Dies & Das:Die glücklichsten Frauen der Welt – was die Niederländerinnen besser machen

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Birgit Schmid (Text),

Annick Ramp (Bilder)

06.11.2021

Die glücklichsten Frauen der Welt – was die Niederländerinnen besser machen

In den Niederlanden findet man die glücklichsten Frauen. Und die beste Work-Life-Balance. Das sagen die Glücksforschung und Statistiken der OECD. Einer der Hauptgründe für die hohe Lebenszufriedenheit: Nirgendwo arbeiten mehr Frauen Teilzeit. Meine Kollegin Birgit Schmid ist durch die Niederlande gereist, um zu verstehen, was das für die Karrieren der Frauen, ihre Männer und das Familienleben bedeutet. Und hat gemerkt: Die Niederländerinnen sind nicht nur wegen der Teilzeitarbeit gelassener als andere Frauen.

An einem Dienstag im September fährt Marieke Vroom mit ihren beiden Töchtern ans Meer. Es ist drei Uhr nachmittags, eigentlich arbeitet die 40-Jährige heute. Ihr Mann David schliesst sich der Familie an. Er wird dafür abends Mails abbauen. Von Leiden, einer Stadt mit 124 000 Einwohnern, fährt man im Auto in zwanzig Minuten zum Küstenort Katwijk an der Nordsee. In der Ferne sieht man die Hochhäuser von Den Haag. Wenige Rentner, die Hippiebar «Key West» ist leer. Als hätte man sie von der Leine gelassen, rennen die 7-jährige Milou und die 5-jährige Luva zum Strand.

Bis vor wenigen Jahren wohnte Marieke mit ihrer Familie in der Schweiz. Es ging ihnen gut, sie fühlten sich wohl. Nur etwas fehlte, damit das Leben perfekt war. Marieke Vroom, die im Immobilienbereich tätig ist, fand keine passende Stelle für die drei Tage, die sie zu arbeiten bereit war. Auch gab sie ihren ganzen Lohn für die Kita aus. So beschlossen sie, die Schweiz zu verlassen.

Das ist insofern erstaunlich, als die Schweiz bei der Teilzeitarbeit auf Platz zwei liegt im europäischen Vergleich. Man müsste hier eigentlich einen guten Teilzeitjob finden. Doch es gibt noch einen besseren Ort: Mariekes Heimat, die Niederlande, das beste Land für ihre Ansprüche, die Nummer eins. Nirgendwo arbeiten so viele Leute im Teilpensum wie hier. Egal, ob sie Kinder haben oder nicht.

Während in der Schweiz 38 Prozent der Erwerbstätigen reduziert arbeiten, ist es in den Niederlanden fast jeder zweite. Der Anteil der Frauen ist in beiden Ländern hoch: Die Schweizerinnen arbeiten zu 61 Prozent Teilzeit, Niederländerinnen zu 65 Prozent. Bei den Männern sind es 17 Prozent gegenüber 23 Prozent.

Marieke Vrooms Rückkehr in die Niederlande hat vor allem etwas erleichtert: Niederländer haben ein Anrecht auf Teilzeit. In jedem Job ist garantiert, dass man das Pensum reduzieren kann. Zudem darf es zwischen Teilzeit und Vollzeit keine Lohndiskriminierung geben. Seit dem Jahr 2000 sind beide Punkte gesetzlich verankert.

Perfekte Work-Life-Balance: Marieke Vroom mit ihrem Mann David und den Töchtern Milou und Luva an der Nordsee nahe der Stadt Leiden.

Marieke wird sich nicht nach einer neuen Stelle umsehen müssen, sollte sie an ihrer Drei-Tage-Woche etwas ändern wollen. Es ist die garantierte Freiheit in solchen Details, die den niederländischen Unterschied macht.

So hat auch Marieke ihr Arbeitspensum verhandelt mitsamt den neun Wochen Ferien, die ihr wichtig sind. Sie sagt: «Die Flexibilität ist hier einfach viel grösser.» Nun hat sie endlich das Gefühl, ihr Leben selbst zu gestalten.

