Im Taumel

Europa verliert den Boden unter den Füßen, aber das bietet Möglichkeiten, Dinge zu verändern.

Europa taumelt. Wir befinden uns nicht im freien Fall, scheinen aber den Boden unter den Füßen zu verlieren. Überall stoßen wir auf unerwartete Widerstände und Hürden. Erschöpft durch die Pandemie, verunsichert durch den Krieg in der Ukraine und verängstigt durch die große Hitze. Im Taumel stürzen wir und brechen uns dabei die Knochen, aber genauso können wir aus der Verwirrtheit heraus eine ganz neue Richtung einschlagen.

Im Taumel werden Probleme sichtbar, die wir bisher verdrängen konnten. Aus einem falschen Gefühl der Überlegenheit haben wir uns in Abhängigkeiten wie jene von Russland und seinem Gas begeben.

Wir glaubten, mit jemandem wie dem russischen Präsidenten Wladimir Putin würden wir schon klarkommen. Nun wird uns unsere relative Bedeutungslosigkeit neben den Machtblöcken China und USA vor Augen geführt. Unser Taumel kann eine Einladung sein, unsere Überheblichkeit abzulegen, unsere geopolitischen Schwächen anzuerkennen und strategisch danach zu handeln.

Europa taumelt. Überall stoßen wir auf unerwartete Widerstände und Hürden.
Foto: imago images/Future Image

Die Einheit Europas ist unsere einzige Chance. Wer diese Einheit gefährdet, wie es derzeit Ungarn tut, sollte seinen Weg allein gehen.

Im Taumel können wir uns neu ausrichten und ausgetretene Pfade verlassen. Das System des Spätkapitalismus, der seinen Erfolg durch Massenkonsum und spekulatives Wachstum definiert, hat keine Zukunft. Die Anbetung des Fetischs Ware hinterlässt am Ende nur Leere. Wirtschaften wir weiter ohne Rücksicht auf zukünftige Generationen und planetare Grenzen, oder suchen wir ernsthaft nach Auswegen? Worauf sind wir bereit zu verzichten? Was gehört zu einem guten Leben und was nicht? Haben wir Wohlstand zu sehr mit Reichtum verwechselt und dabei auf unser Wohlbefinden vergessen?

Es braucht neue Systemlogiken

Neue Ansätze unternehmerischen Handelns, das die Erde und den Menschen in den Mittelpunkt stellt, sind schon erkennbar. Doch die Systemlogiken sind noch die alten. Zusammen mit jenen, die durch das alte, kaputte System viel Geld verdienen, verhindern sie das Neue. Manche genügen sich deshalb im eigenen „Gut und anders Tun“ und glänzen durch Selbstgerechtigkeit. Das wird sich nicht ausgehen. Nur durch solidarische Allianzen über alle Gesellschaftsschichten hinweg wird das neue Wirtschaften sich gegen die alten Machtinteressen durchsetzen.

Im Taumel fällt uns vieles schwerer. Der Kontrollverlust macht Angst. Die autoritäre Versuchung wird größer; die Verführer, die für alles eine einfache Lösung oder Erklärung haben, werden stärker. Die Gegenerzählung ist radikale Ehrlichkeit, Transparenz und ein offenes Ansprechen unserer Verwundbarkeiten. Politik muss die Menschen einladen und ermächtigen, Landkarten der Zukunft zu zeichnen. Die alte Logik von zentraler Planbarkeit und Steuerung hat ausgedient. Wir brauchen eine Kultur der Experimente.

Als Bürgerinnen und Bürger sollten wir mit einem neuen Selbstbewusstsein handeln und unsere gewohnten Pfade infrage stellen. Womöglich bietet der Zustand des Taumels eine Möglichkeit, mehr Dinge zu verändern als in den vergangenen Jahrzehnten. Oder glauben wir, den Status quo retten zu können, und akzeptieren Änderungen nur, damit alles bleibt, wie es ist? (Philippe Narval, 25.7.2022)

Zum Weiterlesen: