Dies & Das: Europas Flüsse werden von mehr als einer Million Barrieren zerstückelt

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Alle 1,4 Kilometer

20.Dezember 2020

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Europas Flüsse werden von mehr als einer Million Barrieren zerstückelt

Unzählige Hindernisse wie Staudämme und Wehre unterbrechen die Flüssen Europas – mit den entsprechenden Folgen für die Ökosysteme

Die Krone der Vidraru-Talsperre in Rumänien liegt 166,60 Meter über der Gründungssohle. Der Fluss Argeș ist nach der Staumauer nicht mehr derselbe.
Foto: Jaromir Kavan

London – Europas Flüsse zählen zu den am stärksten zerstückelten der Welt. Im Durchschnitt trifft man auf unserem Kontinent etwa alle 1,4 Kilometer auf eine Barriere, in Deutschland sind es sogar zwei Hindernisse pro Kilometer. Das ist das Ergebnis einer aktuellen Studie im Fachblatt „Nature“. Diese Zahlen liegen damit deutlich höher, als Erhebungen in bestehenden Datenbanken vermuten ließen, berichtet ein Forscher-Team verschiedener Universitäten. Kleine Querbauwerke mit bis zu zwei Metern Aufstauhöhe machen dabei den Löwenanteil aus. Die Studie zeigt aber auch Lösungen auf, um die Durchgängigkeit vieler Bäche und Flüsse wiederherzustellen.

„Die Anzahl der im Feld festgestellten Hindernisse war im Durchschnitt 2,5-mal höher als in den vorhandenen Bestandsaufnahmen“, heißt es in der Analyse. In Deutschlands Flüssen und großen Bächen ist die Dichte mit 2,16 Hindernissen pro Kilometer demnach besonders hoch. Dort gab es laut Umweltbundesamt im Jahr 2015 rund 200.000 solcher Querbauwerke. Die aktuelle Analyse zählt hierzulande knapp 225.000.

Veränderte Strömungsverhältnisse

Intakte Fließgewässer erfüllen für ein Ökosystem zahlreiche Funktionen: Sie sind nicht nur Lebensraum für Tiere und Pflanzen, sondern auch Nahrungsquelle und Transportweg. Doch beispielsweise durch den Aufbau von Stauseen verändern sich Strömungsverhältnisse. Sedimente lagern sich ab und verschlammen den Lebensraum zahlreicher Arten.

„Schleusen und große Wasserkraftwerke sollten mit funktionierenden Fischpässen für beide Wanderrichtungen ausgestattet und kleine Wasserkraftwerke, die kaum zur Energiewende beitragen, zurückgebaut werden“, sagte Martin Pusch, Koautor der Studie und Forscher am Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei. So könne der Bestand des Aals in Deutschland geschützt werden, Lachs und Stör könnten dauerhaft Bäche und Flüsse besiedeln.

Akribische Bestandsaufnahme

Für das EU-Forschungsprojekt „Adaptive Management of Barriers in European Rivers (AMBER)“ werteten rund 50 Wissenschafter unter der Leitung von Forschern der Universität Swansea in Großbritannien mehr als 2.700 Flusskilometer von 147 europäischen Flüssen aus. Auf Grundlage von regionalen, nationalen und globalen Datensätzen liefen die Forscher nach standardisierten Verfahren ausgewählte Flussabschnitte ab und kartierten die Anzahl und die Art der Barrieren und Querbauwerke.

Die Forscher kommen mithilfe ihres Barrieren-Atlas zu dem Ergebnis, dass die bisher verfügbaren Datensätze dazu neigten, insbesondere die Zahl kleinerer Barrieren zu unterschätzen – nämlich um 61 Prozent. Auf Basis von bereinigten und hochskalierten Schätzungen gehen die Experten demnach davon aus, dass es in 36 europäischen Ländern 1,2 Millionen Hindernisse („in-stream barriers“) gibt, die den Wasserlauf stören. Den Großteil dieser Barrieren, nämlich rund zwei Drittel, machen kleinere Bauwerke aus, die weniger als zwei Meter hoch sind. Sie würden bei herkömmlichen Erhebungen eher übersehen werden, schreiben die Experten.

Kein europäischer Fluss ohne Barriere

Am höchsten ist die Dichte an Hindernissen der Studie zufolge in den stark veränderten Flüssen Mitteleuropas. In Skandinavien, Island und Schottland dagegen, also in eher dünn besiedelten, bergigen Gebieten, sind die niedrigsten Barrieredichten zu finden. Insgesamt liegt die Dichte im Schnitt bei etwas weniger als einem Hindernis (0,74) pro Flusskilometer. Kein Flussgebiet in Europa ist laut der Studie noch frei von künstlichen Hindernissen. Wehre oder Dämme sind meist dazu gebaut worden, um den Wasserfluss in den Flüssen zu kontrollieren. Oft dienen sie zudem auch als Straßenquerung.

„Viele Barrieren sind nicht mehr erforderlich, und ihre Beseitigung bietet beispiellose Chancen, die Durchgängigkeit der Fließgewässer zu verbessern“, sagt Carlos de Garcia de Leaniz, der Koordinator von AMBER von der Universität Swansea in Großbritannien.

Die Studienautoren plädieren dafür, die neuen Daten bei der Umsetzung der EU-Biodiversitätsstrategie zu berücksichtigen. Die EU plant, bis 2030 mindestens 25.000 Flusskilometer wieder in frei fließende Flüsse umzubauen und so Ströme zu verbinden. Dazu sollen Barrieren beseitigt und Überschwemmungsflächen wiederhergestellt werden. (red, APA, 20.12.2020)

Abstract:

Nature: „More than one million barriers fragment Europe’s rivers.“

AMBER-Atlas

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