Kaum Kritik an «Teilzeit-Prinzessinnen»

Den Ländern, in denen viele Menschen Teilzeit arbeiten, geht es wirtschaftlich gut. Gleich auf Platz drei und vier im Europa-Ranking folgen Österreich und Deutschland, wo die Teilzeitquote der Frauen je 48 Prozent beträgt. Zunehmend gibt es in vielen dieser Länder aber eine Debatte darüber, inwiefern man sich eine nicht voll arbeitende Bevölkerung noch leisten kann. Dabei geht es vor allem um die Kleinpensen erwerbstätiger Mütter. Nicht bloss, weil in vielen Jobs die Leute fehlen. Sondern auch die Gleichstellung von Frauen und Männern komme nicht voran, wenn die Frauen zu Hause blieben und sich nicht gleichermassen am Arbeitsmarkt beteiligten.

Arbeitgeberverbände fordern Tagesstrukturen an den Schulen, damit sich Beruf und Familie besser vereinbaren liessen. Ökonominnen nehmen die «Akademikerinnen am Herd» in die Pflicht und schlagen vor, dass diese ihre vom Staat bezahlten Ausbildungskosten zurückzahlen – als Motivationsversuch. Journalisten wollen die angeblich bequemen Frauen mit Polemiken zum Arbeiten aufscheuchen.

Nur in den Niederlanden wird die niedrige Erwerbsquote der Frauen bis anhin nicht als dringendes Problem wahrgenommen. Zwar veröffentlichte die Regierung in den vergangenen Jahren immer wieder einmal einen Bericht dazu. Hin und wieder beklagen auch einzelne Exponentinnen den «Teilzeit-Feminismus». In einem Zeitungsbeitrag neulich war von den «Teilzeit-Prinzessinnen» die Rede.

Die vereinzelten Stimmen machen aber noch keine Bewegung. Vielmehr gilt in den Niederlanden der Grundsatz: Jeder soll selbst wählen, wie er leben will. Niemand hat ihm dreinzureden, schon gar nicht der Staat.

Zumal die Niederländer etwas in der Hand haben, was ihr Lebensmodell rechtfertigt: In internationalen Rankings zur Lebensqualität stehen sie regelmässig an der Spitze. Niederländer haben die beste Work-Life-Balance. So steht es etwa im OECD-Bericht von 2019, für den 40 Länder untersucht wurden. Aber nicht nur die Frauen sind glücklicher als anderswo, sondern auch die Kinder. Das bestätigen wiederum Studien von Unicef. Die Pandemie hat daran nichts geändert.

Warum also an der Situation etwas ändern wollen, dürften sich Frauen wie Marieke sagen – und unglücklicher werden?

Der Zusammenhang zwischen Wohlbefinden und Arbeit ist so offensichtlich wie banal. Wer sich zu Tode schuftet, fühlt sich fremdbestimmt und wird krank. Andererseits ist Arbeiten sinnstiftend und trägt zu einem erfüllten Leben bei.

Gar nicht zu arbeiten, ist deshalb für die Niederländerinnen keine Alternative. Nirgendwo sonst in der EU arbeiten so viele Frauen im erwerbsfähigen Alter wie hier, nämlich fast 82 Prozent.

Marieke Vroom kennt beides, aber weder kam sie mit ihrer Rolle als Vollzeitmutter zurecht damals in der Schweiz noch in einem Vollzeitjob. Bei den 60 Prozent jetzt habe sie mindestens einen Tag für sich, sagt sie. Erst jetzt fühle sie sich ausgeglichen. David, ihr Vollzeitmann, sagt: «Marieke arbeitet nach ihrer Motivation.»

Ein Hoch auf die Freizeit

Kea Tijdens kennt die Gründe für die niederländische Teilzeitkultur. Man trifft die Soziologin auf dem Campus der Universität von Amsterdam, wo sie lange gelehrt hat. Es ist kurz nach Mittag, im Café sitzen junge Leute vor Laptops, lesen in Büchern, diskutieren. Wie viel des hier erworbenen Wissens werden sie später im Berufsleben nutzen?

Kea, die es seltsam findet, wenn Studenten sie Professorin Tijdens nennen, spricht über die Ambitionslosigkeit der Niederländerinnen, ohne diese zu bewerten. «Im Durchschnitt kann eine niederländische Familie mit Kindern von 1,5 Einkommen leben», sagt sie. «Es gibt keinen Grund, warum beide voll arbeiten sollten.» Sie sieht im Gegenteil die Vorteile. «Die Niederlande sind das einzige Land, in dem Frauen und Männer gleich viel Freizeit haben.» Bei dieser Rechnung betrachtet sie Haushalt und Kinderbetreuung als gleichwertige Teilzeitjobs – angenommen, eine Frau arbeitet 50 Prozent. Zumal die Frauen zu Hause auf ihre Männer zählen könnten.

