Dies & Das: Was das Coronavirus mit dem Gehirn macht

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Neuro-Covid

Juliette Irmer

24. Jänner 2021

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Was das Coronavirus mit dem Gehirn macht

Verlust des Geruchs- und Geschmackssinns, Kopfschmerzen und getrübtes Bewusstsein: Das Coronavirus kann ein breites Spektrum an neurologischen Störungen verursachen

Bis zu 50 Prozent der hospitalisierten Covid-Patienten leiden an mindestens einer neurologischen Auffälligkeit: Wie das Virus ins Hirn gelangt, wird intensiv erforscht.
Foto: Imago / Westend61 / Andrew Brookes

Zu Beginn der Pandemie waren Neurologen nicht weiter beunruhigt: Patienten berichteten über Kopfschmerzen und Schwindel, diffuse Beschwerden, die auch bei anderen Viruserkrankungen häufig sind. Heute sind über 40 neurologische Symptome bekannt, die im Zusammenhang mit Covid-19 stehen.

Bis zu 50 Prozent der hospitalisierten Patienten leiden an mindestens einer neurologischen Auffälligkeit: Manche Patienten verlieren ihren Geruchs- und/oder Geschmackssinn, andere klagen über massive Muskel- oder Kopfschmerzen, bei manchen ist das Bewusstsein getrübt, und in seltenen Fällen erleiden Patienten gar Krampfanfälle oder einen Schlaganfall.

„Das Hauptorgan ist die Lunge, es gibt aber auch Fälle, wenn auch selten, wo neurologische Symptome im Vordergrund stehen und die Lunge kaum betroffen ist, und das altersunabhängig“, sagt der Neurologe Raimund Helbok von der Medizinischen Universität Innsbruck. Wegen der vielen neurologischen Facetten von Covid-19 sprechen Mediziner mittlerweile von „Neuro-Covid“.

Riechschleimhaut als Eintrittspforte

Wie das Coronavirus ins Hirn gelangt und wie es das Gehirn schädigt, wird intensiv erforscht, und es existieren verschiedene Hypothesen. „Das Gehirn kann auf vielfältige Weise Schaden nehmen, direkt oder indirekt“, sagt Helbok.

Der direkte Weg ins Hirn führt über die Nase, wie Wissenschafter kürzlich nachwiesen. „Sars-CoV-2 nutzt die Riechschleimhaut als Eintrittspforte und kann von dort aus über den Riechnerv ins Gehirn klettern“, sagt der Neuropathologe Frank Heppner von der Berliner Charité, der gemeinsam mit Kollegen die Gehirne von 33 an Covid-19 Verstorbenen untersucht hat.

Allerdings kann dieser Weg nicht der einzige sein: Denn in der Hirnflüssigkeit, die das Gehirn umgibt, kann das Virus selbst nur selten nachgewiesen werden. „Das spricht dafür, dass das Virus Nervenzellen zwar befallen kann, dies jedoch nur selten der Fall ist“, so Helbok. Auch die histologischen Untersuchungen des Gehirns weisen darauf hin, dass es einen weiteren Infektionsweg geben muss, da das Hirngewebe in der Regel nicht direkt angegriffen wird.

Reaktionen auf das Virus

Die Berliner Neuropathologen wiesen das Virus zudem in Hirnteilen nach, die nicht mit dem Riechzentrum in Verbindung stehen, und zwar in den Blutgefäßwänden. Diese werden von einer Zellschicht ausgekleidet, die als Endothel bezeichnet wird. Indem Sars-CoV-2 diese Zellen befällt, erreicht das Virus mit dem Blutstrom jedes andere Organ, auch das Gehirn.

„Das Endothel von Covid-Patienten ist an manchen Stellen schaumig verändert und aufgebläht, und es finden sich kleine Mikrothromben an verschiedensten Stellen“, sagt der Neurologe Christian Enzinger von der Medizinischen Universität Graz. Durch den Verschluss solcher feinen Gefäße entstehen im Gehirn kleine Schlaganfälle oder Blutungen, was zu einer Sauerstoffunterversorgung des betroffenen Hirnbereichs führt.

