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Nach Abschiebungen

13.Juli 2021

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Kindeswohlkommission: Kinderrechte in der Praxis nur unzureichend gewürdigt

Das Gremium fordert die Einrichtung einer Institution, die das Kindeswohl in der Vollziehung prüft, sowie klare Richtlinien für das BFA – derzeit sei die Lage „unbefriedigend“

Die Kindeswohlkommission unter der Leitung von Irmgard Griss.
Foto: HELMUT FOHRINGER

Die Kindeswohlkommission hat am Dienstagvormittag in ihrem Abschlussbericht Kritik an der rechtlichen Anwendungspraxis bei Asyl- und Bleiberechtsverfahren geübt: Irmgard Griss, die frühere OGH-Präsidentin und Vorsitzende des Gremiums, bemängelte, dass das österreichische Recht den völkerrechtlichen und verfassungsrechtlichen Verpflichtungen Österreichs nur unzureichend gerecht werde. „Kinderrechte sind umfassend abgesichert“, sagte Griss, im Vollzug komme bei den Kindern aber nur wenig an. Eine weitere Erkenntnis der Kommission betrifft den „Fleckerlteppich in Österreich“ – die Kinder- und Jugendhilfe werde je nach Bundesland unterschiedlich aktiv, sagte Griss. „Dabei braucht es einheitliche Standards.“

Klare Richtlinien gefordert

Außerdem fordert die Kommission die Einrichtung einer Institution, die sich um das Monitoring des Kindeswohls in der Vollziehung kümmert – ähnliche Institutionen gebe es bereits in anderen Ländern.

Zurzeit werden laut Kommission ähnliche Fälle unterschiedlich bewertet. „Manche sagen dazu Lotterie – je nachdem, auf welche Richterin oder welchen Beamten man trifft“, bemerkte Griss, was ein extrem unbefriedigender Zustand sei. Um diesem entgegenzuwirken, fordert die Kommission klare Richtlinien für die Überprüfung des Kindesrechts für das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) und für das Bundesverwaltungsgericht.

Das Gremium unter der früheren OGH-Präsidentin Irmgard Griss war von Vizekanzler Werner Kogler (Grüne) nach der vor allem in linken und kirchlichen Kreisen umstrittenen Abschiebung von Schülerinnen nach Georgien und Armenien eingesetzt worden. Die Kommission sollte sich mit dem Stellenwert von Kinderrechten und Kindeswohl bei Entscheidungen zum Asyl- und Bleiberecht befassen.

Untertauchen von Kindern

Zwischen den statistischen Zahlen der Antragstellung und der Zuweisung in Unterkünfte bestünden große Unterschiede in den Zahlen, hält der Kommissionsbericht nun fest. „Da geht es um hunderte Kinder, bei denen man nicht weiß, was mit ihnen passiert“, sagte Helmut Sax vom Ludwig-Boltzmann-Institut mit Schwerpunkt Kinderrechte, am Dienstag. „Einfach Abhängigkeitsanzeigen zu erstatten ist unzureichend“, ergänzte Sax.

Im Bericht heißt es, dazu, dass Asylverfahren von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen (UMF) aktuell oft eingestellt würden, weil diese „verschwunden“ seien. Und weiter: „Wie zahlreiche internationale Untersuchungen gezeigt haben, ergibt sich daraus ein stark erhöhtes Gefährdungsrisiko für die Betroffenen, indem sie in Abhängigkeit von Schleppern, und in Situationen von Ausbeutung und Kinderhandel durch kriminelle Gruppen geraten können.“

Kritik an Altersfeststellungen

Kritik geübt wurde auch am System der Altersfeststellungen in Österreich. Viele Länder würden da neben biologisch-medizinischen Kriterien wie etwa der Bestimmung der Knochen und dem Zahnalter auch psychosoziale Kriterien anwenden, sagte Ernst Berger, Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Österreich solle das ebenfalls ergänzend einführen, empfiehlt die Kommission. Unter anderem begründet er dies damit, dass bei den biologischen Kriterien laut Berger eine Schwankungsbreite von im Schnitt eineinhalb Jahren bestehe.

Die Ressourcen der Kinder- und Jugendhilfeträger seien seit Jahren unzureichend. Dass Kinder eine vulnerable Gruppe seien, werde nicht durch Rechtsberatung in einem Asylverfahren kompensiert, hielt Reinhard Klaushofer als weiteres Mitglied der Kindeswohlkommission fest. Klaushofer leitet das Institut für Menschenrechte sowie den Fachbereich Öffentliches Recht, Völker- und Europarecht an der Uni Salzburg. „Es geht hier auch um präventives Arbeiten“, sagte Klaushofer bei der Berichtspräsentation.

Psychologin und Psychotherapeutin Hedwig Wölfl hielt fest, dass es für die oftmals genannte Annahme, Kinder seien in einem bestimmten Alter besonders anpassungsfähig, keine Belege aus der Wissenschaft gebe.

Punkte für negative Entscheidungen

Der Bericht thematisiert auch das interne Controllingsystem für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des BFA. Darin würden negative Entscheidungen höher bewertet als positive Entscheidungen. Griss sagte dazu am Dienstag: „Es hat den Anschein, es ist besser, wenn negativ entschieden wird.“ Punkte sollten besser dem Arbeitsaufwand oder qualitativen Kriterien entsprechend vergeben werden.