Marieke Vroom kennt beides, aber weder kam sie mit ihrer Rolle als Vollzeitmutter zurecht damals in der Schweiz noch in einem Vollzeitjob. Bei den 60 Prozent jetzt habe sie mindestens einen Tag für sich, sagt sie. Erst jetzt fühle sie sich ausgeglichen. David, ihr Vollzeitmann, sagt: «Marieke arbeitet nach ihrer Motivation.»

Ein Hoch auf die Freizeit

Kea Tijdens kennt die Gründe für die niederländische Teilzeitkultur. Man trifft die Soziologin auf dem Campus der Universität von Amsterdam, wo sie lange gelehrt hat. Es ist kurz nach Mittag, im Café sitzen junge Leute vor Laptops, lesen in Büchern, diskutieren. Wie viel des hier erworbenen Wissens werden sie später im Berufsleben nutzen?

Kea, die es seltsam findet, wenn Studenten sie Professorin Tijdens nennen, spricht über die Ambitionslosigkeit der Niederländerinnen, ohne diese zu bewerten. «Im Durchschnitt kann eine niederländische Familie mit Kindern von 1,5 Einkommen leben», sagt sie. «Es gibt keinen Grund, warum beide voll arbeiten sollten.» Sie sieht im Gegenteil die Vorteile. «Die Niederlande sind das einzige Land, in dem Frauen und Männer gleich viel Freizeit haben.» Bei dieser Rechnung betrachtet sie Haushalt und Kinderbetreuung als gleichwertige Teilzeitjobs – angenommen, eine Frau arbeitet 50 Prozent. Zumal die Frauen zu Hause auf ihre Männer zählen könnten.

«Junge Frauen werden in Zukunft mehr arbeiten wollen»: Soziologie-Professorin Kea Tijdens.
Annick Ramp

Dass der Arbeitsmarkt funktioniert, sieht sie auch in der Fertilitätsrate abgebildet. In den Niederlanden bringt eine Frau durchschnittlich 1,7 Kinder zur Welt. «In Italien kennt man keine Regulierung von Teilzeitarbeit. Die meisten Frauen arbeiten voll oder gar nicht. Auf eine Italienerin kommen durchschnittlich noch 1,3 Kinder.»

Der Grundstein für das heutige Gesetz, dass jeder Arbeitnehmer seine Arbeitszeit verhandeln kann und er in einem Teilzeitjob genauso gut abgesichert ist, wurde in den achtziger Jahren gelegt. Damals befanden sich die Niederlande in einer Wirtschaftskrise, die Arbeitslosigkeit in den männerdominierten Berufen war hoch. In den Jahrzehnten davor arbeiteten die Frauen, bis sie heirateten oder das erste Kind kam, danach gaben sie ihren Job auf. In den traditionellen Frauenberufen fehlten sie nun – als Lehrerinnen, Pflegerinnen oder Verkäuferinnen. Mit einem arbeitslosen Mann daheim wurde ihre Arbeit ausser Haus erst recht nötig.

Die Gewerkschaften, feministische Gruppierungen, Arbeitgeber und die Regierung handelten eine Lösung aus. Sie einigten sich auf eine leicht reduzierte allgemeine Wochenarbeitszeit. So konnten mehr Leute arbeiten. Gleichzeitig sollte jeder Arbeitnehmer in seinem Beruf Teilzeit arbeiten können, selbst in hochqualifizierten Jobs.

«Das brachte viele Frauen zurück in den Beruf», sagt Kea, «und so entstanden viele Kinderbetreuungsstätten.» Jedoch führte es nicht dazu, dass die Niederländerinnen wieder voll in den Beruf einstiegen, sobald die Kinder grösser waren.

Sie waren es nicht gewohnt, denn im Gegensatz zu anderen Industrienationen war ihre Arbeitskraft auch lange davor nicht gefragt gewesen. Da während der zwei Weltkriege wenige niederländische Männer eingezogen wurden, mussten die Frauen nicht ihre Arbeit verrichten. Auch ein starker Familiensinn erklärt, weshalb sie in der Berufstätigkeit nie die ganze Erfüllung sahen. So durchsäkularisiert das Land heute ist: Seine Politik war bis in die achtziger Jahre christlich geprägt. Steuerliche Anreize ermutigten die Frauen, zu Hause zu bleiben.

