Dies & Das: Die Zahl der Menschen im Arbeitsalter sinkt

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Jobmarkt

András Szigetvari

24. Oktober 2021

Die Zahl der Menschen im Arbeitsalter sinkt: Werden Frauen und Zuwanderer die Lücke schließen?

Nach einem langen Anstieg folgt die Trendwende: 2022 soll die Zahl der Menschen im erwerbsfähigen Alter sinken. Betriebe werden um ältere Frauen und Migranten kämpfen müssen

Mehr Frauen dürften auf den Arbeitsmarkt drängen
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Es war ein harter Kampf, besonders die Suche nach einer Wohnung. Aber jetzt ist Agnes bereit für Wien. Am kommenden Mittwoch wird die 50-Jährige auf Wiedersehen zu ihrem alten Zuhause in Budapest sagen, in ihr vollgepacktes Auto steigen und gemeinsam mit ihrem 20-jährigen Sohn Richtung Österreich losfahren. Die beiden ziehen nach Hernals.

Einen Job hat Agnes, eine gelernte Dolmetscherin, schon in Aussicht. Sie kann in einem Wiener Institut anfangen, in dem Kinder ungarischer Einwanderer in ihrer Muttersprache unterrichtet werden. „Es ist ein Risiko, der Neubeginn ist mit vielen Unsicherheiten verbunden“, sagt sie. „Aber ich freue mich darauf.“

Ein Neustart mit 50 ist nichts Alltägliches. Aber in ökonomischer Hinsicht ist die Geschichte der Ungarin symbolisch für jene Umwälzungen, die gerade den österreichischen Arbeitsmarkt erfassen. Demografische Veränderungen sorgen dafür, dass es immer schwerer wird für heimische Betriebe, Arbeitskräfte im Inland zu finden. Für dieses Problem gibt es eine Lösung: Man findet sie vor allem bei österreichischen Frauen und Migranten wie Agnes.

Hunger auf Arbeitskräfte

Das sichtbarste Zeichen der Veränderung lässt sich aus einer Statistik über Menschen im erwerbsfähigen Alter herauslesen. Zum ersten Mal seit 46 Jahren soll die Zahl der Menschen im Alter zwischen 15 und 64, die in Österreich leben, im kommenden Jahr sinken. Die Entwicklung kommt auf leisen Sohlen daher, wird sich jedoch beschleunigen. Bis 2030 wird es um rund 170.000 Menschen weniger im Erwerbsalter geben, zeigt die Bevölkerungsprognose der Statistik Austria.

Für ein Land ohne großes Wirtschaftswachstum wäre das weniger ein Problem. Doch Österreichs Betriebe hatten zuletzt geradezu einen Heißhunger auf Arbeitskräfte. Allein in den vergangenen zehn Jahren fand eine halbe Million Menschen zusätzlich Beschäftigung.

Kräfte wirken weiter

Nichts deutet darauf hin, dass die Triebkräfte hinter dieser Entwicklung schwächer werden. Die Exportindustrie brummt. Die Eroberung neuer Märkte durch heimische Banken und Finanzdienstleister in Osteuropa bleibt ungefährdet. Der Inlandskonsum zieht nach Corona-bedingter Pause wieder an. Für das kommende Jahr erwarten Ökonomen ein kräftiges Wachstum.

Wenn die demografische Lücke nicht geschlossen wird, dann sind die Geschichten, die jetzt über Unternehmer kursieren, die keine Mitarbeiter finden, erst Vorboten einer größeren Krise. Wie also kann der Bedarf an Arbeitskräften künftig gedeckt werden? Die erste Antwort lautet: so wie bisher. Durch Migration. Durch Menschen wie Agnes.

Was wäre der Bau ohne ausländische Arbeitskräfte?
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ÖVP und FPÖ brüsten sich mit einem harten Kurs in Migrationsfragen. Immer wieder wird politisch debattiert, ob Österreich ein Einwanderungsland ist. Mit der Realität hat das nichts zu tun.

Schon in den vergangenen Jahren ist ein großer Teil der neu geschaffenen Jobs an ausländische Staatsbürger gegangen. Diese Tendenz wird sich noch verstärken, weil geburtenstarke inländische Jahrgänge nun in Pension gehen. Die Folge: Laut einer Prognose des Forschungsinstituts Wifo entfallen heuer 67 Prozent der zusätzlich geschaffenen Beschäftigung auf ausländische Staatsbürger. Im kommenden Jahr sind es sogar 75 Prozent.

Einerseits geht es um bereits hier lebende Menschen, die neu auf den Arbeitsmarkt kommen, etwa Geflüchtete. Weiter zunehmen wird aber vor allem die Zuwanderung aus Ungarn, Rumänien, Kroatien. Dank der EU-Arbeitnehmerfreizügigkeit können diese Menschen herkommen, ohne dass die Politik Einfluss darauf nehmen kann.

Die Pendler kommen

Noch eine Entwicklung ist interessant. Immer mehr Menschen pendeln aus Nachbarländern, vor allem aus Ungarn, täglich zu ihrem Arbeitsplatz nach Österreich. Aktuell gibt es 130.000 Einpendler, die in Supermärkten, Restaurants und auf Baustellen arbeiten. Das ist ein Rekordwert. Es scheint fast, als hätte es nie Corona und Grenzschließungen gegeben.

