Dies & Das: Friedrich Dürrenmatt – Lachend geht die Welt zugrunde

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Friedrich Dürrenmatt – Lachend geht die Welt zugrunde

Er war ein Schelm, Kulturpessimist und überdies einer der größten Dramatiker der Moderne: eine Würdigung zum 100. Geburtstag.

Friedrich Dürrenmatt (1921-1990), hier im Jahr 1977. © ullstein bild – RDB/Ruedi Bliggenstorfer

Der Mensch in der Zerreißprobe, zwischen Moral und Begehrlichkeit, zwischen individueller Verantwortung und gesellschaftlichen Zwängen – davon erzählen fast alle Stücke von einem der letzten wortgewaltigen Großzyniker unter den Dramatikern des 20. Jahrhunderts: Friedrich Dürrenmatt, Ankläger und Satiriker, der Liebling der Mittelstufenlehrpläne und bis heute ein Gewährsmann für ausverkaufte Aufführungen auf allen Spielplänen.

Doch woher rührt die ungemeine Popularität dieses Klassikers der Moderne? Was sagen uns seine Werke heute noch, zu seinem 100. Geburtstag? Vielleicht macht sich gerade in Zeiten der Pandemie weniger deren Aktualität als vielmehr deren ungebrochene Zeitlosigkeit bemerkbar.

Nehmen wir nur einmal sein berühmtestes Drama, „Der Besuch der alten Dame“ (1956), das man wie einen voll und ganz gegenwärtigen Kommentar auf die Corona-Gesellschaft lesen kann. Nur kommt diese deutlich besser weg als die verkommene Kleinstadtgemeinschaft in Dürrenmatts schwarzgalliger Groteske. Nachdem die einstmals aus ihr verstoßene und mittlerweile zu Reichtum gelangte Claire Zachanassian in ihren verarmten Heimatort Güllen zurückkehrt, folgt sie keiner Anwandlung von Barmherzigkeit. Ganz im Gegenteil: Sie bietet eine Million für den Tod ihres ehemaligen Liebhabers und Krämerladenbesitzers Alfred Ill.

Mikrokosmen

Zwar halten die Bürger zu Beginn noch die Grundrechte hoch, geben sich jedoch zunehmend monetären Verlockungen wie der Anschaffung teurer Schuhe hin, bis sich der Protagonist zuletzt für die Gier des Kollektivs opfert. Dass ein Menschenleben nichts wert sei, lässt sich angesichts der zahlreichen Eingriffe in die persönliche Freiheit für den Gesundheitsschutz nicht behaupten. Doch gilt unser hoher Maßstab auch für Infizierte in der sogenannten Dritten Welt? Gilt er auch gegenüber all jenen, die jenseits der westlichen Komfortzonen an Hunger und Krieg leiden?

„Der Besuch der alten Dame“ bei den Festspielen Reichenau 2009, mit der italienischen Chanson-Sängerin Milva (Claire Zachanassian) und Martin Schwab (Alfred Ill). –
© APAweb / Robert Jaeger

Was die Gesellschaft moralisch bewegt, verlagert Dürrenmatt seit jeher auf die Ebene des Mikrokosmos, zumeist auf laborartige Arrangements mit wenigen Figuren, in denen ethisch schwierige Konflikte offenkundig werden. Und immer steht das abendländische Subjekt im Vordergrund, mitsamt seiner honorigen Wertebasis. Sie ist stets enormen Zersetzungs- und Zentrifugalkräften ausgesetzt. Als wäre sie die Eisoberfläche eines Sees, erhält die Zivilisationsdecke in den scharfzüngigen Texten stetig mehr Risse, bis sie gänzlich zerbricht.

So zu sehen auch in seinen Kriminalromanen wie „Das Versprechen“ oder „Der Richter und sein Henker“, beides Werke, die gänzlich dem dunklen Menschenbild ihres kulturkritischen Schöpfers Ausdruck verleihen. Ein Motiv, aber nicht das einzige, für das Vortasten in das Genre der Täter und Opfer stellten sicherlich auch finanzielle Erwägungen dar, entstammt doch der Autor, der neben seinem Landsmann Max Frisch wie kein anderer das Bild der Schweizer Literatur im 20. Jahrhundert prägen sollte, keineswegs wohlhabenden Verhältnissen.

