Dies & Das: Wie ein Wald wieder zur Wildnis wird

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Naturjuwel

Alois Pumhösel

24. Oktober 2021

Wie ein Wald wieder zur Wildnis wird

Rund um einen Urwaldrest wurde das Wildnisgebiet Dürrenstein-Lassingtal aufgebaut. Nach Jahren der Verhandlungen wurde es nun auf steirischer Seite erweitert

Der Rothwald hat die vergangenen 12.000 Jahre seit der letzten Eiszeit nahezu unberührt überdauert.
Foto: Theo Kust

Ziehen sich die Menschen aus dem Wald zurück, beginnt die Natur, ihre davor unterdrückten, komplexen Netzwerke zu knüpfen – langsam, aber beständig. Dort, wo die menschlichen Eingriffe am größten waren, starten auch die ersten Veränderungen: Borkenkäfer hinterlassen vielleicht bald erste Löcher in den Fichtenkulturen. Das Totholz bleibt liegen und wird langsam zu Humus. Es lässt selten gewordene Insektenarten zurückkehren, die hier Nahrung und Unterschlupf finden. Ihnen folgen größere Tiere wie Vögel oder Nagetiere. In den durch Käferbefall, Windwurf oder Lawinen entstandenen Lichtungen siedeln neue, naturnahe Baumartengesellschaften.

Das Wildnisgebiet Dürrenstein-Lassingtal ist einer der raren Orte, an denen diese Entwicklung gerade beginnt. Ein vom Menschen überprägter Wald wird hier wieder zur Wildnis. Bisher hatte bereits eine Fläche von etwa 3500 Hektar im Süden Niederösterreichs den Status eines Wildnisgebiets. Nun wurde diese Fläche auf der steirischen Seite – im Lassingtal, das nun auch Teil des Schutzgebiets wurde – verdoppelt.

Uralter Lebensraum

Ausgangspunkt der Bemühungen ist ein besonderes Naturjuwel, das inmitten aller bisherigen Wildnisgebietumwidmungen liegt: Im Schatten des Dürrensteins befindet sich der größte verbliebene Urwaldrest Mitteleuropas – mehrere Hundert Hektar Wald, die seit der letzten Eiszeit vor 12.000 Jahren ohne größere menschliche Eingriffe überdauert haben. Bäume werden hier nicht 80 Jahre alt, um dann entnommen zu werden, sondern bis zu 1000 Jahre. Sie bilden die Basis eines vielseitigen und dicht besiedelten Lebensraums, in dem noch Luchse, Steinadler und Alpensalamander leben.

Der Lassingbach, der das neue Gebiet durchfließt, ist so gut wie freifließend.
Foto: Theo Kust

Die Wildbiologin Nina Schönemann ist Teil der Wildnisgebietverwaltung und hat den langen Erweiterungsprozess begleitet. Für sie ist das Lassingtal ein „wahnsinnig wertvolles Gebiet“ – und das aus mehreren Gründen: Der Lassingbach, der das Gebiet durchfließt, ist noch nahezu freifließend. „Die vorhandenen Schutzbauten kann man an einer Hand abzählen“, erzählt die Ökologin. „Gewässer sind empfindlicher als andere Ökosysteme, Störungen wirken sich besonders stark aus. Hier darf sich aber das Bachbett noch ausbreiten und große Schotterbänke anhäufen.“ Dazu kommt, dass Wasser aus dem „originalen“ Urwald jenseits der Bundeslandgrenze in den Lassingbach abfließt.

Konflikt als Glücksfall

Der Umstand, dass hier eine Grenze nicht deckungsgleich mit der Wasserscheide ist, war wesentlich dafür verantwortlich, dass der alpine Naturwald trotz der mehr als tausendjährigen Bewirtschaftungsgeschichte der regionalen Wälder bestehen blieb. „Es gab hier Nutzungskonflikte zwischen den Verwaltungen der Kartause Gaming im Norden und des Stifts Admont im Süden“, blickt Schönemann zurück. „Der Urwald gehörte zu Gaming, liegt aber jenseits der Wasserscheide. Das Holz wäre beim Driften im Bach also auf der falschen Seite gelandet.“

Das neue Wildnisgebiet auf steirischer Seite schließt nun direkt an den Urwald an, was auch die Migration von Tieren und Pflanzen erleichtert. Gleichzeitig ist das langgezogene Tal gut vor Verschmutzungen und Emissionen geschützt, betont Schönemann. Dazu kommt, dass das Areal dank seiner Unzugänglichkeit vergleichsweise wenig intensiv bewirtschaftet wurde. Große Teile des Waldes sind nicht gepflanzt, sondern durch Naturverjüngung entstanden. „Es ist von vornherein viel Biodiversität vorhanden. Das Ökosystem ist gut vernetzt. Viele Nischen sind besetzt, sodass kaum Eindringlinge Fuß fassen konnten“, beschreibt die Ökologin.

