Dies & Das: Nur Bagger werden der Algen an bretonischen Küstenabschnitten noch Herr

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Rod Ackermann, Roscoff (Bretagne)

17.07.2021

Nur Bagger werden der Algen an bretonischen Küstenabschnitten noch Herr

«La marée verte», die grüne Flut, verwandelt seit Jahrzehnten im Norden der Bretagne Küstenstreifen in schleimige und mitunter giftige Strände. In Paris nimmt man das Problem erst seit ein paar Jahren ernst.

Es war eine sehenswerte, wenn nicht beklemmende Szene: ein paar Hundertschaften von Demonstranten, die an einem Strand im Département Côtes-d’Armor auf alle viere niedergingen, um – symbolisch für die von ihnen bemängelte Einstellung der Obrigkeit – den Kopf in den Sand zu stecken. Ob Ortsansässige oder Besitzer von Ferienhäusern, Junge oder Senioren, Links- oder Rechtswähler: Sie alle forderten mit ihrer Aktion die Behörden zu schnellerem und entschlossenerem Handeln gegen die sogenannte «marée verte» auf.

Gemeint ist damit die infolge Intensivpraktiken der Landwirtschaft entstandene grüne Flut von Algen (Spezies der Gattung Ulva), die an zahlreichen Küstenstreifen der nördlichen Bretagne, vor allem aber in der Bucht von Saint-Brieuc, eine Bedrohung für die Gesundheit von Mensch und Tier wie auch für die Umwelt mitsamt der lokalen Wirtschaft darstellt. Erstmals aufgetaucht Anfang der 1970er Jahre, doch lange Zeit weder als Gefahr wahrgenommen noch ernsthaft bekämpft, ist das seltsame Grün längst zum umstrittenen Politikum geworden.

Der Kopf-in-den-Sand-Protest erregte einiges Aufsehen und hatte Wirkung bis auf höchster Ebene. Jedenfalls stellte die «Cour des comptes», der staatliche Rechnungshof in Paris, wenig später in einem provisorischen Rapport fest, dass die bisher zur Eindämmung der grünen Flut vorgekehrten Massnahmen mit Gesamtaufwendungen von 110 Millionen Euro nicht ausreichend gewesen seien. Anderseits läuft noch bis Mitte September eine durch zahlreiche bretonische Persönlichkeiten – unter ihnen der über die Landesgrenzen hinaus bekannte Musiker, Sänger und Komponist Alan Stivell – ermutigte Unterschriftensammlung zwecks Alarmierung der Öffentlichkeit.

Zwar ist nicht zu leugnen, dass behördlicherseits häufiger zur Tat geschritten wird als auch schon, doch stellt sich die Frage nach der Effizienz, zu schweigen vom politischen Willen. Das Vorgehen sei zu lasch, wird nicht zuletzt durch Wissenschafter moniert, die Rücksichtnahme auf die für die «marée verte» hauptsächlich verantwortliche Landwirtschaft mit ihren Düngemethoden zu gross. Allerdings ist statistisch festgestellt, dass die Verwendung von Stickstoff und Nitriten im Verlauf der letzten Jahre zurückging. Im Grundwasserspiegel bleiben sie allerdings noch lange enthalten.

Übelriechende Ernte

Wie jedes Jahr sind auch diesmal seit Mitte Mai an verschiedenen Sektoren der Kanalküste spezialisierte Arbeitsteams daran, die in Schichten von 30 bis 40 Zentimetern Dicke und mehreren hundert Metern Länge angeschwemmten Algen mit Baggern einzusammeln. Das geschieht vorzugsweise bei Ebbe und in dem Bestreben, möglichst wenig Sand mitzunehmen, hängt indes auch von der in der Bretagne notorisch wechselhaften Wetterlage ab – Regen lässt die Zellen der Algen buchstäblich explodieren, was ihre Zersetzung beschleunigt. Die übelriechende Ernte wird sodann auf Lastwagen verladen und in die 25 Kilometer entfernte Transformationsanlage von Lantic weggeschafft, wo man sie dehydriert und grösstenteils zu Kompost verarbeitet.

Am Strand von Hillion werden die schleimigen Algen vor Beginn der Sommersaison entfernt.
Imago

Ein Augenschein an einem der Schauplätze hinterlässt gemischte Gefühle. Badegäste oder Touristen sind keine zu sehen, über dem Gelände schwebt der Gestank von faulen Eiern, die Arbeiter sind mit Schutzmaske sowie Gasmesser ausgestattet. Mit gutem Grund, denn der Schwefelwasserstoff, der beim Durchbrechen der oberflächlich verkrusteten Algenschichten entweicht, ist hochgiftig. Mehrere Strände sind fürs Publikum gesperrt, vom Jogging wird abgeraten, da bei jedem Schritt auf der grünlichen Unterlage das stinkende, farblose Gas austritt. In den vergangenen dreissig Jahren sollen deswegen drei Menschen und einige Dutzend Haustiere umgekommen sein.

Sommer für Sommer werden im Durchschnitt 10 000 Tonnen der schleimigen Masse entfernt, der Hauptteil davon zwischen Mitte Juni und Ende Juli. Der Rekord wurde im regnerischen Sommer 2019 mit 12 000 Tonnen aufgestellt – zu viel für die fachgerechte Verarbeitung im Werk von Lantic. Heuer rechnet man wieder mit gut 10 000 Tonnen, die bis Ende September eingesammelt werden sollen. Die Arbeit konzentriert sich auf die sandbedeckten Küstenabschnitte; in den felsigen Teilen ist ein wirksames Vorgehen nicht möglich. Ein Ende dieser Sisyphusarbeit ist kaum abzusehen; selbst im günstigsten Fall dürfte sie noch ein Jahrzehnt lang andauern, je nachdem, wie energisch die Behörden vorgehen.

Ultimatum aus Paris

Diese liessen sich mit der Bekämpfung der von Umweltkritikern als «Geissel für die Gesundheit» apostrophierten grünen Flut bisher geraume Zeit. So wurde das Werk von Lantic erst vor elf Jahren in Betrieb genommen; zuvor waren die Algen planlos – teilweise in wilden Deponien im Landesinneren – ausgeschüttet worden. Zögerliche Einschränkungen des landwirtschaftlichen Gebrauchs von Düngemitteln hatten nicht den gewünschten Erfolg, als Sündenbock gebrandmarkt wurde die in dieser Region besonders aktive Schweinezucht. Behördliche Massnahmen auf lokaler, regionaler und schliesslich Regierungsebene waren meist ungenügend kontrolliert und koordiniert. Jetzt hat das Agrarministerium in Paris auf Ende September ein Ultimatum angesetzt.

Einstweilen hat das politisch einflussreiche satirische Wochenblatt «Le Canard enchaîné» mit seiner ihm eigenen, oft boshaften Sichtweise eine allseits zufriedenstellende Lösung vorgeschlagen. Man solle doch eine neue bretonische Schweinerasse züchten, die sich ausschliesslich von Algen der grünen Flut ernähre, womit der Kreis geschlossen werden könne.

Luftaufnahme des Strandes von Saint-Michel-en-Grève, einem Dorf in der Bretagne.
Imago