Österreich sei international Verpflichtungen eingegangen, Kinderrechte zu übernehmen und anzuwenden. Die Diskussion um unbegleitete minderjährige Flüchtlinge befinde sich in Österreich in einem Spannungsfeld: Griss nannte einerseits die Aufregung um Abschiebungen gut integrierter Kinder, die zur Einsetzung der Kommission geführt hatten. Und andererseits den Fall jener getöteten 13-Jährigen, in dem gegen zum Teil minderjährige junge Männer aus Afghanistan ermittelt wird. „Die Diskussion ist in vielen Bereichen vergiftet. Meine Hoffnung ist, dass der Bericht dazu beiträgt, dass sie versachlicht wird“, sagte Griss.

Aus dem Büro von Justizministerin Alma Zadić (Grüne) hieß es am Dienstag, man analysiere den Bericht, Ansatzpunkte im Bereich des Justizministeriums würden nun „zügig angegangen werden“. Und Zadić teilte mit: „Unser gemeinsames Ziel muss sein, die Kinder in diesem Land zu schützen. Der Bericht ist eine umfassende und fachlich fundierte Grundlage, um systematisch und sachlich an diesem Ziel zu arbeiten.“ Der mehr als 400 Seiten umfassende Bericht sei unabhängig erstellt worden und nicht vorab genehmigt oder abgenommen worden, hieß es weiter.

Innenressort mit eigenem Bericht

Im Innenministerium heißt es wiederum, die Diskussion solle auf fachlicher und sachlicher Ebene geführt werden. Daher verweist man auf einen am Dienstag kurz nach dem Termin der Griss-Kommission veröffentlichten Bericht. Das 72-Seiten-Papier wurde von einem Beirat unter der Leitung von Walter Obwexer, Dekan der Rechtswissenschaftlichen Fakultät in Innsbruck, erstellt. Der Beirat habe die Aufgabe, so heißt es im Bericht, „an der Wahrung des bestmöglichen Schutzes des Kindeswohls in fremden- und asylrechtlichen Verfahren sowie im Bereich der Unterbringung und Betreuung unterstützend mitzuwirken“.

Der Beirat sei unabhängig und habe eine „erste rechtliche Analyse vorgenommen“ und Empfehlungen abgeleitet. Gemeinsam mit Expertinnen und Experten aus der Praxis werde die Umsetzung dieser Empfehlungen erörtert und festgelegt. In einer Kurzzusammenfassung des Obwexer-Berichts heißt es unter anderem, dass dem Kindeswohl „eine besondere Bedeutung bei allen verwaltungsbehördlichen und gerichtlichen Entscheidungen“ zukomme, ein „gesonderter völkerrechtlicher, internationalen Schutz auslösender Tatbestand ,Kindeswohl'“ bestehe aber nicht. Das Kindeswohl habe eine herausragende Stellung, aber „keinen absoluten Stellenwert“. Zugleich bestehe „ein übergeordnetes öffentliches Interesse an einem funktionierenden Migrationsmanagement“.

An dem Bericht wirkten auch Katharina Pabel, stellvertretende Vorständin am Institut für Europarecht und Internationales Recht an der WU Wien, Andreas Wimmer vom Institut für Verwaltungsrecht und -lehre der JKU Linz sowie Helmut Koziol vom European Centre of Tort and Insurance Law (Ectil) mit.

Stellungnahme zu Punktesystem

Lediglich zu einem Punkt aus dem Bericht der Griss-Kommission nahm man seitens des Innenministeriums am Dienstag konkreter Stellung: zu dem internen Punktesystem, bei dem für negative Asylentscheidungen mehr Punkte vergeben werden. Dies diene allein dem Überblick, negative Entscheidungen seien mit mehr Aufwand für den einzelnen Bearbeiter verbunden, daher die nach Punkten höhere Einstufung. Es werde nicht auf einzelne Mitarbeiter rückgeschlossen, sondern dies gebe Aufschluss über die Auslastung von Abteilungen, hieß es dazu aus dem Innenressort. Selbst wenn einzelne Mitarbeiter mehr Punkte bekommen würden, hätten diese nichts davon.

Positive Reaktionen

Positive Reaktionen auf den Bericht der Griss-Kommission kamen vom Verein Ute Bock, Caritas und Asylkoordination, SOS Kinderdorf, Unicef und dem UNHCR sowie der Bundesjugendvertretung. Die Neos und die SPÖ-Kinder- und Jugendsprecherinnen teilten mit, Forderungen der Kommission zu unterstützen.

Anfang des Jahres hatte die Abschiebung von Geschwistern aus Georgien und Armenien hohe Wellen geschlagen, auch wenn sie rechtlich in beiden Fällen kaum umstritten war. Unterstützer hatten mit der guten Integration der teils schon lange in Österreich lebenden Kinder argumentiert und mit medial viel beachteten Protesten die Außerlandesbringung zu verhindern versucht.

Die Folge war auch ein Koalitionskrach zwischen der ÖVP, die auf der Abschiebung beharrte, und den Grünen, die den Kindern einen Verbleib in Österreich hätten ermöglichen wollen. Kogler, der damals Justizministerin Alma Zadić (Grüne) während deren Babypause vertrat, hatte schließlich die Kindeswohlkommission eingesetzt. (spri, red, APA, 13.7.2021)

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