen sollen dem Ort nun Auftrieb verschaffen.
Foto: Jakob Pallinger

Auf das bisherige Ergebnis ist Biberich stolz: In ein leeres Geschäft ist ein neuer Upcycling-Betrieb eingezogen – der Tandler, ein Sozialbetrieb, der alte Geräte aufbereitet und in dem auch Asylwerber und Menschen mit Behinderung arbeiten. Wo früher die leergeräumte Sparkasse war, ist jetzt die Musikschule. Das alte Bürogebäude der Firma Saubermacher ist jetzt ein teilweise gemeinsam genutzter Raum, den sich Ärzte, Anwälte und Psychotherapeuten teilen. Auf der Hauptstraße findet sich ein – auf den ersten Blick etwas seltsam anmutendes – weißes Muster, das Autofahrer dazu veranlassen soll, langsamer zu fahren. Die Geschwindigkeit ist auf 20 km/h begrenzt. „Das Auto wird in Zukunft nicht mehr im Mittelpunkt stehen, sondern die Fußgänger“, sagt Biberich.

Sozialer Austausch und Beratung

Er hat noch einiges vor: Geht es nach ihm, soll es im Ort bald auch einen zentralen Hauptplatz geben, mehr Fußgängerwege und vielleicht auch einen Coffee to Go, „um was Urbanes reinzubringen“. „Übrig bleiben werden Geschäfte, die sozial ausgerichtet sind, in denen sich die Menschen treffen können und wo sie beraten werden“, sagt er.

Es sind Geschäfte wie jenes der 57-jährigen Ingrid Eberl in Trofaiach, in denen Biberich die größte Zukunft sieht. Das Wollgeschäft ist ein Treffpunkt für Jung und Alt, sagt Eberl. Anstatt das Material zum gleichen Preis im Internet zu kaufen, würden viele vor allem wegen der Beratung kommen, so die Inhaberin.
Foto: Jakob Pallinger

Dass sich die Erfahrungen aus einem Ort nicht immer auf andere Orte übertragen lassen, weiß Biberich. „Der Bedarf ist in jeder Stadt anders.“ Und wohl nicht aus jeder Geschäftsfläche kann etwas Neues entstehen. „Wenn alternativ nicht Gastronomie, Dienstleistung, Logistik, Wohnen, Büro oder soziale Einrichtungen wie Kindergärten oder Bildungseinrichtungen Sinn machen, dann wird die Fläche wohl länger leer bleiben oder als mögliche Lösung so mancher Bestand mit der Abrissbirne seine Bekanntschaft machen“, sagt die Handelsexpertin Bomba.

Renaissance der Innenstädte

Standortforscher Hannes Lindner sieht das positiv: „Vielleicht erleben wir in zehn bis zwanzig Jahren eine Renaissance der Innenstädte, wo nicht nur die Geschäfte, sondern auch das Wohnen und alltägliche Leben wieder mehr ins Zentrum zurückkehren.“ Dafür brauche es eine stabile Stadtentwicklung, die in Jahrzehnten und nicht nur in wenigen Jahren plant. „Jetzt ist die Zeit, daran zu arbeiten.“ (Jakob Pallinger, 19.12.2020)

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