Ivo Mijnssen, Wien
07.04.2021
- Der Blick von außen: Regierung von Kanzler Kurz steckt in der Krise
- Peinliche Chats
- Die politische Dimension
- Schlechte Corona-Nachrichten
- Durchwursteln bis zur Herdenimmunität
Der Blick von außen: Regierung von Kanzler Kurz steckt in der Krise
Mit dem Versprechen der Erneuerung hat Sebastian Kurz 2017 die konservative Österreichische Volkspartei (ÖVP) übernommen. Er sprengte das Korsett der jahrzehntelangen Koalitionen mit der Sozialdemokratie und ging einen Pakt mit den rechtspopulistischen Freiheitlichen ein. Nach dessen Scheitern bildete er eine Regierung mit den Grünen und liess sich in Europa einmal mehr als Vorreiter feiern. Erneuerung bedingt Flexibilität und politisches Geschick. Über beides verfügt der 34-Jährige zweifellos.
Weniger klar war stets, wofür Kurz steht, wobei er und seine Vertrauten das inhaltliche Vakuum durch geschickte Kommunikation kompensierten. Auch dies macht ihn zu einem modernen Politiker, dessen «Team Kurz» eingängige Botschaften über soziale Netzwerke und den Boulevard an das vorwiegend bürgerlich-konservative Publikum bringt. Doch jüngst ist die Maschine arg ins Stottern gekommen, und dies nicht nur wegen der Pandemie: Eine Affäre um «Freunderlwirtschaft» verdeutlicht den Kontrast zwischen öffentlicher Selbstdarstellung und Realpolitik in der ÖVP.
Peinliche Chats
Im Nachgang zur Ibiza-Affäre durch die Ermittler ausgewertete Textnachrichten von den Handys verschiedener Kurz-Vertrauter zeichnen ein wenig schmeichelhaftes Bild der Sitten in der «neuen» ÖVP. Diese lässt die Tradition des Postenschachers mit jugendlichem Elan hochleben. Im Fokus stehen der Finanzminister Gernot Blümel und der Manager Thomas Schmid, der die milliardenschwere staatliche Beteiligungsgesellschaft Öbag leitet.
Die Nachrichten dokumentieren, wie sich Schmid mit der Unterstützung Blümels nicht nur die Ausschreibung für die eigene Stelle auf den Leib schrieb, sondern auch eine umfassende Machtfülle erhielt. Jüngst war auch Kurz selbst involviert, der dem Manager im März 2019 versicherte: «Kriegst eh alles, was du willst.» «Ich bin so glücklich :-)))», antwortete Schmid, «ich liebe meinen Kanzler.»
Letzterer sieht sich erheblich in die Defensive gedrängt, da ihn einige Medien und die Opposition – ohne Beweise – der Korruption beschuldigen. Die ÖVP kritisiert deshalb die aggressive Rhetorik ihrer Gegner und das offensive Vorgehen der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft. Auch werden Chats über Anwälte und Parlamentarier, die im Rahmen eines Untersuchungsausschusses Einsicht haben, regelmässig an die Medien weitergegeben.
Christian Pilnacek, der einst mächtigste und heute suspendierte Spitzenbeamte im Justizministerium, sprach deshalb wohl vielen Konservativen aus der Seele, als er die im Zusammenhang mit den Ermittlungen im Februar vorgenommene Hausdurchsuchung bei Blümel mit «Das ist ein Putsch!!» kommentierte. Dass er dies aber in einem SMS-Verlauf mit dem Kabinettschef des Finanzministers tat und ihm Tipps für das weitere Vorgehen gab, unterstreicht, wie ungesund eng auch die Verbindung zwischen den Konservativen und Teilen der Justiz bleibt.
Die politische Dimension
Ob die ÖVP ihre Verteidigungslinie aufrechterhalten kann, wonach es kein strafrechtlich relevantes Verhalten gebe, ist unsicher. So könnte sich vor allem für Blümel rächen, dass er 2020 im Untersuchungsausschuss zu «Ibiza» unter Wahrheitspflicht aussagte, an der Bestellung von Schmid nicht frühzeitig beteiligt gewesen zu sein. Dieser hat am Dienstag angekündigt, sein Mandat 2022 auslaufen zu lassen.