Ab 2024 wird das Frauenpensionsalter von aktuell 60 Jahren angehoben. Schrittweise, jedes Jahr um sechs Monate, bis es dem der Männer angeglichen ist. Experten erwarten zudem, dass die Frauenerwerbsbeteiligung weiter steigt, etwa weil Karenzzeiten kürzer werden.

Neben Migranten sind es also Frauen, besonders ältere, die helfen werden, die Lücke am Arbeitsmarkt zu schließen, sagt der Ökonom Stefan Schiman vom Wifo.

Welche Veränderungen bringt das mit sich? Die Unternehmen, das gesamte Land, werden diesen Menschen etwas bieten müssen. So viel zeichnet sich schon ab. Denn garantiert ist es ja nicht, dass Frauen bereit sind, mehr und öfter zu arbeiten. Auch Migranten haben Alternativen zu Österreich. Und ältere Menschen werden zwar künftig mehr gebraucht, sind aber heute oft Altersdiskriminierung ausgesetzt.

Wer kann zaubern?

Vermessen kann man die Veränderungen zunächst bei den Jungen. „Die kommenden zehn Jahre werden ungleich schwieriger werden im Wettbewerb um die besten Köpfe und flinksten Hände“, sagt Christian Helmenstein, Chefökonom der Industriellenvereinigung (IV). Vor allem qualifizierte Arbeitnehmer werden öfter über dem Kollektivvertrag entlohnt werden müssen. AMS-Chef Johannes Kopf sieht das ähnlich. Der Jobmarkt werde Arbeitnehmern mehr Wahlmöglichkeiten bieten. Unternehmen werden „einiges an Zauber aufführen, um junge, qualifizierte Leute zu finden“, sagt Kopf. Für diese Gruppe werden die kommenden Jahre leichter werden.

Um die Frauenerwerbsbeteiligung zu steigern, wird es nicht reichen, wenn Löhne steigen. Ökonom Helmenstein glaubt, dass sich mehr Unternehmen zusammentun werden, um Betriebskindergärten zu gründen. Neben Kinderbetreuung wird es wichtiger werden, Arbeitszeiten so auszugestalten, dass diese mit dem Familienleben vereinbar sind. Aktuell klappern AMS-Berater über 7000 Betriebe ab, um Recruiting-Abteilungen dabei zu helfen, Arbeitskräften attraktivere Angebote zu machen, erzählt AMS-Chef Kopf. Ein Beispiel: Die Industrie brauche mehr Konzepte, damit Frauen auch in Teilzeit Schichtarbeit machen können.

Aber es geht nicht nur darum, junge Menschen anzuziehen. Wenn das Pensionsalter steigt, wird es Jobs geben müssen, in denen Ältere willkommen sind. Viele Arbeitgeber lehnen es ab, Menschen über 50 einzustellen. AMS-Chef Johannes Kopf nennt das „instant aging“. 50-jährige Mitarbeiter, die im Unternehmen arbeiten, sind oft gerngesehen ob ihrer Erfahrung. Einmal auf Jobsuche, kommen diese Leute aber kaum unter. Damit sich das ändert, braucht es einen Kulturwandel.

Einig sind sich Experten auch darin, dass es mehr Qualifizierung und Bildung brauchen wird. Das bedeute etwa höhere Investitionen in Kindergärten, sagt AMS-Chef Kopf, zugunsten von Kindern mit schwierigeren Startvoraussetzungen.

Attraktive Angebote wird es auch für Zuwanderer geben müssen. Die Lohnkluft zwischen Polen, Rumänien, Bulgarien, Ungarn und Österreich ist nach wie vor groß genug, damit Menschen von dort kommen. Auch politische Gründe spielen eine Rolle. Viele Ungarn erzählen, dass sie ihr Land wegen des autoritären Klimas verlassen.

Aber inzwischen fehlen auch in Teilen Osteuropas Arbeitskräfte. Die Bevölkerungszahlen in Ungarn, Rumänien und Bulgarien sind stark rückläufig. Ein großer Teil der Jungen ist schon weggegangen. Wer gut ausgebildete Menschen aus diesen Staaten weiter herlocken will, der wird zeigen müssen, dass diese Leute willkommen sind.

Kampfansage

Dazu kommt, dass in Westeuropa nicht nur Österreich mit der Demografie kämpft. Noch mehr trifft das auf Deutschland zu. Dort wollen SPD, Grüne und FDP den Mindestlohn 2022 um 25 Prozent auf zwölf Euro die Stunde anheben. Das kann auch als Kampfansage an ungelernte Arbeitskräfte aus Europa verstanden werden.

All das deutet darauf hin, dass die Löhne in Österreich, aber auch im Rest Europas künftig stärker steigen werden als in den vergangenen Jahren, sagt Ökonom Mario Holzner vom Osteuropainstitut Wiiw. Fix ist das nicht. Die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder in den meisten Industrieländern ist rückläufig, auch in Österreich. Ob Gewerkschaften höhere Löhne erkämpfen können?

Darüber, was sie verdienen wird, macht sich die Ungarin Agnes derzeit wenige Gedanken. Zunächst will sie Wien kennenlernen, Behördenwege erledigen. Hilfe dabei bekommt sie in sozialen Medien, etwa via Facebook. In Gruppen für Migranten wie „Bécsi Magyarok“ (Ungarn in Wien) oder „Women of Vienna“ findet ein reger Austausch statt. Was auf diesen Plattformen auch immer öfter auftaucht: Beiträge, in denen freie Stellen beworben werden. (András Szigetvari, 24.10.2021)