Ideen für eine bessere Welt
Alois Pumhösel
19. November 2021
- Indigenes Wissen auf neuen Karten gegen Ressourcenkonflikte in der Sahel
- Frauen schaffen Lösungen
- Dialog aller Nutzer
Indigenes Wissen auf neuen Karten gegen Ressourcenkonflikte in der Sahel
Hindou Oumarou Ibrahim will das Know-how ihrer Vorfahren mit moderner Kartografie sammeln und so Frieden in der vom Klimawandel hart getroffenen Region stiften
Besucht Hindou Oumarou Ibrahim ihre Familie, benötigt sie keine Smartphone-App für die Wettervorhersage. „Die beste Wetterapp ist meine Großmutter“, sagt Ibrahim. „Sie kann nicht nur sagen, wie das Wetter heute wird, sie kann vorhersagen, ob es in den nächsten zwölf Monaten eine ertragreiche Regenzeit geben wird oder nicht.“ Marmadda, wie sie die Großmutter nennt, kann das, weil sie wie ihre Vorfahren vor ihr gelernt hat, auf die Zeichen der Natur zu achten: auf Windrichtung, Wolkenformationen, auf Vogelflug, den Wuchs von Pflanzen oder das Verhalten der Tiere.
Ibrahim entstammt dem Volk der Mbororo. Es sind Nomaden, die mit ihren Tierherden durch die Sahelzone um den Tschadsee ziehen. Hier ist die Klimakatastrophe keine düstere Zukunftsvision mehr. In den Trockengebieten südlich der Sahara ist der Klimawandel längst angekommen. Das plakativste Beispiel dafür ist der Tschadsee selbst. Ibrahims Großmutter zog noch um einen See mit einer Größe von etwa 25.000 Quadratkilometern, ihre Enkelin findet heute nicht einmal ein Zwanzigstel dieser Fläche vor. Konflikte um Wasser, Weidegrund und andere Ressourcen sind hier längst Realität.
Ibrahim ist von dieser Welt geprägt. Selbst als sie für ihre Ausbildung in die Hauptstadt zog, verbrachte sie die Ferienmonate bei ihrer Familie, um die Rinder zu hüten. Diese Verbundenheit legte das Fundament für einen Lebensweg, der darauf ausgerichtet ist, die Perspektive indigener Völker bei der Bewältigung der großen Herausforderungen der Gegenwart einzubringen. Dazu gehört vor allem die Frage, wie mit den Folgen des Klimawandels umgegangen werden soll – nicht nur in Afrika, sondern überall auf der Welt.
Die heute 38-jährige Aktivistin aus dem Tschad wurde zu einer Schlüsselfigur in internationalen Komitees indigener Völker. Ihre erste NGO gründete sie im Alter von 15 Jahren – sie kümmert sich um Anliegen indigener Frauen. Heute ist Ibrahim Teil vieler NGO-Aktivitäten und UN-Plattformen und kooperiert mit der Unesco und anderen internationalen Organisationen. Medien wie BBC oder Time Magazine nahmen sie in Rankings einflussreicher Frauen auf, die Uhrenmarke Rolex verlieh ihr zuletzt einen Preis für Unternehmergeist. Ibrahim wurde zur Expertin in den Fragen, wie sich der Klimawandel einerseits auf indigene Völker auswirkt, andererseits aber auch, wie das Wissen dieser Völker zur Bekämpfung von Klimawandelfolgen einsetzbar ist.
Die Klima- und Menschenrechtsaktivistin, die neben ihrer Muttersprache Fulfulde auch Französisch, Englisch und Arabisch spricht, kann anhand ihrer eigenen Herkunftsregion am besten darstellen, welche Auswirkungen die zunehmenden Hitze- und Trockenphasen haben. 40 Millionen Menschen, die rund um den Tschadsee leben, sind von dessen stark schrumpfendem Wasserreservoir abhängig. „Sie sind Viehhalter, Fischer oder Landwirte. Sie verlassen sich nicht auf ein Gehalt am Monatsende. Sie verlassen sich auf den Regen. Sie verlassen sich darauf, dass Getreide und Viehfutter wachsen“, erklärt sie in einem Vortrag im Innovationsforum TED.
