„Mit viel Glück kriegen wir noch die Kurve“

Und wenn nicht, wird nichts mehr so sein, wie es einmal war: Klimapolitologe Reinhard Steurer über die Chancen und Risiken der Klimakrise.

Häufige, heftige und lang andauernde Waldbrände sind nur ein zeichen für die Klimakrise. © fergregory / stock.adobe.com

Wiener Journal: Eines der dominierenden Themen des diesjährigen Alpbach Forums ist „Climate Opportunity“. Kann man noch von einer Gelegenheit sprechen oder ist es dafür zu spät?

Reinhard Steurer: Man darf nie aufhören, von einer Gelegenheit zu sprechen, um Mut zu machen. Tatsächlich sind die hohen Gaspreise eine gute Gelegenheit, schneller aus Fossilenergie aus- und auf erneuerbare Energien umzusteigen. Wir sind allerdings einmal mehr dabei, diese Gelegenheit verstreichen zu lassen, denn aktuell ist die größte Sorge, die fossile Energieversorgung für den Winter zu sichern.

Glauben Sie, dass das ein Österreich- oder EU-Problem ist?

Es ist quer durch Europa ein Problem, allerdings ist der Fokus auf Energiesparen vor allem in Österreich besonders spät und schwach ausgefallen. Wir haben dadurch sicher wertvolle Zeit für angemessene Lösungen verloren.

Wie kann man die Gas- und die Klimakrise gemeinsam in Angriff nehmen?

Die hohen Preise für Fossilenergie sind die ideale Gelegenheit, aus Fossilenergie schneller als geplant auszusteigen. Zudem gilt: Wenn wir diesen Ausstieg jetzt nicht forcieren, dann wird es in ein paar Jahren nicht mehr darum gehen, die Klimakatastrophe zu verhindern, sondern nur noch darum, sie zu verzögern. Wir stehen kurz vor diesem historischen Moment, wenn er nicht schon passiert ist. Mit viel Glück haben wir noch ein paar Jahre, um die Kurve zu kriegen. Viel spricht dafür, dass es bereits sehr knapp ist – die hohe Methankonzentration in der Atmosphäre, Waldbrände, die viele zusätzliche Emissionen verursachen, und die extreme Eisschmelze an den Polen.

Wenn die nächsten Jahre entscheidend sind, wieso hat man das jahrzehntelang verschlafen?

Die Klimakrise entwickelt sich so langsam und zeitverzögert, dass es leicht war, sie zu verdrängen und zu verharmlosen. Jetzt ist ein Punkt erreicht, an dem das nicht mehr ohne gravierende Folgen geht. Das Szenario, auf das wir derzeit zusteuern, ist eindeutig: Bei einem „weiter so“ wird unsere Zivilisation, wie wir sie kennen, im Chaos versinken. Zum Beispiel, weil die Nahrungsmittelversorgung und globale Lieferketten zusammenbrechen werden. Die Wissenschaft warnte genau davor seit Jahrzehnten, aber weite Teile der Gesellschaft wollen es immer noch nicht hören. Die derzeitige Lage ist tatsächlich sehr ernst.

Die EU gilt als Vorreiter im Klimaschutz, aber kann sie etwas auf globaler Ebene ausrichten, wenn andere Industriestaaten nicht nachziehen?

Ganz sicher. Es können sogar Nationalstaaten etwas ausrichten, wenn sie ernsthaft eine Lösung verfolgen. Dafür gibt es schöne Beispiele. Deutschland hat ein paar Jahre die Energiewende mit Nachdruck betrieben. Das war maßgeblich für den Durchbruch der Solartechnik. Die Preise sind seitdem stark gesunken. Dasselbe sieht man bei Autos. Die Politik in Norwegen war für den Durchbruch von E-Autos weltweit entscheidend. Heute werden dort so viele emissionsfreie Pkw zugelassen wie sonst nirgends auf der Welt, und andere ziehen nach. Somit können sogar einzelne Länder wichtigen Lösungen zum Durchbruch verhelfen. Wenn das EU-weit passiert, gilt das noch viel mehr.

Atomenergie wird derzeit gerne „grüngeredet“. – © Monty Rakusen / Getty

Die EU kann die Klimakrise aber dennoch nicht allein lösen.

Aber technische Entwicklungen können von Wirtschaftsräumen wie der EU angetrieben werden. Solarenergie ist heute beispielsweise die billigste Form der Stromerzeugung, viel billiger als Kohle- oder Gasverstromung. Das hat weltweit Bedeutung. Zusätzlich sollte die EU Importe aus Ländern ohne CO2-Preis mit einem Zoll versehen. Das ist für 2026 vorgesehen, kommt aber wie fast jede dringend nötige Maßnahme um Jahre zu spät. Jedenfalls wäre ein CO2-Zoll für Länder wie China ein Anreiz, selbst einen CO2-Preis einzuführen und somit Emissionen zu senken.

Ist es nicht scheinheilig zu behaupten, die EU sei ein Klimaschutz-Vorreiter? Ein Teil der Verschmutzung findet nicht mehr in der EU statt, sondern sie wird in Länder wie China ausgelagert.