Kea glaubt dennoch, dass sich die Situation in den nächsten Jahren ändern wird, wenn sie an die Studentinnen in ihren Kursen denkt. «Junge Frauen sind heute besser ausgebildet als Männer», sagt sie, «und sie werden auch mehr arbeiten.»

Die glücklichsten Kinder der Welt

In den vergangenen Jahren sind einige Bücher erschienen, die den niederländischen Lebensstil in Superlativen beschreiben. «Why Dutch Women Don’t Get Depressed» widmet sich mit Humor der stereotypen Niederländerin, die dank dem Velofahren so robust ist, deswegen aber auch kein Aufsehen um ihr Aussehen macht. Vor allem feiert sie ihr Dasein als Freiheit der Wahl. In «The Happiest Kids in the World» wird das Wohlbefinden der Kinder mit der Gelassenheit ihrer Mütter erklärt: Diese versuchten sich nicht im Kind, das sie zu Leistung antrieben, selbst zu verwirklichen.

Wie viel Wahrheit steckt im Klischee?

Michele Hutchison ist Co-Autorin des Buchs über die glücklichsten Kinder. Es erschien 2017 und wurde auf Chinesisch, Russisch oder Japanisch übersetzt. Michele lebt im Norden von Amsterdam, der mit einer Fähre erreichbar ist. Sobald diese anlegt, fahren die Velofahrer wie ein Schwarm los. Auch für Michele trägt das Unterwegssein auf zwei Rädern zu Wetterfestigkeit und Glück bei; von klein auf.

«Im Kern sind die Niederländer konservativ»: Buchautorin Michele Hutchison mit ihren Kindern Ina und Ben.
Annick Ramp
Die Vorliebe für Outdoor trägt zu einem robusten Wesen bei.
Annick Ramp

Die Britin blickt mit einem fremden Blick auf das Land, in dem sie schon seit 2004 lebt. Macht das anfälliger für Verklärung? Sie würde ihr Buch heute genauso schreiben, sagt sie – ausser, dass sie Teenager nun besser kenne. Sohn Ben, 17, ist am Kofferpacken; er verreist anderntags für vier Jahre nach Dublin, um dort zu studieren. «Man muss sie gehen lassen», sagt Michele und klingt so pragmatisch, wie sie es an den Niederländerinnen bewundert. Tochter Ina ist 15. Vom Vater ihrer Kinder, einem Niederländer, lebt die 49-Jährige getrennt.

Die Reihenhäuschen mit ihren Gärten auf der Rückseite machen das Drinnen und Draussen durchlässig. Vielleicht ist dies eine Variante des Campierens. An den Camping-verrückten Niederländern misst Michele die Bedeutung der Familie – als Teenager wäre sie nie so mit ihren Eltern verreist. Sie sagt: Die Niederlande gälten zwar als liberal, was Sex, Drogen oder die Homo-Ehe betreffe, die sie als erstes Land der Welt vor zwanzig Jahren eingeführt haben. «Im Kern sind sie aber ziemlich konservativ.»

Das zeige sich an ihrer Häuslichkeit und daran, wie sie ihre Kinder in den Mittelpunkt stellten. Eltern versuchten gar nicht erst, in der Erziehung perfekt zu sein, weil sie eben realistisch seien. Sie würden ihre Elternschaft umso mehr geniessen. Die Niederländerinnen fühlten sich nicht schuldig, weil es nie genug sei, sondern sie hätten die Haltung verinnerlicht, die der britische Psychoanalytiker Donald Winnicott in den fünfziger Jahren die Frauen lehren wollte: Sie verstehen sich als Hinreichend-gute-Mütter.

Sie genügen als Mütter und erledigen auch den Teilzeitjob guten Gewissens: Michele stellt das bloss fest. Man respektiere, dass die Frauen ein Leben ausserhalb des Mutterseins hätten, sagt sie. Damit meint sie nicht das Berufsleben. «Man ist hier mehr als sein Job.»

