Brasilien
Philipp Lichterbeck
31.10.2021
- Krieg um den Amazonas
- Brasiliens Ureinwohner werden brutal angegriffen
- „Ich bin traurig. Ich hätte diese Kerle gerne erwischt“
- Immer wieder geschehen Morde im Auftrag der Holzmafia
Krieg um den Amazonas
Bewaffnet mit Macheten, Flinten und fünf Sinnen: Die Krikati sind ein kleines Volk von Ureinwohnern in Brasilien. Von der Bolsonaro-Regierung alleine gelassen, verteidigen sie ihr Reservat auf eigene Faust gegen Holzfäller und Viehzüchter. Es ist ein lebensgefährlicher Kampf, den die Krikati auch für den Rest der Welt führen.
Als die vier Männer in der Nacht den Verschlag erreichen, durchtrennen sie die Umzäunung mit gezielten Machetenschlägen. Dann durchsuchen sie im Lichte ihrer Handylampen den einfachen Bau, der aus einem Holzgerüst mit Palmblätterdach besteht. Sie finden ein paar Hemden, Hosen und Decken, außerdem Säcke mit Reis, einige Kochtöpfe sowie einen Kanister mit Trinkwasser. Auf einer Ablage steht Maschinenöl. „Damit ölen die Holzfäller ihre Kettensägen“, sagt Paatep Krikati, der Anführer des kleinen Trupps. „Sie müssen mehrere Tage hier gewesen sein. Und sie werden wiederkommen.“ Paatep hatte den Unterschlupf am Ende eines kaum sichtbaren Dschungelpfades gefunden. „Die Holzfäller wollten ihn gut verbergen“, sagt er. „Aber wir Indigenen können den Wald lesen.“
Aus einer Plastikflasche schüttet Paatep, ein kleiner rundlicher Mann von 35 Jahren, Benzin aus. Er verteilt es auf Holz und Palmenblätter und zückt ein Feuerzeug. „Alle raus!“
Die Flammen lodern schon meterhoch, als plötzlich Schüsse durch die Nacht hallen. Die Männer greifen instinktiv nach ihren Flinten, richten sie in den Dschungel. Aber das Knallen stammt von explodierenden Schrotpatronen, die die Holzfäller im Dach des Verschlags versteckt hatten.
Das Abfackeln der Hütte trägt sich Ende Oktober im Reservat des indigenen Krikati-Volks im Nordosten Brasiliens zu. Es ist eine kleine Episode im großen Konflikt, der derzeit im Amazonasbecken eskaliert: Holzfäller, Rinderzüchter, Bauern, Goldsucher und Jäger dringen immer öfter und ungenierter in die Territorien der brasilianischen Ureinwohner ein. Sie fällen Bäume, brennen die Vegetation nieder, lassen Vieh weiden, pflanzen Getreide, vergiften die Flüsse, töten Wildtiere – und wenn es sein muss, auch Menschen. Sie schaffen Fakten, sie sind aggressiv und verletzen das Gesetz, das die Reservate streng schützt, aber in abgelegenen Regionen Brasilien oftmals das des Stärkeren ist. So auch hier im Westen des Bundesstaats Maranhão, einem der ärmsten Landstriche Brasiliens.
Doch tatenlos wollen die Krikati, ein Volk von rund 1300 Menschen, den Attacken nicht zuschauen. Sie haben beschlossen, ihr Land zu verteidigen: ihren Wald, ihre Flüsse, ihre Dörfer und nicht zuletzt auch ihre Lebensweise. Deswegen haben sie eine Waldwache gegründet, die „Guardiões da Floresta“ in ihrer Sprache: Pji Jamyr Catiji.
