Punkt eins
19. November 2021
Über Methoden der medialen Prozessführung und Pressearbeit, die die öffentliche Meinung – und die Justiz? – beeinflussen will.
Gäste: Dr. Gerald Ganzger, Rechtsanwalt, Managing Partner bei LGP & ao. Univ.-Prof. Dr. Friedrich Hausjell, Kommunikations- und Medienwissenschaftler, stv. Vorstand des Instituts für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft der Universität Wien.
Moderation: Barbara Zeithammer.
Noch vor einer allfälligen Anklage – gerade erst wurden mit Aufhebung der Immunität Ermittlungen ermöglicht (Stichwort: Inseratenkorruption, manipulierte Umfragen, gefälschten Rechnungen) – präsentierte der ÖVP-Obmann und Nationalratsabgeordnete Sebastian Kurz am Samstag geneigten Medien seinen vermeintlichen „Freispruch“: ein bestelltes Privatgutachten, zu Unrecht auf Briefpapier der Universität Wien publiziert.
Der Medien- und Kommunikationswissenschaftler Fritz Hausjell hat auf Twitter die Berichterstattung in den Medien vielbeachtet nachgezeichnet – mit erschütterndem Ergebnis. „Wir erleben gerade eine der massivsten Litigation-PR-Kampagnen, die dieses Land je erlebt hat“, schrieb er.
Für manche eine „erwartete Entlastungsoffensive“ nach Kurz’ Rücktritt als Bundeskanzler vor gut einem Monat und für fast alle Beobachterinnen und Experten ein Beispiel für „Litigation PR“. Eigentlich ist es schon längst nichts ungewöhnliches mehr – ganze Bücher werden in Auftrag gegeben, Rankings beeinflusst, Prozessakten von Beschuldigten selbst den Medien „zugespielt“, Exklusivinterviews durch Strafverteidiger:innen „ermöglicht“, anonyme Blogger und Detektive beschäftigt, um Einfluss im Kontext von rechtlichen Auseinandersetzungen nehmen zu können. Litigation PR – das Schlagwort, das dieser Tage breite Öffentlichkeit erfährt, wird als prozessbegleitende Öffentlichkeitsarbeit, strategische Rechtskommunikation oder „Versuch, die öffentliche Meinung durch Pressearbeit zu beeinflussen“ übersetzt.
Gut gemacht, ist Litigation PR unsichtbar, sind sich Expert:innen über dieses Geschäftsfeld einig, das in den 1980er Jahren in den USA entstand, wo die Mehrzahl der gerichtlichen Auseinandersetzungen mit einem Vergleich endet – und die „letzte Wahrheit“ sich daher in manchen Fällen ausschließlich im „Gerichtssaal der öffentlichen Meinung“ bildet. Dort fällt ein Urteil unter Umständen lange vor dem gerichtlichen und unabhängig davon – mit negativen Folgen für das Image.
In Österreich ließen sich in den letzten Jahren immer wieder massive Angriffe von Politiker:innen auf die Staatsanwaltschaft beobachten, von verbalen Angriffen und Verunglimpfungen bis zu „Nachforschungen“ ins Privat- und Familienleben der Staatsanwält:innen, während so gut wie keine jener zahlreichen Rechtsmittel beansprucht wurden, die gegen justizielle Maßnahmen zur Verfügung stehen.
Am Dienstag gab das Justizministerium nach den Budgetverhandlungen des Nationalrats bekannt, dass es u.a. neue Planstellen für Medienprofis geben werde, weil mehr Kommunikatoren notwendig seien.
Wie ist all das zu beurteilen – von der Öffentlichkeit, die ihrerseits „Gerichtssaal“ sein mag, vor allem aber auch ein fundamentales Prinzip der modernen Gerichtsbarkeit? Was ist Litigation PR, was ist rechtlich möglich und wie viel Einfluss ist realistisch? Ist diese Form der Kommunikation eine Gefahr für die Rechtsstaatlichkeit oder ist sie nur ein weiteres Mittel, zu versuchen, die Öffentlichkeit und letztlich auch den Ausgang von Verfahren zu beeinflussen?
Gerald Ganzger (Managing Partner bei Lansky, Ganzger, Goeth, Frankl + partner, Delegato Itkam) war einer der ersten und ist einer der wenigen Anwälte in Österreich, die auch Experten in Litigation PR sind. Seine Kanzlei definiert als Ziele von Litigation PR u.a.: „die Deutungshoheit nicht Behörden (..), Gerichten, Medien ( ) überlassen; den Verlauf und das Ergebnis von Verfahren beeinflussen“.
Gemeinsam mit Fritz Hausjell ist Gerald Ganzger zu Gast bei Barbara Zeithammer und die Hörer:innen sind wie immer herzlich eingeladen, sich konstruktiv mit Fragen, Gedanken und Erfahrungen an der Sendung zu beteiligen: Rufen Sie uns an unter 0800 22 69 79 – live während der Sendung und kostenfrei aus ganz Österreich – oder schreiben Sie ein E-Mail an punkteins(at)orf.at
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Musikinformationen
Untertitel: Erik Satie
Titel: Les Trois Valses Distinguées Du Précieux Dégouté: I. Sa taille. Pas Vite
Ausführende: Daniel Varsano
Label: Sony Classical
Untertitel: Erik Satie
Titel: Les Trois Valses Distinguées Du Précieux Dégouté: II. Son Binocle. Très Lent, S’Il Vous Plaît. III. Ses Jambes. Déterminé
Ausführende: Daniel Varsano
Label: Sony Classical
Untertitel: Erik Satie
Titel: Sonatine Bureaucratique: II. Andante
Ausführende: Erik Satie Énsemble
Label: EMI
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Buchempfehlung:
Nina Marie Bust-Bartels: Bürgerwehren in Deutschland. Zwischen Nachbarschaftshilfe und rechtsextremer Raumergreifung. Transcript, 2021
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