Durch Importe und Konsum verursachen wir tatsächlich mehr Emissionen, als offizielle Statistiken aufzeigen. Das noch größere Problem ist jedoch, dass nationale Emissionen auch in der EU zu langsam reduziert werden, besonders in Österreich. Bei uns sind CO2-Emissionen seit 1990 unverändert hoch geblieben. Das ist eine klimapolitische Bilanz des Scheiterns, die zum Schämen ist.

Hat die Klimakrise neokoloniale Züge? Die Menschen im globalen Süden zahlen den Preis dafür, dass Industrieländer wie Österreich die Erde seit Jahrzehnten heruntergewirtschaftet haben.

Diejenigen, die am wenigsten zu dem Problem beigetragen haben, werden in der Tat am stärksten darunter leiden, vor allem afrikanische Länder. Um das etwas auszugleichen, wäre finanzielle Unterstützung durch den reichen Norden dringend nötig, für Emissionsminderungen und Anpassung. Im Paris-Abkommen sind 100 Milliarden Dollar an „Klimafinanzierung“ jährlich versprochen worden. Das Geld fließt bis heute nicht. Das ist ein weiteres Beispiel dafür, dass Ankündigungen und Umsetzungen in der Klimapolitik traditionell weit auseinandergehen.

Was könnte man unternehmen, um die Menschen auf die Dringlichkeit der Klimakrise aufmerksam zu machen?

Am wichtigsten wäre mediale Berichterstattung. Wir bräuchten aufrüttelnde Botschaften und Berichte aus den „Intensivstationen der Klimakrise“, so ähnlich wie während der Pandemie-Wellen. Die Klimakrise ist zwar ähnlich akut, aber man nimmt es noch nicht so drastisch wahr. Die Verantwortung liegt bei allen, aber die der Medien ist besonders groß, weil sie darüber entscheiden, wie wir das Problem und nötige Lösungen wahrnehmen. Bisher ist die mediale Berichterstattung oft verharmlosend. Einem Großteil der Bevölkerung ist nicht klar, dass unsere Zivilisation schon in den nächsten Jahrzehnten im Chaos versinken könnte.

Die mediale Berichterstattung der Pandemie hat zu einer Abstumpfung bei den Menschen geführt. Könnte es beim Klima ähnlich sein?

Der größte Fehler in der Corona-Krise war, dass zunächst übertrieben und dann wieder oft verharmlost worden ist. Das hat nachvollziehbaren Ärger und Frust produziert. Deshalb ist es in der Klimakrise wichtig, realitätsnah und faktenorientiert zu kommunizieren. Die Fakten sind brutal genug. Da braucht man nicht mehr übertreiben, nur berichten was ist – und voraussichtlich sein wird.

Abgesehen von der Gesellschaft, was könnte die Politik tun?

Am wichtigsten wäre, dass die Politik aufhört, Märchen zu erzählen. Zum Beispiel, dass Österreich mit der derzeitigen Politik bis 2040 klimaneutral sein kann oder dass bis 2030 der gesamte Strom aus erneuerbaren Quellen stammen wird. Beim derzeitigen Reform-Tempo ist beides mit Sicherheit unmöglich und das sollte auch offen gesagt werden. Und wenn Politiker das nicht sagen, dann sollten Medien zumindest bei Wissenschaftern nachfragen. Das würde helfen, die sehr beunruhigende Realität nicht aus den Augen zu verlieren.

Wo müsste die Wirtschaft ansetzen, um Lösungen zu fördern?

Die Wirtschaft hat schmerzhaft gelernt, dass die Zeit des billigen Gases vorbei ist. Es ist ein Umdenken im Gang und hoffentlich werden jetzt die Standort- und Wettbewerbsvorteile von erneuerbaren Energien erkannt. Vermutlich werden Regionen mit wenig erneuerbaren Energien in ihrem Strommix an Wettbewerbsfähigkeit verlieren. Vor diesem Hintergrund müssten Wirtschaftskammer und ÖVP eigentlich damit aufhören, Klimapolitik auszubremsen. Und Wirtschaftsvertreter müssten laut aufschreien, wenn beispielsweise die Landeshauptfrau von Niederösterreich sagt, sie möchte keine neuen Windräder, weil diese das Landschaftsbild stören.

Klimaschutz bringt ja oft nicht viel. Sie sprechen in dem Zusammenhang von „symbolischen Ersatzhandlungen“. Was ist das genau?

Das bedeutet, dass zwar fast alle Klimaschutz wollen, aber möglichst wenig dafür zu tun oder zu zahlen bereit sind. Wir befriedigen das Bedürfnis nach Klimaschutz mit Dingen, die möglichst leicht und billig sind. Beim Einzelnen wäre das zum Beispiel Mülltrennung und Recycling.

Wenn es aber darum geht, die großen Dinge anzupacken, wie etwa nicht mehr so oft in den Urlaub zu fliegen oder weniger Fleisch zu essen, dann wird es schwieriger. In der Politik sehen wir ähnliche Phänomene. Die einfachste politische Ersatzhandlung ist, Ziele ankündigen. Bis 2040 klimaneutral sein, das klingt super und man kann damit Wahlen gewinnen, weil es heute niemandem weh tut. Kurzum: Wir verarschen uns beim Klimaschutz gerne selbst.