Insgesamt 14 Männer und eine Frau zählen zu der Freiwilligen-Truppe, die so oft wie möglich im Reservat patrouilliert und es mit den Invasoren aufnimmt. Wie im Krieg tragen sie schwere Stiefel und olivgrüne Uniformen, die sie von Spenden gekauft haben und auf deren Rückseite das Bild eines brüllenden Jaguars prangt. Bewaffnet sind sie mit Macheten, Schrotflinten und ihren fünf Sinnen. Auf der Suche nach dem Holzfäller-Versteck, fällt den Krikati jeder abgebrochene Zweig auf. Einmal folgen sie winzigen Blutspuren, die sie zu den Resten eines auf Bananenblättern ausgeweideten Affen führen. Später werden sie den kaum wahrnehmbaren Widerhall eines entfernten Schusses hören, den ein Jäger im Reservat abgefeuert hat.
Die Arbeit der Waldwächter ist gefährlich, schon mehrmals kam es zu Schusswechseln, bei denen aber niemand verletzt wurde. „Wir machen es für unsere Kinder und Enkel“, sagt Wilson Krikati, mit 53 Jahren der Senior der nächtlichen Expedition. „Ohne unser Land hätten sie kein gutes Leben mehr.“
Dabei verteidigen die Krikati viel mehr als nur ihr Reservat. Sie beschützen den Rest der Menschheit gleich mit, die vor der Schicksalsfrage steht, wie der Klimawandel noch zu bremsen ist. Entscheidend dafür wäre ein intakter Wald im Amazonasbecken, der enorme Mengen an Kohlenstoff aufnehmen kann und außerdem als gigantische Wasserumwälzmaschine funktioniert. Es versorgt große Regionen Südamerikas mit Regen, die andernfalls versteppen würden. In einigen Regionen hat dieser Prozesses bereits begonnen.
Um die Zerstörung des Amazonaswaldes aufzuhalten, braucht man seine Ureinwohner, niemand schützt ihn besser als sie. Zu diesem Fazit kam im März eine Studie der UN-Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation (FAO). Nirgends sei die Natur intakter als in den indigenen Territorien, heißt es darin emphatisch.
Brasiliens Ureinwohner werden brutal angegriffen
Das Reservat der Krikati ist eins von fast 500 anerkannten Indigenen-Territorien in Brasilien, sie nehmen rund 13 Prozent der Landesfläche ein und genießen den Schutz der Verfassung von 1988. Sie sagt, dass einzig die Ureinwohner in ihren Reservaten das Sagen haben und sonst niemand. So weit das Recht.
In der Realität werden Brasiliens Ureinwohner immer brutaler angegriffen. Täglich gibt es Meldungen über Holzfäller, Goldsucher und Viehzüchter, die in ihre Reservate eindringen. Im Reservat des Yanomami-Volks im Nordosten Brasiliens haben sich bereits 20000 Goldsucher breitgemacht. Sie attackieren Indigenen-Dörfer mit Schusswaffen.
Im Reservat der Piripkura, die noch isoliert von der Außenwelt leben, wurden in diesem August 3.400 Hektar Wald abgebrannt. Den wenigen Piripkura drohe die Ausrottung, so die NGO Instituto Socioambiental (ISA). Besonders hart trifft es die Reservate am großen Xingu-Fluss im südöstlichen Amazonasbecken. Sie bilden eine Art Barriere gegen das Vordringen der Agrarindustrie nach Norden. Wie lange sie noch hält, ist fraglich. Dieses Jahr nahm die Waldzerstörung dort um 50 Prozent im Vergleich zum Vorjahr zu.
Die Zukunft Amazoniens, sie wird in Brasiliens Indigenen-Reservaten entschieden. Die Krikati kämpfen an vorderster Front.