Erstaunlich ist, dass der sonst imagebewusste Kanzler die politische Optik der Affäre auszublenden scheint. Er meinte zur Praxis des Postenschachers lediglich: «Das System hat sicher seine Schwächen, ich glaube, wir kennen aber alle kein besseres.» Darauf folgte die Bemerkung, die Sozialdemokraten seien unglaubwürdig, da sie sich stets an politischen Bestellungen beteiligt hätten. Unerwähnt liess er, dass die ÖVP dieses System zusammen mit den «Roten» über Jahrzehnte geprägt hatte. Kurz versprach aber, damit zu brechen. Von diesem «neuen Stil», schreibt die bürgerliche «Presse», sei wenig geblieben.
Für Spannungen sorgen die Chats auch im Verhältnis mit den Grünen, für die politische Transparenz zu den Kernthemen gehört. Dass Spitzenpolitiker des Juniorpartners den Rücktritt von Schmid forderten und die Abgeordneten Blümel nur murrend gegen ein Misstrauensvotum der Opposition verteidigten, sieht die ÖVP als Dolchstoss.
Schlechte Corona-Nachrichten
Uneinigkeit bei weiteren emotionalen Themen und die unkoordiniert wirkende Corona-Politik tragen dazu bei, dass die Stimmung in der Koalition an einem Tiefpunkt angekommen ist. Kurz hält sich dieser Tage bei der Pandemiebekämpfung auffällig zurück, obschon die Zahl der Patienten auf den Intensivstationen in Ostösterreich ständig neue Rekorde erklimmt. Unklar bleibt, ob er durch die Affären seiner Partei abgelenkt ist oder dem grünen Gesundheitsminister Rudolf Anschober die Überbringung schlechter Nachrichten überlässt.
Das einst beliebteste Regierungsmitglied Anschober ist dabei nicht nur politisch, sondern auch gesundheitlich sichtlich angeschlagen, die Rivalität zwischen ihm und dem Kanzler offensichtlich. Dass Kurz ausgerechnet während einer krankheitsbedingten Abwesenheit Anschobers den Rücktritt des Impfkoordinators forcierte, vertiefte die Gräben. Dieser hatte die Regierungsspitze offenbar nicht über die Möglichkeit informiert, zusätzliche Dosen in der EU einzukaufen.
Dies ändert nichts daran, dass der Regierungschef eine Mitverantwortung für die auch in Österreich schleppend verlaufende Impfkampagne trägt. Auf den innenpolitischen Druck, der sich dadurch aufgestaut hat, reagiert Kurz mit stets neuen Kampagnen. Vor einigen Wochen kritisierte er einen angeblichen «Basar» für Impfstoffe in der EU, auf dem sich reichere Staaten auf Kosten der ärmeren schadlos hielten. Dass Österreich daraus kein Schaden entstand, hielt den Bundeskanzler nicht davon ab, ultimativ Hunderttausende zusätzlicher Dosen zu fordern.
Durchwursteln bis zur Herdenimmunität
Die Ausbeute war bescheiden, weil das konfrontative Vorgehen für Ärger in anderen Staaten sorgte. Kurz wagte deshalb einen neuen Befreiungsschlag und verkündete, Österreich kaufe eine Million Dosen Sputnik V. Ob eine europäische Zulassung, wie bisher stets verkündet, Vorbedingung für eine Verwendung ist, lässt er offen. Kurz meinte bloss vieldeutig, die zusätzlichen Impfdosen könnten Öffnungsschritte im Mai begünstigen.
Mit seinem Durchwursteln bis zur Herdenimmunität ist Sebastian Kurz in Europa bei weitem nicht allein. Doch die Corona-Improvisation trifft einen Politiker, dessen Erfolg so stark vom Macherimage und von klaren Botschaften abhängt, besonders. Für die Krisenbewältigung musste er Kernpositionen wie das ausgeglichene Budget über Bord werfen. Dazu kommt, dass der harte Kurs in der Migrationspolitik gegenwärtig nicht zieht und mit jedem neuen veröffentlichten Chat das Erneuerungsversprechen unglaubwürdiger wird.
Als Folge hat das Vertrauen in den Kanzler im letzten Jahr besonders gelitten. Auch die Umfragewerte zeigen nach unten, die Regierungsparteien verfügten heute über keine Mehrheit mehr. Paradoxerweise stabilisiert dies die Koalition eher: Bei Neuwahlen hätten beide nur zu verlieren.