2. April 2021
Der Blick von außen: Das.Ist.Nicht.Normal.
In den veröffentlichten Chatprotokollen gibt es auch Nachrichten von Kanzler Sebastian Kurz.
Der britische Journalist Matt Chorley hat für die Times jahrelang den Brexit-Wahnsinn und alles andere, was das so wunderbare wie wundersame Großbritannien ausmacht, in einem morgendlichen Newsletter beschrieben, der „The Red Box“ heißt. Die rote Kiste gibt es immer noch, aber der immer gut gelaunte Chorley ist irgendwann zum Times-Radio gewechselt, weil er nicht mehr jeden Tag um fünf Uhr aufstehen wollte (mir ist es ohnehin ein Rätsel, wie etwa Heute-Chefredakteur Christian Nusser in seinen „Kopfnüssen“ so früh am Morgen immer schon so heiter ist).
Chorley jedenfalls hat den Briten in seiner berühmten Kolumne eine Formulierung geschenkt, die seither im Königreich auf Teetassen, T-Shirts und Einkaufstüten prangt: „This.Is.Not.Normal“. Ich würde den Slogan gern ausleihen, denn was seit einiger Zeit in Österreich passiert, Das.Ist.Nicht.Normal.
Chatprotokolle aus den höchsten politischen Kreisen, die den Zynismus der Macht mit Bussibussi verkleistern. Ein ehemaliger Chefredakteur und Redakteure einer Zeitung, die den Bundeskanzler jeweils wegen der Intervention in die Arbeit des eigenen Blattes anzeigen. Sich häufende Berichte von Journalistenkollegen, dass fertige Geschichten nach Anrufen vom Ballhausplatz nicht erschienen sind. Anzeigen der Opposition gegen Mitglieder der Bundesregierung wegen Falschaussagen vor dem parlamentarischen Untersuchungsausschuss. Ermittlungen gegen einen Verfassungsrichter, der gleichzeitig als Anwalt prominente Klienten vertritt und sich in seiner Zeit als Justizminister eines Weisenrats bedienen musste, weil er ständig befangen war. Ein hochrangiger Abteilungsleiter im Justizministerium, der nach seiner Suspendierung mit dem Leiter der Oberstaatsanwaltschaft Akten bespricht, die ihn nichts mehr angehen. Und der nach Bekanntwerden von Ermittlungen gegen den Finanzminister nicht nur von einem „Putsch“ schreibt, sondern sich auch darum sorgt, wer den Minister vor seiner Einvernahme berate. Der Finanzminister, der vor einer Hausdurchsuchung seine Frau anruft, worauf diese mit dem Laptop spazieren geht.
Auswüchse eines ganzen Komplexes
Und diese Aufzählung enthält nur einige, wenige Ereignisse aus den vergangenen Wochen. Denn all das sind ja nur die Auswüchse eines ganzen Komplexes, der seit dem Scheitern der ÖVP-FPÖ-Regierung 2019 seine ganze Wucht entfaltet: die Ermittlungen der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft gegen Teile der Bundesregierung in der Folge des Ibiza-Videos. Plus Angriffe auf die Justiz. Plus Angriffe auf die Kirche. Plus die mutmaßliche interne Weitergabe von Ermittlungsschritten wie Hausdurchsuchungen. Bemerkenswert in diesem Kontext auch, dass ein Mitarbeiter des Kanzleramts unter falschem Namen Festplatten schreddern geht (sorry, das liegt schon eine Weile zurück und ist schon viele Dutzend Mal beschrieben, irritiert mich aber immer noch in höchstem Maße), und sein Arbeitgeber die klandestine Vernichtung von Daten später als einen „normalen Vorgang“ beschreibt.
Und kein einziger Rücktritt.
Falls Sie jetzt, nach dieser Suada, verwirrt sein sollten, kann ich das verstehen. Verwirrt sind auch viele politisch interessierte Bürger, viele Abgeordnete, und, zugegeben, auch viele Journalisten, die sich seit Monaten durch Chatprotokolle fräsen, an seltsamen Hintergrundgesprächen oder anlasslosen Pressekonferenzen teilnehmen und immer mehr das Gefühl haben, sie würden gepflanzt (wie es gerade, in einem Gegenangriff gegen den grünen Koalitionspartner, ein ÖVP-Abgeordneter formulierte).
Auch ich werde das Osterfest unter dem Eindruck feiern, dass mich das Land, in dem ich lebe und arbeite, immer noch überraschen kann. FPÖ-Chef Norbert Hofer hat als Bundespräsidentschaftskandidat mal gesagt: „Sie werden sich noch wundern, was alles möglich ist.“ Im Sinne von Matt Chorley will ich einen neuen Claim setzen: Das.Ist.Nicht.Normal.