„Ich bin traurig. Ich hätte diese Kerle gerne erwischt“
Nach erfüllter Mission stapfen Paatep und die drei anderen zurück zu ihren Motorrädern, die sie am Waldrand abgestellt haben, um keinen Lärm zu machen. Rechts und links erhellt das Mondlicht die Schneise der Verwüstung, die die Holzfäller hinterlassen haben. Der feuchte Boden ist von Reifenspuren zerfurcht, umgestürzte Bäume liegen umher, ebenso leere Benzinkanister, aus denen die Motorsägen betankt wurden. „Ich bin traurig“, sagt Paatep Krikati düster. „Ich hätte die Kerle gerne erwischt. Ich wollte sie verhören. Wer bezahlt sie, wer finanziert ihre Maschinen, in welches Sägewerk gehen die Stämme? Aber wahrscheinlich hätten sie nichts gesagt. Es sind sture Gesellen und sie fürchten ihre Auftraggeber. Es ist eine Mafia.“
Bevor sie ihre Motorräder anlassen, rauchen die Krikati selbstgedrehte Zigaretten. Um sie herum pfeift und gluckst und ruft der Wald. Paatep erzählt, wie man vor ein paar Tagen einen Jäger gestellt habe, der vor Schreck gezittert und laut gepupst habe. „Ich sagte den anderen in unserer Sprache, dass sie nicht lachen dürften und ernst bleiben müssten, aber es war nicht einfach.“ Sie hätten ihm dann das Motorrad abgenommen. Jetzt lachen die vier Männer, ihre Anspannung schwindet und auch Paateps Gesicht hellt sich auf.
Auf dem Rückweg überqueren die Krikati ein Flüsschen, das die Grenze ihres Reservats markiert. Ein Schild hängt dort schief an einem Pfahl: „Bundesregierung / Geschütztes Territorium / Zutritt für Fremde verboten“. Es ist das letzte Schild im Reservat, alle anderen wurden zerbrochen, umgeworfen oder von Kugeln durchsiebt.
Kurz darauf verlassen die Indigenen den Wald, passieren den Hof eines Viehbauern. Als sie auf dem Hinweg hier vorbeifuhren, hatte er ihnen zugerufen: „Na, seid ihr wieder auf Jagd nach Bösewichten?“ Tatsächlich muss der in den Tagen davor alles mitbekommen haben: das Kreischen der Kettensägen im Wald, wie ein leerer Lkw ins Reservat fuhr und wie er mit Stämmen beladen wieder herauskam. Paatep Krikati glaubt, dass der Bauer bezahlt wurde, damit er stillhält. „Unter Bolsonaro sind die Invasoren mutiger geworden“, sagt er, „sie fühlen sich unantastbar.“
Der ultrarechte Politiker Jair Bolsonaro ist seit 2019 brasilianischer Präsident. Er hat versprochen, dass er „keinen Zentimeter“ mehr für indigene Reservate oder Naturschutzgebiete hergeben werde. Er redet von „scheiß Bäumen“ und nennt die Ureinwohner „Zootiere“, die so werden sollten „wie wir“. Konsequent hat er der Indio-Behörde Funai und der Umweltbehörde Ibama Mittel, Kompetenzen und Personal gestrichen und ihre Führungen mit fachfremden Militärs besetzt. Die Folge: Die Abholzung des Amazonaswaldes erreicht neue Rekordwerte und alle, die versuchen, sie aufzuhalten, leben gefährlich.
Immer wieder geschehen Morde im Auftrag der Holzmafia
So wie der Ureinwohner Paulo Paulino Guajajara, der im November 2019 in einem Hinterhalt erschossen wurde – offenbar im Auftrag der Holzmafia. Paulino führte wie Paatep Krikati eine Waldwacht an, sie verteidigte das Reservat Arariboia, das nur 100 Kilometer von dem der Krikati entfernt liegt. Paulino war der 13. Ureinwohner, der seit 2016 in Maranhão umgebracht wurde. „Ob ich Angst habe?“, sagt Paatep Krikati. „Lass mich darüber nachdenken und später antworten.“
Die Heimfahrt führt die Krikati über Feldwege entlang schier endloser Zäune. Dahinter grasen die für Brasilien typischen weißen Zebu-Rinder auf kahlen Weiden. Der Kontrast zum dichten, kühlen und von Tierlauten erfüllten Wald könnte größer nicht sein. Das Krikati-Reservat ist praktisch umzingelt von Vieh. Zwei Stunden später erreichen die Waldwächter erschöpft ihr Heimatdorf, São José, eine von drei Krikati-Siedlungen. Die lange Fahrt veranschaulicht ihr größtes Problem. Das Reservat, das fast viermal so groß ist wie Wien, ist viel zu ausgedehnt, um es mit 15 Leuten kontrollieren zu können. Einzig schmale Pfade und ein paar Staubpisten führen durch das hügelige, teils von Felsformationen durchschnittene Reservat.
