Ein Klick führt Sie zu Oe1…

Betroffene berichten

30. November 2022

#IchBinArmutsbetroffen

Klimaschutz und Armut

Unter dem Hashtag „#IchBinArmutsbetroffen“ erzählen Menschen auf dem Kurznachrichtendienst Twitter, was es heißt, in Armut zu leben. Viele berichten von Vorurteilen, etwa: Wer in Armut lebe, habe andere Sorgen als Klimaschutz. ORF Topos hat mit Betroffenen gesprochen und nachgefragt, ob das stimmt.

„Wenn ein Mensch mit dem Überleben beschäftigt ist, hat er weniger Interesse am Klimaschutz, weil dann ist man mit dem Alltag beschäftigt,“ sagt die 65-jährige Pensionistin und ehemalige Politikerin Hedwig-Doris Spanner im Videointerview mit ORF Topos. Seit Jahren engagiert sie sich ehrenamtlich, unter anderem für die Plattform „Sichtbar Werden“ und den Verein „Backstreet-Guides“ und trifft dort auf Menschen, die von Armut betroffen sind. Anders ist es bei Maria, die 70-jährige will die Klimawende, „damit meine Enkelkinder eine gesunde Zukunft haben,“ sagt sie im Gespräch gegenüber ORF Topos.

„Meine Äpfel kommen aus der Steiermark“

Maria lebt im 22. Wiener Gemeindebezirk und ist einer von mehr als 1,5 Millionen Menschen in Österreich, die arm oder armutsgefährdet sind. Das bedeutet, diese Menschen müssen mit weniger als 1.400 Euro netto im Monat auskommen. Maria bleiben nach Abzug der Fixkosten monatlich etwa 1.000 Euro übrig, in ihrem Haushalt leben sechs Personen.

Seit wenigen Monaten achtet sie darauf, den Müll zu trennen, denn das habe sie so „in der Werbung und im Fernsehen“ gesehen. Während sie früher jeden Tag die Wäsche gewaschen hat, läuft die Waschmaschine nur mehr zweimal pro Woche, und „meine Äpfel kommen aus der Steiermark, die Paradeiser bringt mir eine Freundin vom Bauernmarkt mit,“ erzählt Maria im Gespräch.

Überdurchschnittlich hohe Energiekosten

Unsanierte Gebäude und alte Hausgeräte sind oft die Ursache für einen hohen Energieverbrauch von ärmeren Haushalten: Eine Studie über Energiearmut der Statistik Austria im Auftrag der E-Control hat ergeben, dass im Jahr 2021 123.800 Haushalte mit niedrigem Einkommen überdurchschnittlich hohe Energiekosten zu tragen hatten. Informationen zum Sparen, flächendeckende Beratungsleistungen sowie eine direkte Unterstützung bei der Umsetzung von Energieeffizienzmaßnahmen seien bei der betroffenen Gruppe besonders wichtig, sagt Christina Veigl, Leiterin der Abteilung Endkunden der E-Control, gegenüber ORF Topos. Im Rahmen des Verbund-Stromhilfefonds bietet etwa die Caritas Menschen mit geringerem Einkommen kostenlose Energieberatungen sowie einen Gerätetausch an.

1.5 Millionen Menschen in Österreich sind armuts- bzw. ausgrenzungsgefährdet. Besonders gefährdet sind nach Angaben der Armutskonferenz Kinder, Frauen im Alter, Alleinerzieherinnen, Langzeitarbeitslose sowie Menschen mit chronischen Erkrankungen.

Klimafreundlich leben nicht für alle möglich

Ob Haushalte mit geringerem Einkommen klimaneutral leben können, sei stark von den Strukturen abhängig, sagt der Klimaökonom Karl Steininger vom Wegener Center für Klima und Globalen Wandel der Universität Graz zu ORF Topos: „Ich habe noch nicht sicher CO2-freien Strom, ich kann noch nicht mit Sicherheit eine Wohnung beziehen, die ein klimaneutrales Heizsystem hat.“

Daten vom Wegener Center zeigen, je höher das Einkommen einer Person oder eines Haushalts, desto größer ist tendenziell auch der CO2-Fußabdruck im Alltag. Am deutlichsten zeigen sich die Unterschiede der Treibhausgasintensität im untersten und obersten Einkommensdezil: eine Person mit einem Einkommen innerhalb der untersten zehn Prozent hinterlässt einen CO2-Fußabdruck von durchschnittlich 3,2 Tonnen pro Jahr, eine Person innerhalb der obersten zehn Prozent stößt im Schnitt 19 Tonnen CO2 pro Jahr aus. Bei den Werten handelt es sich um Mittelwerte, innerhalb der Einkommensgruppen gibt es zum Teil große Bandbreiten der Treibhausgasintensität (zum Beispiel aufgrund des Regionstyps).

Aus der Armut herauszukommen heiße einer ausgrenzenden und schädlichen Mangelsituation zu entfliehen, sagt Martin Schenk, Sozialexperte der Diakonie im Interview mit ORF Topos, denn „um angemessene Lebensumstände zu haben, bedeute für die Betroffenen auch, dass sie ihren CO2-Fußabdruck erhöhen“, so der Experte: „statt überbelegten Wohnungen wieder ausreichend Platz für die Kinder, statt kalten Zimmern wieder warme Räume, statt nichts konsumieren können wieder mehr konsumieren.“

Ein Hashtag macht Armut sichtbar

Wer in Armut lebt, sei damit beschäftigt, „dass sich die Belastungen verringern,“ sagt Schenk. Um Armutsbetroffene zu erreichen, müssten Maßnahmen zum Klimaschutz diese entlasten, so der Experte. Der Zugang von Menschen mit geringerem Einkommen zu Beratungsangeboten und strukturellen Hilfen spiele daher eine wesentliche Rolle.

Immer sparen zu müssen heißt für Marias Familie Verzicht, auch in der Freizeit: „Früher sind wir zwei- bis dreimal im Jahr mit den Kindern in den Zirkus gegangen, jetzt gehen wir nur mehr einmal.“

In einer Zeit, in der Energie, Lebensmittel und Wohnen zunehmend teuer werden, erzählen Userinnen und User unter dem Hashtag „#IchBinArmutsbetroffen“, was es heißt, nicht genügend Geld zum Leben zu haben. Angestoßen von einem Tweet der 40-jährigen Alleinerzieherin Annie W. ist aus dem Hashtag in Deutschland längst eine soziale Bewegung geworden: Die Menschen erzählen, wie ein Einkauf in Zeiten der steigenden Lebensmittelpreise aussieht, von der Angst vor Rechnungen und auch von Vorurteilen und Stigmatisierung.

Leonie Markovics (Text und Gestaltung), ORF Topos, Sandra Schober (Grafiken), ORF.at, für ORF Topos, Oliver Zinner (Kamera), für ORF Topos, Sarah Goldschmidt (Schnitt), für ORF Topos