Andreas Sator
15. August 2022
Der Bäcker weg, das Kaffeehaus zu: Wie lassen sich Ortskerne zum Leben erwecken?
Was früher die Einkaufstasche war, ist jetzt der Kofferraum. Eingekauft wird nicht mehr beim kleinen Kaufhaus im Ort, sondern beim riesigen Supermarkt am Ortsrand. Den Bäcker gibt es schon lange nicht mehr, der Supermarkt macht’s billiger. In die Bank im Ort fährt kaum mehr jemand, die meisten überweisen online. Das Kaffeehaus macht auch zu, weil zu wenige Menschen im Ort unterwegs sind, um die Kosten zu decken. Einige Gemeinden kämpfen aber dagegen an. Wie moderne Mobilität, der Aufkauf von leerstehenden Gebäuden und ein Kulturwandel auch die Zentren kleiner Gemeinden wieder aufwecken können.
1. Das Rad der Zeit bzw. das Auto lässt sich so schnell nicht mehr zurückdrehen. Viele Dinge, die früher im Ortskern stattgefunden haben, sind für immer weg. Die Einkaufsgewohnheiten haben sich verändert, und es wird immer mehr online erledigt. Der Pkw-Besitz steigt weiter an. Früher, als etwa noch viele Frauen keinen Führerschein hatten, legten sie ihre Wege zu Fuß oder mit dem Rad zurück. Die Zeiten sind vorbei. Die Politik kann aber trotzdem etwas tun. Etwa indem sie einen Ring um den Ortskern zeichnet. Nur mehr in der Entfernung von zum Beispiel einem Kilometer wird Bauland gewidmet: Innen- vor Außenentwicklung. Je näher die Leute am Zentrum leben, desto eher gehen bzw. fahren sie auch hin.
2. Je früher damit begonnen wird, desto besser. Denn bis das wirkt, vergehen Jahre bis Jahrzehnte. Aber die Trends, die die Ortskerne aussterben lassen – der zunehmende Pkw-Verkehr, die Einkaufszentren, die Zersiedelung, das Internet –, haben auch über lange Zeit gewirkt. Was ebenfalls nicht so schnell geht, ist der Bruch von Routinen. Wenn wir in der Früh ins Auto steigen, dann denken wir darüber nicht nach. Es ist normal, eine Gewohnheit.
Forschung zeigt, dass wir Gewohnheiten meist dann hinterfragen, wenn sich im Leben etwas ändert. Wer ein Baby bekommt, legt sich oft spätestens dann ein Auto zu. Wer in Pension geht, kauft sich ein E-Bike für Ausflüge. Hier kann kluge Politik ansetzen: Gezielte Informationen für Menschen in diesen Lebensphasen über Radwege, Bahnverkehr, Busfahrzeiten helfen. Wer mit dem Auto unterwegs ist, fährt schnell in die nächste Stadt, wer mit dem Fahrrad oder gar zu Fuß von A nach B kommt, der lässt die Wertschöpfung eher im Ort.
3. Darum kann sichere Infrastruktur für Fußgeher und Radfahrerinnen mit der Zeit auch den Ortskern wieder stärken. Angebot schafft Nachfrage. Hier braucht es den Mut der Gemeinde, weil Radwege zu Beginn oft wenig benutzt werden. Hier auf dem Bild ist etwa ein Radweg in der Gemeinde Reisenberg in Niederösterreich zu sehen. Seine Errichtung war umstritten, weil de facto jeder im Ort ein Auto fährt. Damit sich aber Routinen langsam ändern können, braucht es erst einmal die Option, also den Radweg. Karl Reiter, ein Mobilitätsforscher, sagt, auf dem Land sollten eigentlich nirgends Radfahrer mit den Pkw-Fahrern auf einer Straße fahren.
4. Engagierte Gemeinderäte können sich etwa die Frage stellen: Wie kommen Jugendliche sicher und selbstständig in die Mittelschule oder ins Gymnasium? Das würde sofort Pkw-Verkehr einsparen und die Nerven der Eltern entlasten. Bei den wichtigsten Wegen sollten von der Straße getrennte, parallel verlaufende Radwege errichtet werden. Das ist allgemein ein guter Check für Radwege: Sind sie sicher und komfortabel von Alt und Jung befahrbar? Hier bei Schülern anzusetzen lohnt sich doppelt, denn so wird das Rad früh zur Gewohnheit. Auch Schulwettbewerbe können helfen: Welche Klasse schafft die meisten Radkilometer?
5. Aber auch Gewohnheiten bei Erwachsenen zu ändern ist wichtig. Gerlind Weber, eine Raumplanerin, legt die zweieinhalb Kilometer zu ihrem Supermarkt zu Fuß zurück. So kombiniere sie Bewegung mit dem Einkauf. Oft, sagt sie, beobachtet sie, dass eine Runde Frauen auf demselben Weg zuerst walken geht, also Sport macht, und später noch einmal mit dem Auto fährt, um einzukaufen. Warum das Ganze nicht kombinieren? Das geht natürlich nicht, wenn der Wocheneinkauf gemacht wird. Aber wenn man schnell eine Schraube braucht oder einen Liter Milch, geht das sehr wohl. Wenn kleine Wege mit dem Fahrrad oder zu Fuß erledigt werden, senkt das Pkw-Emissionen und schafft das Potenzial für einen starken Ortskern.
