Kurz, der Kardinal und Lesbos
Die Ängste von Kurz und Co vor einem „Pull-Effekt“ sind krass übertrieben
Kardinal Christoph Schönborn appelliert zu Weihnachten an die österreichische Bundesregierung, besonders schutzbedürftige Flüchtlingsfamilien von Lesbos aufzunehmen. Man solle „das Klopfen der Herbergslosen nicht überhören“. Man solle 100 Familien mit kleinen Kindern aufnehmen.
Zuvor hatten zahlreiche Organisationen wie Amnesty International, Rotes Kreuz und Ärzte ohne Grenzen (MSF), das österreichische Forschernetzwerk, Politiker von SPÖ und Neos, darunter Bürgermeister Michael Ludwig, und Persönlichkeiten wie der Schauspieler Klaus Maria Brandauer oder Conny Bischofberger in der Krone ebenfalls an die Bundesregierung appelliert.
Dazu befragte zuletzt Armin Wolf Integrationsministerin Susanne Raab: „Also keine Kinder aus Lesbos?“ Die türkise Ministerin: „Dahingehend gibt es keine Änderung.“ Der entsprechende türkise Spin dazu, nahezu wortident auch von Innenminister Karl Nehammer: „Das Thema lässt uns nicht kalt“, aber: Österreich habe ohnehin schon so viel geleistet – Hilfe vor Ort in Gestalt von Zelten –, und man habe „nur in diesem Jahr“ 5000 unbegleitete Jugendliche aufgenommen. Man warne vor einer Destabilisierung durch den „Pull-Effekt“. Wenn man ein paar Kinder nimmt, kommen Hunderttausende nach.
Diese Message lässt sich auf ein längeres Video von Kanzler Sebastian Kurz vom 12. September anlässlich des Brandes im Lager Moria zurückführen: „Die Bilder lassen mich nicht kalt, Betroffenheit, aber wir können nicht alle aufnehmen, Hilfe vor Ort, allein in diesem Jahr 3700 unbegleitete Minderjährige aufgenommen, aber wozu führt das, wenn wir dem Druck nachgeben und Leute von den griechischen Inseln nehmen? Zu einem zweiten Jahr 2015.“ Das könne er mit seinem „Gewissen nicht vereinbaren“.
Innenpolitische Sorge
Polemisch könnte man nun sagen, Kurz und seine türkise Truppe könnten es mit ihrem Gewissen vereinbaren, dass in nicht winterfesten Lagern auf Samos und Lesbos ohne sanitäre Anlagen die Kinder in nasser Wäsche liegen und von Ratten angefressen werden (Bericht von Ärzte ohne Grenzen). Man könnte auch sagen, dass Österreich nicht 3700 oder 5000 unbegleitete Minderjährige neu aufgenommen hat, sondern ein Großteil sind längst in Österreich Lebende, deren Verfahren nun positiv abgeschlossen wurden.
Nimmt man nicht innenpolitische Sorge um den Absprung von rechten Wählern, sondern die sachlichen Argumente von Kurz und Co, dann muss man sagen: Das Risiko eines „Pull-Effekts“ ist nicht null. Aber es ist nicht sehr groß. Derzeit kommen kaum Flüchtlinge übers Meer auf die griechischen Inseln – und wenn, dann schleppen die Griechen die Boote ohnehin wieder zurück zur türkischen Küste. Zur Linderung der ärgsten Not kann man ein paar Hundert Menschen mit kleinen Kindern von Lesbos holen. Einige europäische Länder, vor allem Deutschland, tun das bereits. Falls im Frühjahr eine neue Flüchtlingswelle drohen sollte, hat man bis dahin Zeit, das Abkommen mit Recep Tayyip Erdoğan zu erneuern: Die EU zahlt die Türkei dafür, dass sie keine Boote von ihren Küsten weglässt. Erdoğan hat Millionen Flüchtlinge im Land, er braucht Geld, um das zu finanzieren.
Um es schlicht zu sagen: Die Ängste von Kurz und Co vor einem „Pull-Effekt“ sind krass übertrieben (ganz abgesehen davon, dass auch das Jahr 2015 nicht so apokalyptisch war). Die Sturheit von Kurz und seinen Leuten wirkt inzwischen irgendwie jenseitig. 100 Familien mit Kindern, das bringt Österreich nicht zum Einsturz. Türkis sollte auf den Kardinal hören.(Hans Rauscher, 18.12.2020)