Deshalb haben die meisten Frauen offenbar auch wenig Gehör, wenn an ihre Vorbildfunktion appelliert wird; dass sie eine moralische Verpflichtung hätten, sich für eine Karriere zu interessieren. «Niederländerinnen sind verwöhnt und in dieser Hinsicht wenig emanzipiert», sagt Michele. Teilzeit-Prinzessinnen eben.

Die Folgerung, dass es Kindern am besten geht, wenn die Mutter nicht oder nicht voll arbeitet, ist ein beliebtes Argument von Konservativen. Es ist aber auch gefährlich, da es die Frauen und damit Gleichstellungsbemühungen von vornherein ausbremst. Die Niederlande haben die Unicef-Liste von 40 Ländern, in denen Kinder zu ihrer Zufriedenheit befragt wurden, auch letztes Jahr angeführt. Das dürfte aber kaum nur an den Teilzeit arbeitenden Müttern liegen. Zumal Mexiko und Rumänien auf Platz zwei und drei folgen. Die Schweiz kommt an sechster Stelle.

Neben Banalitäten wie dem «hagelslag» zum Frühstück, den Schokoladensplittern, werden regelmässig auch gewichtigere Gründe genannt für die glücklichsten Kinder. Dazu gehört, dass Männer zu Hause mit anpacken.

Der niederländische Mann, ein Softie

Jaap Scheren ist einer von ihnen, ein Fotograf, 42 Jahre alt. Seine Partnerin arbeitet im Bereich Kultur und Nachhaltigkeit und hat keine Zeit, mit Journalistinnen zu sprechen. Jaap holt die Kinder am Mittag von der Schule ab. Normalerweise essen sie dort, ausser am Mittwoch.

Niederländerinnen beklagen sich selten über ihre Männer: Fotograf Jaap Scheeren, der genauso häufig zu seinem Sohn Bouwe und seiner Tochter Betty schaut wie seine Partnerin.
Niederländerinnen beklagen sich selten über ihre Männer: Fotograf Jaap Scheeren, der genauso häufig zu seinem Sohn Bouwe und seiner Tochter Betty schaut wie seine Partnerin.
Annick Ramp
Mittagessen auf Niederländisch.
Annick Ramp

Auf dem Pausenplatz der Primarschule warten fast genauso viele Väter wie Mütter. Manche tragen Jogginghosen, die Haare zerzaust, als wären sie eben erst aufgestanden. Der siebenjährige Bouwe klettert in Jaaps Lastenvelo. Betty, die neun ist, fährt auf dem Trottinett voraus.

Im schmalen dreistöckigen Haus stellt sich Jaap an den Herd, um Eier zu kochen. Wie in den meisten niederländischen Haushalten gibt es nur kaltes Mittagessen. Toastbrot, Nutella, Gouda, der orange Käse. Jaap, ein gemütlicher, freundlicher Typ, bestätigt weitere nationale Eigenheiten, während sie essen. Etwa, wie wichtig die gemeinsamen Mahlzeiten seien, um zu erfahren, was die Kinder beschäftige; um ihnen zuzuhören.

Niederländische Eltern nehmen ihre Kinder ernst und betrachten sie als ebenbürtig, liest man in Micheles Buch. Die Kinder bestimmen mit, zum Beispiel, wohin es in die Ferien geht. Diese egalitäre Kultur, die sich bereits in der Familie spiegelt, geht auf die Seefahrernation zurück, so eine Theorie. Die seefahrenden Handelsleute waren schwierig zu kontrollieren. Die Stärke ihrer Klasse im Vergleich zur Landaristokratie förderte den Individualismus. Ökonomische Glücksforscher zählen auch den Individualismus zu den Quellen des Glücks in den Niederlanden.

Besonders autoritär wirkt Vater Jaap in seinen selbstgeflickten Kleidern tatsächlich nicht, während sich auf dem Tisch das Chaos ausbreitet. Er sitzt bald allein da. Sohn Bowe will nach draussen spielen gehen, Tochter Betty bastelt Geburtstagskarten.

Wie alle Kinder in den Niederlanden gingen Betty und Bouwe bereits mit vier zur Schule. In der Primarschule erhalten sie noch keine Hausaufgaben, und lesen und schreiben lernen sie erst mit sechs. Das Kind soll sich frei entfalten und im Spiel die Welt erforschen. Soziale Fertigkeiten sind vorerst wichtiger als Leistung und ein hoher IQ.

