Asylpolitik: Wie man hilft
Der Kulturwissenschafter Christoph Landerer beklagt in seinem Gastkommentar die „bestehende Dysfunktionalität der europäischen Asylpraxis“.
Humanitäre Hilfe hat eine klare Hierarchie der Mittelallokation. Am effektivsten ist die „Hilfe vor Ort“: Sie erreicht Hilfsbedürftige dort, wo sie diese Hilfe unmittelbar benötigen, zu Kosten, die weit unter jenen liegen, die ein Transfer der Betroffenen in Länder der westlichen Welt verursachen würde. Am zweiteffektivsten ist Resettlement. Dabei werden Flüchtlinge mit anerkanntem Schutzbedürfnis, in der Regel in Kooperation mit dem UNHCR, zur dauerhaften Umsiedlung an Aufnahmeländer im Rahmen geregelter Programme vermittelt. Resettlement schont die Ressourcen sowohl des Aufnahmelandes als auch der Umgesiedelten selbst, da Transfer und Verfahren kostengünstig abgewickelt werden können und das Problem der Rücksendung abgelehnter Kandidaten gar nicht erst entsteht.
Am ineffektivsten ist das klassische Asylsystem. Um Asyl in westlichen Ländern auf Basis der Genfer Flüchtlingskonvention und außerhalb geregelter Programme zu erhalten, müssen Asylwerber die Grenze des angestrebten Aufnahmelandes erreichen, meist zu hohen Kosten und ohne sichere Aufnahmeperspektive. Die Unterschiede der Asylraten sind enorm. Während (laut Asylstatistik des Innenressorts) etwa syrische Asylwerber in Österreich mit einer Positivrate bis zu 90 Prozent im langjährigen Schnitt rechnen können, liegt die Anerkennungsquote bei Asylwerbern aus Nordafrika (Marokko, Tunesien, Algerien) bei unter einem Prozent. Dem Aufnahmeland entstehen hohe Verfahrenskosten, die Aufnahmekandidaten verbleiben in einem langen Zustand der Unsicherheit, den ebenfalls das Aufnahmeland finanziert – bei Ausschöpfung aller Instanzen und Rechtsmittel vergehen hier in der Regel mehrere Jahre. Wird die „Flüchtlingseigenschaft“ im Verfahren nicht zuerkannt, dann sind die Kosten der Anreise verloren. Wer sich dann nicht in sein Herkunftsland zurückbringen lassen möchte, dem bleiben nur Flucht in die Illegalität oder Weiterreise, wieder ohne eine echte Perspektive eines legalen Aufenthalts.
Geringe Bedeutung
„Hilfe vor Ort“ hilft freilich jenen nicht, die sie aufgrund der Verhältnisse im Herkunftsland nicht erreichen kann, Resettlement versorgt nur einen kleinen Teil der Hilfsbedürftigen – die Zahl der Plätze im Rahmen geordneter Resettlement-Programme beträgt üblicherweise weniger als fünf Prozent des weltweiten Bedarfs. EU-weit ist Resettlement traditionell von geringerer Bedeutung, etwa die Hälfte der Plätze stellen die USA und Kanada zur Verfügung. 2016, während der Regierungszeit von Barack Obama, bestritten die USA allein fast zwei Drittel des Volumens.
Während die klassische Asylschiene für die traditionellen westlichen Einwanderungsländer USA, Kanada, Australien, Neuseeland eine eher untergeordnete Rolle spielt, ist sie in Europa das dominierende Instrument humanitärer Aufnahme, mit allen damit verbundenen Nachteilen. Die Genfer Flüchtlingskonvention regelt nur das Verfahren an der Grenze des jeweiligen Aufnahmelandes beziehungsweise nach einem (legalen oder illegalen) Grenzübertritt, sie verbietet in keiner Weise, den Weg dorthin so schwierig und kostenintensiv wie möglich zu gestalten.
Das effektivste und von den klassischen Einwanderungsländern intensiv genutzte Instrument zur Vermeidung von Flüchtlingsströmen sind restriktive Visabestimmungen. Fluggesellschaften drohen hohe Strafen, wenn sie Passagiere entgegen den jeweiligen Visaregeln befördern; werden Asylanträge in größerer Zahl auf der Basis von Touristenvisa gestellt, wird häufig flexibel reagiert. So hat etwa Kanada mehrmals die Visumspflicht über tschechische Staatsbürger verhängt, nachdem einige Hundert tschechische Roma Asylanträge auf Basis von Touristenvisa stellten. An der einzigen Landgrenze verfügt Kanada seit einigen Jahren über ein Rücknahmeabkommen, das eine formelle Rückweisung in die USA ohne kanadische Asyloption ermöglicht.
Auf ganzer Breite versagt
Europa ist allein schon aus geopolitischen Gründen in einer sehr viel weniger komfortablen Situation und kann an seiner schwierigen Außengrenze nicht mit ähnlich einfachen Mitteln wie Kanada reagieren. Der Türkei-Deal skizzierte zwar einen realpolitisch gangbaren Weg, hat aber in seinem zentralen Element, den Rückführungen beziehungsweise dem darauf basierenden Austauschmechanismus, der geordnetes syrisches Resettlement nach Europa ermöglichen sollte, auf ganzer Breite versagt. Aber Europa spricht auch nicht mit einer Stimme, lässt sich von Partikularinteressen leiten und erreicht keinen gesellschaftlichen Konsens über die Ziele von Asylpolitik überhaupt. Die Früchte dieser Situation ernten regelmäßig Parteien des konservativen bis rechten Spektrums.
Eine geordnete Diskussion müsste zunächst Ziele und Perspektiven definieren, die Möglichkeiten beim Grenzregime evaluieren und einen realistischen Blick auf das, was der alte Kontinent im Asylbereich überhaupt leisten kann, entwickeln. Die Genfer Flüchtlingskonvention steht dem nicht im Wege, sie hat den (politisch, religiös, ethnisch) verfolgten Einzelfall im Auge, und hier kann Europa nach wie vor das leisten, was der Anglofone „make a difference“ nennt. Die durch die Globalisierung in großem Stil ermöglichte „gemischte Migration“, also die Vermengung von Arbeits- und Asylmigration, dagegen hat das Potenzial, das System sowohl materiell als auch politisch zu überlasten.
Ob hier, wie Migrationsforscherin Judith Kohlenberger in ihrem Gastkommentar meint, „mehr Durchlässigkeit zwischen humanitärer und Arbeitsmigrationsschiene“ zur Problemlösung beitragen kann, wird man jedenfalls kritisch hinterfragen müssen. Der bestehenden Dysfunktionalität der europäischen Asylpraxis werden solche Ansätze kaum entgegenwirken. (Christoph Landerer, 3.8.2021)
Christoph Landerer ist Kulturwissenschafter in Salzburg und Wien.
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