Dies & Das: Nicht nur bei Insekten und Vögeln, auch bei Pflanzen geht die Biodiversität zurück: 70 Prozent der Arten in Deutschland sind heute seltener als 1960

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Esther Widmann

16.12.2020

Nicht nur bei Insekten und Vögeln, auch bei Pflanzen geht die Biodiversität zurück: 70 Prozent der Arten in Deutschland sind heute seltener als 1960

Und das betrifft keineswegs nur seltene Pflanzen, sondern vor allem solche, die eigentlich häufig sind. Zahlreiche neu eingeführte Arten gedeihen – doch das kann den Verlust nicht wettmachen.

Der Zarte Gauchheil (Anagallis tenella) ist sowohl in Deutschland als auch in der Schweiz sehr selten. Imago

Sind Sie schon einmal einem Zarten Gauchheil begegnet? Höchstwahrscheinlich nicht, es sei denn, Sie waren in den Mooren und nassen Gräben in der Gegend von Paderborn oder im Südschwarzwald (bzw. in der Schweiz am Genfersee) unterwegs und hatten viel Glück. Denn der Zarte Gauchheil ist eine extrem seltene Pflanze – und es gibt heute in Deutschland 99,8 Prozent weniger Exemplare als vor einigen Jahrzehnten. Er ist damit das extremste Beispiel für den Rückgang der pflanzlichen Biodiversität in Deutschland: Von allen dort vorkommenden Pflanzen sind 70 Prozent heute seltener als 1960. Das zeigt eine Auswertung flächendeckender Daten, die jetzt in der Fachzeitschrift «Global Change Biology» erschienen ist.

Der Zarte Gauchheil interessiert Sie nicht? Sollte er aber. Biodiversität, das klingt zugegebenermassen nicht besonders sexy. Sie ist aber essenziell, um ihrer selbst willen, also um Tiere und Pflanzen zu schützen, aber auch für den Menschen, der trotz aller Technik von der Natur abhängig ist. Deshalb ist das, was die Wissenschafter jetzt über die Pflanzenwelt in Deutschland herausgefunden haben, nicht nur für ein paar sonderbare Botaniker von Belang, die auf den Knien durchs Paderborner Moor rutschen, weil sie den Zarten Gauchheil endlich abhaken wollen in ihrer Fundliste. «Die neuen Ergebnisse malen ein sehr düsteres Bild», sagt David Eichenberg vom Deutschen Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung Halle-Jena-Leipzig, der die Studie mitverfasst hat. Und nicht nur in der Pflanzenwelt nimmt die Vielfalt ab: In welchem Ausmass die Zahl der Insekten in den vergangenen Jahrzehnten zurückgegangen ist, hat vor einiger Zeit selbst Fachleute überrascht und entsetzt. Vögel, Reptilien, Fische – alle sind betroffen. Weltweit sind etwa eine Million Tier- und Pflanzenarten vom Aussterben bedroht.

Die Daten zu Pflanzenvorkommen stammen vor allem aus den Kartierungen, die Freiwillige vorgenommen haben, ausserdem aus Studien wissenschaftlicher Einrichtungen. Der Autor Eichenberg hat sie mit Kolleginnen zusammengetragen und ausgewertet. Das Ergebnis: 71 Prozent der 2136 einbezogenen Pflanzenarten sind zwischen 1960 und 2017 zurückgegangen, und die Diversität von Pflanzenarten hat in den meisten Regionen des Landes abgenommen. Am stärksten betroffen sind solche, die schon vor der europäischen Entdeckung Amerikas 1492 eingeführt wurden, sogenannte Archäophyten. Viele darunter, die stark zurückgegangen sind, seien keineswegs selten, sondern gewöhnliche Arten.

Keine Art ist um 100 Prozent zurückgegangen, also ausgestorben. Der Zarte Gauchheil, eine kriechende Pflanze, deren blassrosa Blütenfarbe das «zart» im Namen rechtfertigt, kommt dem mit 99,8 Prozent aber recht nahe. 1996 wurde er auf der Roten Liste als in Deutschland «vom Aussterben bedroht» eingestuft, heute gilt er aber nur noch als «gefährdet». Die Autoren erklären, dass die von ihnen ausgewerteten Daten in allen Fällen die Anzahl von Vorkommen, aber nicht die Zahl der an dem jeweiligen Ort wachsenden Exemplare einer Art dokumentieren. So komme der Zarte Gauchheil zwar nur noch an drei Orten in Deutschland vor, und die Grösse dieser Vorkommen habe in den vergangenen Jahrzehnten abgenommen. Doch die Population innerhalb dieser Vorkommen habe sich dank dort durchgeführten Naturschutzmassnahmen stabilisiert.