An Bettys Geburtstagsparty wird das Spezialprogramm «Auf Bäume klettern» lauten.

Jaap erfüllt eine Erwartung, die in öffentlichen Diskussionen vermehrt aufkommt: Es wird nicht mehr bloss an die Frauen appelliert, gefälligst mehr zu arbeiten als die durchschnittlichen 25 Stunden pro Woche. Sondern von den Männern wird gefordert, im Gegenzug ihr Pensum zu reduzieren. Drei Viertel von ihnen arbeiten immer noch Vollzeit.

Selten beklagen sich die Niederländerinnen jedoch darüber, dass ihre Männer sich der Arbeit daheim entzögen.

Ihre Schweizer Freundinnen würden sie um ihren Mann beneiden, sagt Marieke Vroom am Nachmittag am Meer. Darum, wie er sie bei der Betreuung der Mädchen und im Haus unterstütze. Sie habe ihn, den Schweizer, halt auch dahingehend erzogen, sagt sie und lacht. Wie viel traditioneller sei da die Rollenverteilung in der Schweiz.

Vielleicht stimmt eben doch, dass die Niederländerinnen «bossy» sind und privat den Tarif durchgeben. «Das würde ich unterschreiben», sagt David, Mariekes Mann, der aus einem Dorf im Kanton Solothurn kommt. Sie wählen den richtigen Mann, was noch immer das bewährte Rezept ist auf dem Weg zu mehr Gleichstellung. Diese angebliche oder tatsächliche Macht in der Beziehung wiegt wiederum die finanzielle Abhängigkeit der Frauen auf.

Die Niederlande also eine Idylle? Wo die Selbstbestimmung schon bei der Hausgeburt beginnt? Mit tapferen Frauen, die höchstens eine Hebamme zulassen, während auch die kleinen Geschwister und manchmal der Hund zugegen sind?

Weder sind solche Bilder falsch, noch zeigen sie die ganze Wahrheit. Jaap, der fürs Mittagessen zuständige Vater, beschäftigt die soziale Ungleichheit. Er füllte einst Flugzeugtrolleys auf, bloss um etwas Geld zu verdienen. In solchen «shitty jobs», sagt er, habe niemand die Wahl. Diese Arbeit bliebe unsichtbar.

Nur Migrantinnen arbeiten Vollzeit

Wie überall werden die «shitty jobs» auch in den Niederlanden von Migranten verrichtet. Wenn eine Frau hier voll oder gar nicht arbeitet, dann sind das meistens Ausländerinnen.

Niederländische Kinder lernen früh, selber zu denken: Montessori-Lehrerin Bonnie van Caspel mit Tochter Nina, die die Matur macht, und Sohn Max, der Bewegungswissenschaften studiert.
Annick Ramp
Bei Ratings zur Lebensqualität stehen die Niederlande regelmässig an der Spitze.
Annick Ramp

«Teilzeitarbeit ist ein Luxus», sagt Bonnie van Caspel in ihrem Reihenhaus nahe dem Museumsquartier im Zentrum von Amsterdam. «Man muss nur nach Slotervaart in Westamsterdam gehen. Dort arbeitet man, um zu überleben.» Bonnie öffnet die Tür spontan an diesem Abend, und wenn die fehlende Gastfreundschaft der Niederländer die Regel sein soll, dann gehört Bonnie zu den Ausnahmen.

Bonnie benennt die Nachteile, die sich durch die Teilzeitarbeit für die Frauen ergeben. Die Lohnkluft etwa. Auch könne das Hochhalten von Familienwerten schnell in Egoismus kippen.

Bonnie ist in Indonesien geboren, als sie zwei war, wanderte ihre Familie in die Niederlande aus. Sie liess sich gegen fünfzig noch zur Lehrerin ausbilden und arbeitet nun an einer der 28 Montessori-Schulen in der Stadt. Teilzeit. Die Schüler: gehobener Mittelstand, weiss, wohlbehütet. Die «Probiere mal aus!»-Mentalität sei seltener als früher, sagt Bonnie. Aber auch sie überzeugt an der niederländischen Erziehung, dass man die Kinder anregt, selber zu denken und sich eine eigene Meinung zu bilden.