Wenn Paatep Krikati und seine Leute also hören, dass irgendwo etwas geschieht, dann müssen sie oft um das halbe Reservat herumfahren, um an den Tatort zu gelangen. Sie haben einen Fiat-Pickup und sind extrem gute Motorradfahrer im Gelände, aber meistens kommen sie zu spät. „Die anderen sind uns immer einen Schritt voraus“, sagt Paatep. Zwar melde er alle Vorfälle wie vorgesehen an die Indio-Behörde Funai, aber von dort komme kaum noch Hilfe, seit Bolsonaro Präsident sei. Der Staat hat die Krikati alleine gelassen.
Pünktlich mit der Morgenröte krähen zwei Dutzend Hähne, und an Schlaf ist nicht mehr zu denken in São José. Das Dorf erwacht. In seiner Mitte liegt ein großer Platz, auf dem zwei riesige Kapokbäume in den Himmel ragen. In einem weiten Kreis stehen rund 70 Häuser um sie herum. Sie sind aus Backsteinen und Zement und wurden vor einigen Jahren im Rahmen eines Sozialprogramms von der linken Vorvorgänger-Regierung gebaut. Nur vereinzelt sieht man noch traditionelle Bauten aus Holz, Lehm und Palmblättern.
Die meisten Ureinwohner im Dorf erhalten Sozialhilfe. Einige arbeiten als Lehrer in der Dorfschule, als Handwerker oder bei der staatlichen Feuerbrigade. Fast alle Familien halten Hühner und Schweine und haben kleine Felder im Wald, auf denen sie Maniok, Mais und Bohnen anbauen. Außerdem gehen die Krikati auf die Jagd, schießen Wildschweine, Rehe oder Affen für den Eigenbedarf. An einem mangelt es nicht im Dorf: Mangos. An jeder Ecke erhebt sich einer der ausladenden Bäume und die Wege sind übersät mit den aromatischen Früchten.
Pateep Krikati trinkt gerade einen gezuckerten Kaffee und isst Maniokmehl mit Eiern, als die Nachricht über WhatsApp kommt. Es ist ein Tipp, Paatep vermutet einen Bauern dahinter, der einem anderen eins auswischen will.
Er stellt einen Trupp zusammen, drei junge Männer zwischen 16 und 21 Jahre alt, die sich in der genannten Region umschauen sollen. Eine Stunde später kämpfen sie sich durchs Unterholz und man merkt ihnen den Stolz an, die Uniform mit dem Jaguar zu tragen. Ihre geladenen Flinten halten sie theatralisch im Anschlag, so wie man es aus Kriegsfilmen kennt. „Wir verteidigen das Land unserer Ahnen“, sagt Alceu Krikati, der jüngste in der Gruppe, „sie waren vor den Portugiesen hier.“ So einfach kann es manchmal sein.
Nach halbstündigem Marsch stoßen die jungen Krikati auf eine komplett abgebrannte Fläche, vier Fußballfelder groß, alles ist schwarz, Baumskelette ragen auf. Das Feuer muss vor kurzem gelegt worden sein, wahrscheinlich nachts, damit der Rauch nicht zu sehen ist. „Hier soll eine Weide entstehen“, sagt Alceu Krikati. „Sie werden Gras säen und dann ihre Rinder hertreiben. Wenn das geschieht, sind wir zur Stelle und werden ihnen sagen, dass das nicht geht. Dann werden sie uns verächtlich anschauen und es anderswo versuchen.“
Der Kampf der Krikati um ihr Land, er hat etwas Aussichtsloses. Umso notwendiger erscheint er. Einige Tage später schickt Paatep Krikati eine WhatsApp-Nachricht: „Ich und die anderen, wir haben keine, denn Angst haben, ist wie sterben. Wenn wir Angst hätten, wer würde unser Land beschützen?“ Er schickt ein Foto mit, das eine von Scheinwerfern erleuchtete Straße zeigt. „Wir sind wieder unterwegs.“