Am 5. Jänner 1921 in Konolfingen als Sohn eines Dorfpfarrers geboren, wuchs Dürrenmatt bald schon unter dem Eindruck der Weltwirtschaftskrise in einem mittelständischen, von Existenzängsten und Zukunftsbedenken erfüllten Umfeld auf. Das Kleinbürgertum, das auch in seinen Werken immer präsent sein wird, hat sichtlich Spuren in seinem Denken und Wahrnehmen hinterlassen: „Ich bin kein Dorfschriftsteller. Aber das Dorf brachte mich hervor, und so bin ich immer noch ein Dörfler mit einer langsamen Sprache, kein Städter, am wenigsten ein Großstädter, auch wenn ich nicht mehr in einem Dorf leben könnte“, sollte er einmal sagen. Nachdem seine Familie nach Bern übersiedelte, schloss er dort 1941 die Matura mehr kläglich als erfolgreich ab, bevor er Philosophie, Germanistik und Naturwissenschaften zu studieren begann.

Der Weg zum Schriftsteller scheint vorgezeichnet. Zunächst eben mit den erwähnten Mördern und Kommissaren. Obgleich das Kriminalgenre zutiefst inhumane Gestalten ins Zentrum rückt, erweisen diese sich bei Dürrenmatt auch als prototypisch für die Menschheit. Allen voran seine Texte vor dem Hintergrund des Kalten Kriegs dokumentieren, dass aus jedem vermeintlich guten und sozialfähigen Individuum ein Täter werden kann. Vor allem dann, wenn die westlichen Ideale auf eigenwilliges Machtstreben treffen.

„Die Physiker“ am Wiener Volkstheater (1999): links Heinz Petters als „Newton“, rechts Rudolf Jusits (r.) als Kriminalbeamter Richard Voß. – © APAweb / Barbara Gindl

Selbst eine Psychiaterin, die um das Heil ihrer Patienten ringen sollte, lässt sich in „Die Physiker“ (1962) zum egoistischen Manöver verleiten. Zwar versuchen drei Insassen der Anstalt, durch ihre gespielte Geisteskrankheit das Wissen zum Bau einer verheerenden Bombe zurückzuhalten. Als die Chefärztin davon allerdings Wind bekommt, macht sie sich die Formel zur Erlangung der Weltherrschaft zu eigen. Noch krasser erweist sich das Ringen um Vorherrschaft in dem heute leider etwas in Vergessenheit geratenen Hörspiel „Das Unternehmen der Wega“ (1954), einer pessimistischen Sci-Fi-Robinsonade.

Politischer Autor

Hierin haben Amerikaner und Sowjets die Outlaws auf die Venus verbannt. Um diese gegen die andere Seite zu mobilisieren, müht sich eine US-Delegation auf dem unwirtlichen Planeten um die Überzeugungsarbeit. Doch vergebens, zu sehr sind die Aussätzigen allein schon mit der Sicherung ihrer Existenz beschäftigt – ein zum Schluss unnützes Unterfangen, denn kurzerhand werfen die Strategen des Westens nach ihrem Abflug eine Bombe ab, die alles Leben zerstören wird.

Die Welt am Rande des Wahnsinns zu beschreiben – darum geht es dem sich in seiner Jugend als Marxisten bezeichnenden Kapitalismus- und Fortschrittskritiker Dürrenmatt. Erfolg zeitigen seine Stücke jedoch nicht nur durch ihre Aussagekraft. Der Schriftsteller versteht sich durch und durch als politischer Autor, beweist darüber hinaus allerdings ebenso Entertainerqualitäten. Theater soll unterhalten und durchaus breite Teile der Bevölkerung ansprechen, so sein Anspruch. Mit einer lakonisch-elliptischen, am mündlichen Gebrauch orientierten Sprache und insbesondere mit reichlich Situationskomik warten seine dramatischen Entwürfe auf.

Warum? Weil mit schwarzem Humor und der Wucht der Absurdität die Leser und Zuschauer über die Verkommenheit der Welt lachen sollen. Lachen als Erkenntnismoment des Wahns, der Fassungslosigkeit. Vieles schwingt in Dürrenmatts Konzeption von Brecht und dessen epischem Theater mit: der Impetus des Wachrüttelns, die Emphase der umfassenden Gesellschaftsabrechnung, der Hang zur Verfremdung und die Lust an der Irritation des Publikums, das doch gefälligst auch nachdenken soll.