Das Schmalblättrige Greiskraut (Senecio inaequidens) ist ein Neophyt und heute um 700 Prozent häufiger als 1960. Imago

Zum andern gibt es 610 Arten (etwa 29 Prozent der untersuchten Gesamtzahl), die häufiger sind als 1960. Es handelt sich dabei um Neophyten, also nach 1492 eingeführte Arten. Darunter ist das Schmalblättrige Greiskraut mit seinen schlichten gelben Blüten, das entlang von Bahnlinien und Strassen wächst und seit 1960 um knapp 700 Prozent zugenommen hat.

In Dänemark hat eine Studie gezeigt, dass neu eingeführte Arten den Verlust der alten aufwiegen, jedenfalls zahlenmässig. Allerdings kann ein solches Ergebnis den eigentlichen Effekt verschleiern, weil es suggeriert, dass die Artenvielfalt sich vergrössert hat – auch wenn tatsächlich die alten Arten fast verschwunden sind und neue sich verbreitet haben. Es gibt auch die Sichtweise, dass man Neophyten nicht verteufeln sollte; schon immer seien neue Arten eingeschleppt worden, die stärksten setzten sich durch, auch sie seien Teil der Nahrungskette. Allerdings zeigen Studien wie die aus Dänemark, dass es mit den neuen Arten oft sehr viel weniger Variation in der Zusammensetzung von Pflanzengemeinschaften gibt. Und das gefährdet die Funktion und die Stabilität der Ökosysteme. Die jetzt für Deutschland ausgewerteten Daten zeigen ohnehin, dass in diesem Fall die «Neuankömmlinge» im Pflanzenreich den Rückgang der Arten insgesamt nicht wettmachen können.

Interessanterweise verschwinden dabei offenbar nicht unbedingt die alten Arten, weil eine neue ihren Platz einnimmt: Die Regionen mit den grössten Verlusten bei den Archäophyten sind nicht deckungsgleich mit denen, in denen Neophyten zugenommen haben.

Allerdings könnte auch die Datengrundlage zu gewissen Verzerrungen führen, schreiben die Autoren: So sei nicht klar, ob es in Brandenburg wirklich so wenige Archäophyten gibt – oder ob diese schlicht nicht gesucht und dokumentiert wurden.

Die Gründe für den Artenschwund können die Daten nicht identifizieren. In einigen Fällen spielt die Klimaerwärmung eine Rolle. So seien etwa mehrere Grasarten, die an der Küste oder unter Wasser wachsen, wie vorhergesagt wegen der höheren Temperaturen seltener geworden. Die Daten erlauben es aber nicht, landwirtschaftliche Nutzungsarten als Grund für den Rückgang der Biodiversität zu identifizieren. Das heisst nicht, dass keine Verbindung besteht; hier sei aber mehr Forschung nötig, schreiben die Wissenschafterinnen. Trotzdem sei der nicht rückgängig zu machende Artenschwund alarmierend, und es sei davon auszugehen, dass die dokumentierten Veränderungen nicht nur Deutschland beträfen.

Und weil Pflanzen das unterste Glied in der Nahrungskette sind, wirken sich diese Veränderungen auch in allen anderen Stufen aus. «Pflanzen spielen eine entscheidende Rolle in Ökosystemen, und Veränderungen in deren Biodiversität können sich durch die Nahrungsketten fortsetzen und damit die Funktion des Ökosystems auf allen Ebenen verändern», schreiben die Wissenschafter. So habe sich gezeigt, dass eine veränderte Pflanzenwelt auch bedeutet, dass es weniger Nektar für Insekten gibt. Es sei dies ein möglicher Grund für den erwähnten gewaltigen Insektenschwund. In vielen Fällen sind aber diese Zusammenhänge gar nicht bekannt oder erkennbar. So wird es vielleicht für immer ein Geheimnis bleiben, welchen Insekten, Vögeln und Reptilien wir nicht begegnen, weil es so wenig Zarten Gauchheil gibt.