Auch Unternehmen betreiben Scheinklimaschutz. Wenn Unternehmen aber schweigen würden, wäre die Verdrängung noch größer. Was ist das geringere Übel?

Mülltrennung funktioniert schon recht gut. – © Artur Debat / Getty

Beides ist gleich übel. Die Illusion des Tuns ist mindestens so schlimm wie nichts zu tun, vielleicht sogar schlimmer, weil damit etwas vorgetäuscht wird. Wenn Unternehmen nur so tun, als ob ihnen Klimaschutz ein Anliegen sei, dann müsste man das aufdecken, ob journalistisch, durch NGOs oder indem Konsumenten kritisch prüfen. Noch leichter wäre es, wenn man Werbung mit Scheinklimaschutz gesetzlich strikter regeln würde.

Denken Sie, dass auch eine bewusstere Sprache im Umgang mit der Klimakrise wichtig wäre?

Ganz sicher. Die Verharmlosung des Problems fängt mit den Begriffen „Klimawandel“ oder „globale Erwärmung“ an. Klimawandel ist für mich mittlerweile ein Unwort, das niemand mehr verwenden sollte. Es ist passiv und verharmlosend. Das Klima wandelt sich und es fühlt sich an, als ob man von Wien nach Rom auf Urlaub fährt. Auch Erwärmung ist unpassend, weil Wärme für jeden etwas Angenehmes ist. Passender sind Begriffe wie Klimakrise, Klimanotstand oder globale Erhitzung. Sie signalisieren die gebotene Dringlichkeit.

Wie wird sich das „neue“ Europa in der Klimakrise landschaftlich verändern und welche Konsequenzen hat das für die Landwirtschaft? Beispielsweise in Italien?

Die Entwicklung von Südeuropa zeichnet sich im Sommer 2022 deutlich ab. Wenn die Entwicklung so weitergeht und wir auf drei Grad Erhitzung zusteuern, werden weite Teile Südeuropas wortwörtlich verwüstet werden. Nordsahara sozusagen. Wenn Landwirtschaft in dem Szenario dort noch möglich sein sollte, dann nur aufwendig mit teurer Bewässerung. Auch in anderen Teilen Europas, so auch in Ostöster-reich, werden wir vermehrt Ernteausfälle sehen. Das wird Hungersnöte für Millionen oder gar Milliarden von Menschen mit sich bringen. Wenn wir weiter in Richtung drei Grad gehen, wird die Weltbevölkerung nicht mehr zu ernähren sein.

Wie müsste ein neues Europa aussehen, damit es lebenswert für alle bleibt?

Dafür wäre es dringend nötig, die Emissionen weltweit rasch zu senken – möglichst ab sofort, und zwar mindestens um sieben Prozent im Jahr. Die Emissionen nur in Europa zu senken reicht nicht mehr aus, um eine Katastrophe abzuwenden. Im Moment steigen die globalen Emissionen allerdings nach wie vor. Um die Trendwende zu schaffen, müsste Klimaschutz höchste Priorität bekommen. Wenn andere Länder Klimaschutz weniger ernst nehmen als die EU, dann müssten wir auch den Freihandel mit ihnen in Frage stellen, um ausreichend Druck aufzubauen. Man ahnt es schon: Diese Trendwende zu schaffen, wird sehr schwierig, aber sie ist möglich – technisch und politisch.

Ist das auf EU-Ebene nicht noch schwieriger, wenn viele verschiedene Akteure vorhanden sind?

Es ist schwierig, weil es um viel Geld geht. Aktuell haben Atom- und Gaslobby einen Sieg davongetragen. Das können wir uns eigentlich nicht mehr leisten. Was fehlt, ist ausreichend Druck aus der Bevölkerung. Es braucht Massenbewegungen wie „Fridays for Future“, die besseren Klimaschutz einfordern, in Umfragen, an Wahltagen und auch auf der Straße. 2019 hat diese Bewegung gezeigt, was in kurzer Zeit möglich ist. Das würden wir nochmals brauchen. Leider ist die Gesellschaft derzeit „krisenmüde“ beziehungsweise mit anderen Krisen beschäftigt. Blöderweise lässt sich wirksamer Klimaschutz nicht mehr verschieben. Entweder eine Mehrheit fordert, dass sich vieles rasch ändern muss, oder es wird nichts mehr so sein, wie es einmal war.

Zur Person: Reinhard Steurer

Reinhard Steurer ist Professor für Klimapolitik an der BOKU Wien. Er absolvierte ein Politikwissenschaftsstudium an der Universität Salzburg (Dr. phil 2001) und einen Master in Public Policy an der University of Maryland (USA). Steurer habilitierte 2013 an der BOKU in Vergleichender Politikwissenschaft. Er beschäftigt sich mit psychosozialen Mechanismen der Klimakrise, die Gesellschaft, Politik und Wirtschaft betreffen. Beim EU Alpbach Forum 2022 leitet er das Seminar „Manifesting European Climate Policy“.