Geschieht dies, entfaltet sich das ganze Potential seiner Parabeln. Viele könnten in unseren Tagen entstanden sein. So etwa seine 1949 uraufgeführte Komödie „Romulus der Große“. Dabei treffen wir auf einen regierungsmüden Herrscher. Da er die grassierende Dekadenz seines Volkes verachtet, sieht er dem Einmarsch der Germanen in Westrom gelassen entgegen. Statt die Armee zu Gegenwehr aufzufordern, führt er auf seinem Landsitz das Leben eines Hühnerzüchters und Gärtners. Ironisch anknüpfend an theatrale Herrscherfiguren wie Schillers Wallenstein oder Shakespeares Julius Caesar, präsentiert uns der Autor einen in seiner Passivität verharrenden Regenten. Er nimmt das Schicksal nicht in seine Hände, sondern lässt ihm buchstäblich seinen Lauf.

Max Frisch (links) und Friedrich Dürrenmatt im Jahr 1961 im Zürich. –
© ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv/CC BY-SA 4.0

Worin besteht nun die Aktualität dieses Werks? In den letzten Jahren hat das Stichwort „Postpolitik“ seine Kreise gezogen. Es bezeichnet die Lähmung des demokratischen Austausches, eine Weise der Staatslenkung, die nicht mehr vermittelt, worum es ihr geht. Unmittelbar verbunden ist damit der Stil der deutschen Kanzlerin. Merkel verkörpert par excellence den Typus der pragmatischen Krisenmanagerin und Moderatorin. Wo andere nach Visionen rufen, wartet sie mit Besonnenheit und Vernunft auf die bestmögliche Lösung für den Moment. Auch Romulus gehört dieser Gattung an und macht – ex negativo – deutlich, dass Politik Vordenker und vor allem Utopien braucht.

Nicht lockerzulassen, Positionen auf die Bühne zu bringen und sie mit Essays zu flankieren, macht den beharrlichen Charakter Dürrenmatts aus. Wohl auch deshalb entwickelt er in seinem vielleicht autobiografischsten Drama, „Der Meteor“ (1966), eine nicht totzubringende Schriftstellerfigur.

Modernekritik

Zwar bereitet diese sich längst auf das Sterben vor, steht nach ihrem vermeintlichen Dahinscheiden jedoch immer wieder von den Toten auf. Diese Selbstkarikatur ist letztlich Wirklichkeit geworden. Kein Bühnenhaus, das nicht mindestens einmal im Jahr einen Dürrenmatt auf die Bühne bringt, keine Schulklassen ohne seine berühmten Tragikomödien, kein absurdes Theater ohne seine skurrilen Figuren.

Neben Autoren wie Franz Kafka und Samuel Beckett, deren Weltsichten und Schreiben Dürrenmatt gewiss beeinflusst haben, zählt er zu den wichtigsten Vertretern einer kulturpessimistischen Modernekritik. Dürrenmatts Werke zeugen von Verzweiflung, bisweilen Verachtung, aber genauso von einem unverbrüchlichen Vertrauen: in die Macht der Literatur und übrigens nicht minder in die der bildenden Kunst. Lange Zeit wollte er Maler werden. Gemeinsam mit dem Schreiben soll ihn seine Möglichkeit zu zeichnen und Gemälde anzufertigen, wie er später erzählen wird, überhaupt erst aus seiner Sinn- und Orientierungskrise am Ende eines abgebrochenen Studiums gerettet haben.

Von Landschaften bis zu seltsamen Kosmos- und Höllenbildern reichen seine Entwürfe. Besonders charakteristisch mutet das in der gelungenen neuen Biographie von Friedrich Weber abgedruckte Öl-Bild „Die Katastrophe“ an. Wir werden einer zusammenbrechenden Stahlbrücke gewahr, von der ein Zug auf eine dichte Menschenmasse hinunterstürzt. Nichts hält mehr, alles befindet sich im freien Fall – wie in Dürrenmatts sämtlichen Dramen und Romanen.

Das Zugrundegehen der Welt birgt jedoch keinen sinnentleerten Untergang. Denn in den Ruinen des Nihilismus wird in den Werken des am 14. Dezember 1990 in Neuenburg gestorbenen Großzweiflers stets auch das andere denkbar. Die Katastrophe davor ist unumgänglich. Doch niemand hat sie mit einer nur annähernd vergleichbaren Komik gefeiert wie er – ein Schelm, wer in ihm daher nicht den gerissenen Bühnensatyr erkennt.

BHayer

Björn Hayer, geboren 1987 in Mannheim, ist Germanist, Universitätsdozent und Journalist.
Alle wichtigen Bücher von Friedrich Dürrenmatt sowie die Biographie von Ulrich Weber sind im Züricher Diogenes Verlag erschienen (siehe www.diogenes.ch).
Allgemeines zu Autor und Jubiläum: www.duerrenmatt21.ch