So sind im Lassingtal noch viele Rotbuchen zu finden. Einst waren die Buchen die dominierende Baumart in den Wäldern Europas. Heute sind alte Buchenwälder oder gar -urwälder auf wenige Standorte zurückgedrängt. „Buchen sind hochgradig vernetzt mit anderen Lebewesen – nicht nur mit Mikroorganismen, Pilzen und Insekten, sondern auch mit Vogel- oder Eulenarten. Im Zuge ihrer Ausbreitung haben sie viele Organismen mitgebracht und über den ganzen Kontinent verteilt“, beschreibt Schönemann. „Dass eine Baumart einen Lebensraum so maßgeblich beeinflusst, ist einzigartig.“

Unesco-Weltnaturerbe

Bereits seit 2017 sind die Buchen des Wildnisgebiets von der Unesco als Weltnaturerbe eingestuft, gemeinsam mit jenen des Nationalparks Kalkalpen. Gemeinsam mit dutzenden weiteren Standorten, die ein europaweites Netzwerk bilden, sollen die einzigartigen Naturräume erhalten werden. Im Wildnisgebiet geht man davon aus, dass im Lassingtal langfristig ein Mischwald entsteht, der von Fichten, Tannen und Buchen geprägt ist.

Die Vernetzung der Organismen, von der Schönemann spricht, geht in den ökonomisch genutzten Wäldern von heute weitgehend verloren. Die Expertin hebt etwa die Mykorrhizapilze hervor, kleinste Geflechte am Wurzelwerk der Bäume, die hier Energie gegen Nährstoffe tauschen. Gleichzeitig sind die Bäume durch die weitläufigen unterirdischen Pilzfädennetzwerke mit anderen Pflanzen verbunden. Schadstoffe, Bodenverdichtung und Bäume, die nicht vor Ort keimen, sondern aus der Baumschule kommen, behindern die Entwicklung derartiger Strukturen.

Wurzeln einer alten Eibe. In unbewirtschafteten Wäldern können Bäume mehrere Hundert Jahre alt werden.
Foto: Hans Glader

In Zukunft werde man die Resilienz, die die Netzwerke eines naturnahen Waldes bieten, auch in Wirtschaftswäldern brauchen, glaubt Schönemann. „Mit dem Klimawandel wird es keinen anderen Weg geben. Es braucht flexible und robuste Wälder. Man wird nur ökonomisch erfolgreich sein, indem man auf die Ökologie Rücksicht nimmt.“

Dass der Urwald trotz der intensiven Waldnutzung bis heute erhalten blieb, ist nicht nur den rivalisierenden Kirchenmännern von einst zu verdanken. Eine ganze Reihe von Entwicklungen spielte zusammen: etwa der Aufstieg der fossilen Brennstoffe, die Holzkohle als Energieträger ablösten und die Waldnutzung veränderten. Dem Naturromantikfaible des damaligen Eigentümers Albert Rothschild ist es zu verdanken, dass 1875 die Nutzung des Waldes unterbunden wurde. 1942 wurde ein erster Teil des nun Rothwald genannten Urwalds unter Schutz gestellt, 1988 schließlich ein zweiter.

Langwierige Verhandlungen

Im Rahmen eines von der EU geförderten Life-Projekts entstand schließlich ab 1997 das heutige Wildnisgebiet, das den strengen Kriterien der Weltnaturschutzunion (IUCN) entspricht. Mit der Anerkennung durch die Organisation war auch die Auflage verknüpft, das Gebiet möglichst zu erweitern – je größer es ist, desto besser können sich die Naturwaldstrukturen etablieren. Bis 2014 kamen weitere Gebiete in Niederösterreich dazu. Längst war aber auch das Lassingtal in der Steiermark im Gespräch. Doch bis diese Erweiterung schlagend wurde, mussten zuerst die Untiefen des österreichischen Föderalismus durchschifft werden.

„Naturschutz ist Ländersache. Erstreckt sich ein Naturschutzgebiet über zwei Bundesländer, gibt es auch zwei Verwaltungen, die für die jeweils eigenen Flächen zuständig sind“, sagt Schönemann. „Doch die IUCN setzt voraus, dass es nur eine Verwaltung geben darf.“ Es bedurfte langer juristischer Detailarbeit, um die gemeinsamen Wildnisgebietregeln in zwei Verordnungen zu gießen, die den jeweiligen Bundesländergesetzen entsprachen.