Die negativen Folgen der Teilzeitarbeit zeigen sich heute im Fachkräftemangel: in der Pflege, im Gastrobereich, in der Landwirtschaft. Zahlreiche Saisonarbeiter seien nach den Corona-Lockdowns nicht mehr aus Rumänien oder Polen zurückgekehrt, weil sie dort bessere Arbeit gefunden hätten, sagt Bonnie. Was aber sind die Niederlande ohne ihre ausländischen Arbeitskräfte?

Die Frage spaltet die Gesellschaft. In den Einkaufsstrassen flattern zwar die Regenbogenfahnen als Symbol für Toleranz und Gleichheit. Der Rechtspopulismus ist aber genauso gegenwärtig. Nina, die 16-jährige Tochter von Bonnie und ihrem Mann, einem Vollzeitarchitekten, hat sich dazugesetzt. Das Thema reizt die Maturandin, sie spricht über den Rassismus, von dem die Weissen mit ihren Privilegien keine Ahnung hätten, und die Diskriminierungen, die Schüler mit arabisch klingenden Namen erführen. Sie sagt: «Nur vordergründig sind wir ein so offenes und tolerantes Land.»

Dennoch, das sagen sowohl Bonnie wie Nina und deren Bruder Max, der 18 ist: Sie fühlten sich wohl hier und frei.

So heftig über die Zuwanderung heute gestritten wird – die Koexistenz verschiedener Lebensstile wurde in den Niederlanden lange begrüsst. Ab den 1930er Jahren wurden Ausländer ermuntert, ihre Kultur beizubehalten und in einer Parallelgesellschaft zu leben. Unter dem Begriff «Versäulung» wurde die gesellschaftliche Segmentierung nach Konfessionen oder Ideologie gutgeheissen. Katholiken und Protestanten, Sozialisten und Liberale hatten eigene Schulen, Gewerkschaften, Vereine und Zeitungen. Auf den Säulen dieser Parallelgesellschaften gründet die niederländische Gesellschaft. Man lebt und lässt leben. Und fühlt sich doch einem Verbund zugehörig.

Darauf gründet die politische Kultur der Konsensorientierung. Als deren Folge entstand ein ausgebauter Wohlfahrtsstaat, der um gerechte Löhne und den Schutz für Arbeitslose, Kranke und Alte besorgt ist.

Der Staat lässt dich nicht fallen

Max van der Linden sieht in diesem engmaschigen sozialen Netz einen weiteren Faktor für die hohe Lebensqualität. «Ich bin ein glücklicher Mann», stellt er sich vor. Max ist Neuropsychologe, Uni-Dozent in Teilzeit, zweifacher Vater. Und er befasst sich mit dem, was die Menschen eines Landes glücklich macht.

«Ich bin ein glücklicher Mann»: Neuropsychologe Max van der Linden kennt die inneren und äusseren Ursachen, die es zum Glücklichsein braucht.
Annick Ramp

Auf der Terrasse des Volkshotels, wo auf Aushängen Servicemitarbeiter gesucht werden und der Blick über die flache Stadt ins Unendliche geht, zählt er auf: Zum Glück trage eine stabile Regierung bei, ein gutes Gesundheitssystem, Zugang zu Bildung und Information, Pressefreiheit. Und eben ein grosszügiger Sozialstaat.

So haben die Niederlande ein Rentensystem, das Teilzeitarbeitende nicht benachteiligt. Jeder erhält eine Grundrente, egal, wie viel er während seines Erwerbslebens eingezahlt hat.

Auch der Gedanke an die Pension ist für Frauen also kein Anreiz, mehr zu arbeiten. Max würde es sich zwar wünschen, für die Frauen, damit sie in allen Belangen mit den Männern gleichauf sind, «aber man bringt die Frauen nicht dazu». Vielleicht wollten sie sich ja nicht den männlichen Wertmassstäben in der heutigen Businesswelt anpassen, dem Stress, dem Leistungsdiktat. Dann müsste man vermehrt über Dinge wie Jobsharing in Toppositionen nachdenken, sagt Max.

Junge, gut ausgebildete Frauen dürften in Zukunft mehr arbeiten wollen, hat Kea Tijdens, die Soziologin, gesagt. Vielleicht müssen sie auch, zumindest in einer Stadt wie Amsterdam, weil sie sich das Leben hier nicht mehr leisten können. Vor allem, wenn sie eine Familie gründen wollen. Die Leute gehen inzwischen auf die Strasse wegen der hohen Immobilienpreise.