Doch der Regen kommt immer seltener. Mit der Verknappung der Ressourcen entstehen nicht nur neue Konflikte, auch das soziale Leben verändert sich. „Von den Männern wird hier erwartet, dass sie ihre Familie ernähren können. Gelingt ihnen das nicht, sinkt ihr Ansehen, ihre Würde in den Augen der anderen“, erklärt Ibrahim. „Dann ziehen sie in eine Stadt, um dort zu arbeiten und Geld zu schicken. Gelingt ihnen das nicht, versuchen sie über das Mittelmeer nach Europa zu kommen. Manche von ihnen sterben bei diesem Versuch, aber keiner lässt sich davon abhalten. Der Klimawandel nimmt uns die Männer.“
Frauen schaffen Lösungen
Es mag unangenehm für Europa sein, diese Flüchtlinge aufzunehmen. Aber es sei genauso unangenehm für die zurückbleibenden Frauen, die nun auch die Rolle ihrer Männer übernehmen müssen, beklagt die Aktivistin. „Sie müssen nun auch für Sicherheit sorgen, für Gesundheit und Nahrung für die ganze Familie, Kinder und Alte. Für mich sind diese Frauen die wahren Heldinnen. Sie müssen Innovationen schaffen und Lösungen finden, um mit den verbliebenen Ressourcen umzugehen.“
In ihren Projekten wurde auch Ibrahim zur Innovatorin. Beispielsweise kombinierte sie gemeinsam mit Meteorologen die Erfahrung bezüglich der Wetterphänomene, Biodiversität und Ökologie, die von Menschen wie ihrer Großmutter weitergetragen wird, mit wissenschaftlichen Vorhersagetechnologien, um einen Warndienst ins Leben zu rufen, der die Menschen um den Tschadsee – egal ob sesshaft oder nicht – vor Wetteranomalien warnt, die mit dem Klimawandel häufiger werden.
Bereits 2010 entdeckte sie zudem ein Werkzeug, das „participatory mapping“ genannt wird und das lokales Wissen von Menschen mit moderner Kartografierungstechnik in Landkarten verzeichnen lässt. Ibrahim glaubte, dass sich dieser Ansatz gerade für die Ressourcenkämpfe zwischen Viehhaltern, sesshaften Bauern und Fischern in der Sahelzone gut eignen konnte. Sie alle holte sie mit diesem partizipatorischen Ansatz in ein Boot.
Sie sprach zuerst mit den Männern und Frauen ihres eigenen Volks, um die für sie wichtigen Orte in die Karten aufzunehmen. Dazu gehören Wanderrouten, im Volksglauben heilige Plätze, Orte, an denen Heilpflanzen wachsen – vor allem aber Wasserstellen und Küstenabschnitte, die besucht werden, sowie die Landkorridore, die dorthin führen. Ähnliches unternahm sie mit den Bauern und Fischern. Sie zeichneten Flächen ein, die sie für ihre Felder benötigen, oder Küstenabschnitte, die für den Fischfang wichtig sind.
Dialog aller Nutzer
„Die Landkarten helfen, die Konflikte zwischen den Communitys abzumildern, indem über die Ressourcen diskutiert und Zugänge für alle geschaffen werden können“, sagt Ibrahim. Es besteht eine Grundlage, um Wasser und Land besser aufzuteilen, zu erhalten und zu managen sowie Veränderungen bei Überflutungen oder Dürren vorhersagen zu können. Gleichzeitig wird durch den partizipativen Ansatz garantiert, dass sich alle Nutzer am Dialog beteiligen, um eine gemeinsame Faktenlage zu schaffen.
Ibrahim ist überzeugt, dass indigene Völker – egal ob sie im Amazonas, in der Arktis oder in der Sahelzone leben – wichtiges Wissen für eine Anpassung der Menschheit an den Klimawandel beitragen können. Immerhin seien sie Experten für eine Lebensweise im Einklang mit der Natur. „Wissenschaft gibt es seit 200 Jahren, das Wissen der indigenen Völker aber ist Jahrtausende alt“, sagt sie und plädiert dafür, dieses Erbe der indigenen Völker mit wissenschaftlichen und technischen Ansätzen zu verbinden – auch in den Industriestaaten, die zunehmend von Waldbränden, Dürren oder Überflutungen geplagt sind. Ibrahim: „Wir können das Wissen aus all diesen verschiedenen Bereichen zusammenlegen, um die Gesellschaft resilienter gegen den Klimawandel zu machen.“ (Alois Pumhösel, 19.11.2021)
Umwelt-, Wissenschafts- und Gesundheitsveränderungen sind globale Herausforderungen, die jeden Aspekt unseres Lebens auf dem Planeten betreffen. Es ist jedoch wenig darüber bekannt, wie sich diese Veränderungen auf einige der extremsten und lebenswichtigsten Umgebungen und Ökosysteme der Erde auswirken.
Aus diesem Grund und zur Förderung der Pionierarbeit in den Bereichen, Umwelt, Wissenschaft und Gesundheit, präsentieren DER STANDARD und Rolex unter dem Titel „Ideen für eine bessere Welt“ führende wissenschaftlich fundierte Projekte und deren Aspekte, um Veränderungen in einigen der einzigartigsten Regionen und Gebiete unseres Planeten zu beleuchten und zu dokumentieren – von den höchsten Bergen bis zu den Überdachungen unserer Regenwälder und den tiefsten Teilen unserer Meere.
Die Verlagsserie „Ideen für eine bessere Welt“ ist eine Partnerschaft mit Rolex im Rahmen der Perpetual-Planet-Initiative. Die redaktionelle Verantwortung liegt beim STANDARD.