Führungen zum Urwald sind streng reglementiert.
Foto: Theo Kust

Gleichzeitig musste man sich mit vielen Waldnutzern auseinandersetzen. „Gerade in Mitteleuropa ist es schwer, Flächen völlig aus der Nutzung zu nehmen. Nicht nur die Forstwirtschaft hat hier ein Interesse. Es gibt die Jagd, die Fischerei, Quellenbesitzer, alte Servitutenrechte oder Menschen, die Angst haben, im nahegelegenen Wald nicht mehr spazieren gehen zu dürfen“, zählt Schönemann auf. Insgesamt dauerten die Verhandlungen mehr als zehn Jahre. Am Ende fiel die Erweiterung kleiner aus als ursprünglich geplant. Das Wildnisgebiet ist aber nun das erste Schutzgebiet Österreichs, in dem Gebiete zweier Bundesländer von einer Verwaltung gemanagt werden, sagt die Ökologin.

Reglementierter Tourismus

Führungen zum Urwald sind streng reglementiert. Sie dienen der Erfüllung des Bildungsauftrags, nicht touristischen Zielen, sagt Schönemann. Gleichzeitig soll das Wildnisgebiet aber natürlich auch mehr Gäste in die Region bringen. Erlebniswege, die etwa den Eulen oder Buchen gewidmet sind, sollen Naturerfahrungen und Wissen vermitteln. In Lunz am See wurde ein eigenes „Haus der Wildnis“ eröffnet, das mittels Virtual-Reality-Brillen und anderer technischer Hilfsmittel Einblicke in die Naturwaldökologie gibt.

Nachdem die Erweiterung – zumindest vorerst – abgeschlossen ist, rückt der Fokus wieder stärker hin zur Forschung. „Aus der Klima- und Biodiversitätskrise entstehen vielfältige Forschungsfragen, denen wir uns im Wildnisgebiet widmen möchten“, sagt Schönemann. In der Vergangenheit waren etwa die Ausbreitung von Borkenkäfern oder die Verdrängung des Alpenschneehuhns durch die Erderwärmung Themen wissenschaftlicher Projekte. Eines der kommenden Forschungsziele liegt auf der Hand: Die beginnende Transformation des neuen Wildnisgebiets in der Steiermark soll untersucht und begleitet werden.

Der erste Schritt wird eine Inventur des bestehenden Walds sein. Auf dieser Basis kann dann verfolgt werden, wie sich die Biodiversität eines aus der Nutzung genommenen Waldes ändert. Schönemann: „Wie viel Totholz muss da sein, damit sich das ökologische Zusammenspiel maßgeblich verändert? Welche Strukturen braucht es, bevor neue Spezies auftauchen? Wir werden auf viele ökologische Fragestellungen neue Antworten geben können.“ (Alois Pumhösel, 24.10.2021)

WISSEN: Die letzten Urwälder Europas

In Russland, Kanada und Brasilien befinden sich die weltweit größten Flächen an Primärwald – auch Urwald genannt. Während die Areale dort mehrere Hundert Millionen Hektar umfassen, muss man in Europa schon genauer hinsehen, um die verbliebenen Urwaldreste zu finden.

Denn im Grunde gilt ein Wald nur dann als Urwald, wenn er tatsächlich weitgehend unberührt ist – in Europa bedeutet das also keine Einflussnahme seit der Entstehung der Wälder nach der letzten Eiszeit. Während in prähistorischer Zeit wohl 80 Prozent des ganzen Kontinents von Urwäldern bedeckt waren, fielen sie dem Energiehunger und dem Bedarf des Menschen an Baumaterialien für Häuser, Schiffe und Waffen zum Opfer.

Heute wird meist auf nur noch drei nennenswerte Urwaldreste auf dem europäischen Kontinent verwiesen. Einer davon ist der Urwald im Wildnisgebiet Dürrenstein-Lassingtal mit etwa 400 Hektar Größe. Ein anderer liegt im polnisch-weißrussischen Grenzgebiet: Der Białowież a-Urwald umfasst etwa 140.000 Hektar. Illegaler Holzeinschlag ließ das Gebiet bereits mehrmals zum Streitobjekt zwischen EU-Behörden und Polen werden.

Die wohl größten Urwälder in der gemäßigten Klimazone Europas liegen in den Karpaten in Rumänien, etwa im Făgăraș-Gebirge. Die Bestände sind hier allerdings nicht genau dokumentiert. Vor allem seit dem EU-Beitritt des Landes wurden diese Urwälder vielfach Opfer von illegalem Einschlag. (pum)

Wildnisgebiet Dürrenstein-Lassingtal

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