Schaden nehmen kann das Gehirn auch durch die überschießende Immunreaktion bei schwererkrankten Covid-19-Patienten. „Der Körper arbeitet mit allem gegen die Virusinfektion, und an einem bestimmten Punkt entgleist die Immunantwort und schädigt die Organe“, erklärt Enzinger. „Da das Gehirn keine Insel ist, sondern abhängig ist von der Funktion anderer Organe, wird es ebenfalls geschädigt.“ Etliche Forschergruppen arbeiten daran, herauszufinden, welcher molekulare Schalter im Immunsystem für die fehlerhafte Immunreaktion verantwortlich ist.

In seltenen Fällen löst das Virus überdies eine Autoimmunreaktion aus: Die im Verlauf der Infektion gebildeten Antikörper richten sich dann nicht mehr nur gegen das Coronavirus, sondern auch gegen das eigene Nervengewebe.

Langzeiteffekte

Neben der zentralen Frage, warum manche Menschen so schwer erkranken und das Gros nur leicht, stellt sich auch die Frage nach den Langzeiteffekten: Wie lange halten neurologische und andere Symptome an? „Nach einem Jahr Pandemie wissen wir erschreckend wenig darüber“, gesteht Enzinger. Das hänge auch mit der Versorgung der Akutfälle und der Belastung des Gesundheitssystems zusammen, aber auch damit, dass die Spätfolgen dieses Virus unterschätzt worden seien.

Für Aufmerksamkeit sorgte in diesem Zusammenhang ein im Dezember im Fachjournal „The Lancet“ veröffentlichter Aufruf betroffener Ärzte in England: Die Ärzte, die sich zur Facebook-Gruppe „UK doctors #LongCovid“ zusammengeschlossen haben, fordern darin die systematische Erfassung und Erforschung der Spätfolgen und warnen davor, die Beschwerden zu verharmlosen und zu psychologisieren.

Die bislang umfangreichste Studie zu den Spätfolgen wurde Anfang Jänner ebenfalls in „The Lancet“ veröffentlicht: Die Wissenschafter untersuchten und befragten 1733 Patienten, die in Wuhan im Krankenhaus behandelt worden waren, über bis zu sechs Monate hinweg nach ihrem Gesundheitszustand.

Neuro-Covid-Register

Drei Viertel der Patienten litten noch sechs Monate nach ihrer Erkrankung unter mindestens einem Symptom. Am häufigsten waren chronische Erschöpfung und Muskelschwäche, gefolgt von Schlafstörungen sowie Ängsten und Depressionen. „Eine Einschränkung dieser Studie liegt in der Datenerhebung der beschriebenen Symptome, welche vorwiegend über einen Fragebogen erfolgte“, sagt Helbok.

Gemeinsam mit Kollegen aus Europa hat der Innsbrucker Neurologe für die Europäische Akademie für Neurologie (EAN) ein internationales Patientenregister namens ENERGY (Ean NEuro-covid ReGistrY) eingerichtet, um neurologische Komplikationen und Langzeitfolgen der Covid-19-Erkrankung weltweit zu erfassen. Über 400 von Neurologen untersuchte Patienten wurden bislang eingeschlossen.

Auch bei milden Verläufen

Ein blinder Fleck in Sachen Neuro-Covid ist allerdings die wesentlich größere Patientengruppe, die nur milde Symptome hat und nicht im Krankenhaus behandelt wird. Laut dem Virus-Steckbrief des Robert-Koch-Instituts in Berlin kann es auch bei milderen Verläufen zu längerfristigen Müdigkeitserscheinungen, Gedächtnisproblemen oder Wortfindungsstörungen kommen.

„Bisher fehlen verlässliche Daten zu dieser Gruppe“, sagt Helbok, „wir wissen also nicht, wie viele dieser Patienten an Langzeitfolgen leiden und wie lange.“ In einem interdisziplinären Projekt der Medizinischen Universität Innsbruck und mit Unterstützung des Landes Tirol wurde deswegen ein Fragebogen erstellt und an eine repräsentative Patientengruppe in Tirol verschickt. Die Ergebnisse stehen noch aus.

Immerhin: Die Geruchs- und Geschmacksstörungen, die häufiger bei milden Krankheitsverläufen zu beobachten sind, bilden sich in den meisten Fällen nach zwei bis drei Wochen wieder zurück. Solange es in puncto Neuro-Covid aber mehr Fragen als Antworten gibt und solange keine Vorhersage zum individuellen Covid-19-Risiko möglich ist, so lange, sagt der Neurologe Enzinger, „müssen wir die Impfbereitschaft hochhalten.“ (Juliette Irmer, 25.1.2021)

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