6. Neben der Attraktivierung von aktiver Mobilität braucht es zur gleichen Zeit auch wieder mehr Gründe, im Ort zu bleiben. Es nützt der beste Radweg nichts, wenn es im Zentrum kein Geschäft gibt oder man auch sonst nichts dort machen kann. Mobilitätsexperte Reiter schlägt vor, dass Gemeinden vorangehen. Man könnte etwa ab und zu vor dem Gemeindeamt kostenlose Fahrradreparaturen anbieten.
Gleichzeitig wird dann Gratiskaffee ausgeschenkt. Vielleicht bleiben ein paar Leute sitzen und spielen Karten. Die Woche darauf kommen noch mehr. Es wird ein kleiner Treffpunkt. Dann werden ein paar Tröge mit Pflanzen aufgestellt. Vielleicht bietet dann noch jemand etwas an, etwa eine Künstlerin Malen oder Basteln. So kann nach und nach Leben entstehen. Auch ein Angebot für E-Car-Sharing kann Leute anlocken.
7. Wenn man eine gewisse Frequenz im Ortszentrum hat, kann man es gleich auch noch zur Begegnungszone machen. Das hat etwa der steirische Ort Troifach gemacht. Das macht aber nur dann Sinn, sagen Experten, wenn es genügend Leute gibt, die die Straße auch mit etwas anderem benutzen als mit dem Auto. Ansonsten malt man umsonst ein paar Punkte auf die Straße, und die Pkws fahren wie zuvor. In einer Begegnungszone darf kein Verkehrsmittel schneller als 20 km/h fahren, und alle dürfen gleichberechtigt die Straße nutzen: der Fußgänger genauso wie der Radfahrer und der sehr langsam fahrende Pkw-Fahrer, der durchmuss.
8. Leerstand ist ansteckend, sagt der Architekt Christof Isopp von Nonconform. Wenn ein Lokal stirbt, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass auch das nächste stirbt. Das kann Gemeinden den Garaus machen. Umgekehrt gilt aber auch: Je besser ein Lokal läuft, desto eher gehen die Besucher auch gleich noch in den Laden nebenan. Nonconform hat die Gemeinde Troifach bei der Ortskernbelebung begleitet.
Statt die Musikschule auf die grüne Wiese zu bauen, siedelte sie in ein leerstehendes Gebäude im Zentrum. Das zieht Kinder und ihre Eltern an. „Das ist dann der erste Dominostein“, sagt Isopp. In einen anderen Leerstand siedelte ein kleiner Spezialitätenladen. Nicht nur Leerstand, auch Ortskernbelebung ist ansteckend.
9. Welche Funktion ein Ortskern hat – ob dort nur schnell mit dem Auto durchgefahren wird oder ob es ein sozialer Raum ist –, sei eine wichtige Frage, so Isopp. Ist Letzteres gewünscht, dauert so ein Kulturwandel aber viele Jahre. „Oft zehn und länger, und es ist ein ständiges Work in Progress“, sagt der Architekt. Damit ein Ortskern belebter wird, müssten Politik, Unternehmen und Bürger an einem Strang ziehen.
Der Gemeinderat kann aber vorpreschen, indem er etwa die Dauerparkplätze aus dem Zentrum entfernt, schlägt Isopp vor. Wer etwa im Gemeindeamt arbeitet, müsse dann fünf Minuten zu Fuß entfernt parken. Und nur wer dann etwa schnell den Einkauf ins Auto lädt, darf noch im Zentrum parken. Das schafft Platz für Begrünung, Bänke, Wasserspiele „und kann erste Frequenz bringen“.
10. Aber auch die Bürger können eine zentrale Rolle einnehmen. So passiert etwa in St. Stefan-Afiesl im Mühlviertel in Oberösterreich. Es fehlte ein Nahversorger, darum wurde eine Genossenschaft gegründet. Etwa ein Drittel des Dorfes hält Anteile, den größten die Gemeinde. Gemeinsam wurde ein Haus im Zentrum renoviert, es wird nun von einer gemeinnützigen Organisation betrieben. Jetzt wird dort mit behinderten Menschen gearbeitet. Außerdem kann man dort essen oder frühstücken. „Wo, wenn nicht im eigenen Haus, gehst du dein Schnitzel essen oder dein Bier trinken?“, sagt Isopp. „Dort ist jetzt immer etwas los.“
In der Serie „Alles gut?“ denkt STANDARD-Redakteur Andreas Sator über eine bessere Welt nach – und darüber, welchen Beitrag er leisten kann. Melden Sie sich hier für seinen kostenlosen Newsletter an.