Dies & Das: Es ist eine riesige stille Revolution am Arbeitsmarkt im Gange

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Es ist eine riesige stille Revolution am Arbeitsmarkt im Gange

Verstärkt durch die Pandemie, Kurzarbeit und Homeoffice ist ein neues Selbstbewusstsein entstanden. Viele Menschen haben sich wirklich überlegt, wie sie arbeiten wollen

Wie kann es sein, dass Tausende plötzlich bereit sind zu kündigen, wenn sie nicht örtlich flexibel arbeiten können oder auf 30 Stunden zurückfahren dürfen?
Foto: dpa/Bernd Wüstneck

Kaum Mitarbeiter zu kriegen, kaum Bauteile zu ergattern, enorm steigende Preise für Grundmaterialien, in die Höhe schnellende Energiepreise – vom großen Leitbetrieb über den Tourismusbereich bis zur lokalen Bäckerei haben derzeit fast alle Unternehmen sehr ähnliche Probleme.

Bei den Rohstoffen greifen marktwirtschaftliche Erklärungsmodelle recht gut: China etwa fährt die Magnesitproduktion zurück, was Aluminium verknappt. Das macht die Not nicht kleiner, aber zumindest erklärlich.

Bereitschaft zur Kündigung

Anders ist die Lage beim Mangel sogenannter Humanressourcen. Dass in Spezialbereichen Expertinnen und Experten fehlen, ist noch zu verstehen. Aber: Wie kann es sein, dass Tausende plötzlich bereit sind zu kündigen, wenn sie nicht örtlich flexibel (also auch im Homeoffice) arbeiten können oder ihre Vollzeitbeschäftigung auf 30 Stunden zurückfahren dürfen? Wo bleiben Bewerbungen für angesehene Berufe – im Handwerk etwa fehlen 35.000 Menschen? Was ist im Tourismus los, was in der Pflege, in der Logistik?

Die Antwort darauf ist noch unangenehmer als die derzeitige Marktlage bei den Rohstoffen: Es ist eine riesige stille Revolution am Arbeitsmarkt im Gange. Gemeint ist nicht die demografische Kurve, laut der in Österreich ab kommendem Jahr mehr Menschen über 64 Jahre alt sind als Menschen zwischen 15 und 64 grundsätzlich am Arbeitsmarkt verfügbar.

30 Stunden, am liebsten zu Hause

Gemeint ist: Verstärkt durch die Pandemie, Kurzarbeit und Homeoffice ist ein neues Selbstbewusstsein entstanden. Viele Menschen haben sich wirklich überlegt, wie sie arbeiten wollen. Rund 30 Wochenstunden sind das laut allen Umfragen – und die am liebsten teilweise zu Hause.

Aber auch das ist erst die halbe Wahrheit. Die globale Beratungsfirma McKinsey hat gefragt, warum Leute jetzt ihren Job hinwerfen. Zu wenig Geld und zu wenig Work-Life-Balance? Weit gefehlt. Die Gründe sind: sich nicht wertgeschätzt zu fühlen und kein Gefühl der sinnhaften Arbeit und der Zugehörigkeit zu haben. In den USA heißt das Phänomen „the great resignation“ – Millionen haben in den vergangenen Monaten ihre Jobs hingeschmissen, weil sie eine andere Vorstellung von Arbeit haben, als Untergebene eines Managers zu sein. Das bringt Firmen in Existenzkrisen.

Bedingte Hilfe

Mehr Geld oder eine Prämie helfen, aber nur bedingt. Es geht, vor allem bei den Jungen, um viel, viel mehr: um den Abschied vom industriellen Arbeitsbild einer Ausbildung, einer kontrollierten Arbeit in Präsenz mit anschließender Pension. Es geht um das Einrichten einer menschlichen Arbeitswelt für moderne Lebensentwürfe. Und um Werte, mit denen sich Menschen wirklich identifizieren. Profit und Effizienz sind keine Werte. Beziehungsfähigkeit und Warmherzigkeit der Führungskräfte sind es sehr wohl.

Das kann auch bedeuten, dass Vier-Tage-Wochen die Norm werden. Firmen, die jetzt nicht verstehen, was sich da tut, werden sehr wahrscheinlich den Anschluss verpassen. (Karin Bauer, 27.10.2021)