Wietzke van Esveld, 32, ist aus diesem Grund mit ihrer Familie in einen Vorort von Amsterdam gezogen. Im Tierpark am Stadtrand bläst ein kalter Wind. Wietzke, die Hände in der Jackentasche vergraben, behält die 2-jährige Kes und den 3-jährigen Luka im Auge, die auf der leeren Spielplatzanlage herumrennen, während sie vom anstrengenden Leben als Teilzeitmutter mit zwei Kleinkindern erzählt.

Gar nicht zu arbeiten, ist für Niederländerinnen keine Alternative: Wietzke van Esveld erholt sich im Job auch vom anstrengenden Alltag mit dem 3-jährigen Luka und der 2-jährigen Kes.

Wietzke berät Studenten beim Navigieren durchs Studium, und sie macht Laufbahnberatung für junge Mütter. Sie sieht diese Frauen kämpfen kurz nach der Geburt ihrer Kinder. Sie haben nicht mehr die gleiche Energie in ihren Jobs, und die Energie fehlt auch daheim. Gemeinsam schauen sie dann, was die Frauen ändern könnten, damit sie ihre Karriere weiterverfolgen oder beruflich umsatteln können.

Wie frei ist, wer vom Geld des Mannes abhängt?

«Vor fünfzig Jahren hatten es die Frauen einfacher», sagt Wietzke, «die Rollen waren verteilt.» Nicht, dass sie die Zeit zurückdrehen möchte. Aber das Gefühl, dass alles zu kurz komme, sei unvermeidlich. Natürlich sehe sie nur die Frauen, die mit Vereinbarungsproblemen kämpften, fügt sie an. Sie klingt nun ähnlich wie die erschöpften Frauen in der Schweiz. Zu einer Frauensession, wie sie eben in Bern stattfand, liessen sich Wietzke und ihre Frauen wohl dennoch nicht mobilisieren.

Denn auch Wietzke schätzt, wie flexibel die Arbeitgeber in den Niederlanden vergleichsweise sind und wie sie familiären Bedürfnissen entgegenkommen. Vier Monate nachdem ihr Sohn zur Welt gekommen war, begann Wietzke wieder zu arbeiten. «Hallo, ich bin zurück», habe sie ihrem Chef gesagt, «und in neun Monaten bin ich wieder weg.» Sie war erneut schwanger. Ungewollt. Ihr Chef nahm es zur Kenntnis.

Wietzke erhielt bei beiden Kindern je sechzehn Wochen Mutterschutz. Für ihren Mann gab es eine Woche bezahlten Vaterschaftsurlaub. Väter in den Niederlanden können weitere fünf Wochen frei nehmen, in denen sie siebzig Prozent ihres Lohns erhalten. Wietzke und ihr Mann machten zudem vom unbezahlten Elternurlaub Gebrauch, auf den Eltern mit Kindern unter acht Jahren einmalig ein Anrecht haben. Die Dauer ist abhängig vom Arbeitspensum, und man wählt selber, ob man gar nicht oder weniger arbeitet. Wietzke reduzierte um noch einen Tag, ihr Mann arbeitete einen halben Tag weniger.

Dann weist Wietzke auf etwas hin, was man bei der Klage darüber, dass die Pandemie die Frauen noch mehr belastete, zu selten hört. Im Home-Office beteiligte sich ihr Mann, der in der Informatik arbeitet, zur Hälfte an der Kinderbetreuung.

Auch Wietzke braucht diesen «einen Tag für mich», an dem niemand etwas von ihr will. Und sie weiss ja, dass es besser wird, sobald die Kinder aus dem Gröbsten sind. Sie könnte dann umso mehr das Teilzeitleben geniessen, wie es die anderen Frauen loben. Doch eigentlich würde sie gerne schon jetzt mehr arbeiten als die dreieinhalb Tage derzeit. Bloss müssten sie dann auch mehr für die Krippe zahlen. Ein zusätzlicher Tag im Job wäre erholsam, so glaubt sie, und sie wäre ausgeglichener.

Aber nicht nur deshalb wäre sie bereit, ihr Pensum aufzustocken. Sondern es machte sie finanziell unabhängiger. Wietzke sagt: «Ich möchte immer in der Situation sein, in der ich meinen Mann verlassen kann.»

Auch diese Sicherheit kann zum Glück beitragen.