Dies & Das: «Mich ärgert die Sichtweise der urbanen Elite, die viel Ahnung von Adorno hat, aber von der Natur total entfremdet ist»

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Interview mit Matthias Glaubrecht, Buchautor und Professor für Biodiversität an der Universität Hamburg.

Judith Blage – 09.12.2022

«Mich ärgert die Sichtweise der urbanen Elite, die viel Ahnung von Adorno hat, aber von der Natur total entfremdet ist»

Ohne Insekten gibt es kein Obst, keinen Kakao und keinen Kaffee. Der Zoologe Matthias Glaubrecht erklärt, warum die Artenkrise auch Leute dringend interessieren sollte, die von Zoologie normalerweise gelangweilt sind.

Matthias Glaubrecht ist Buchautor und Professor für Biodiversität an der Universität Hamburg. Sebastian Engels / UHH

Herr Glaubrecht, am Mittwoch hat in Montreal die Uno-Artenschutzkonferenz begonnen. Wie stark ist die Artenvielfalt tatsächlich bedroht?

Matthias Glaubrecht: Das Problem ist gigantisch. Der Weltbiodiversitätsrat warnt davor, dass wir in den nächsten Jahrzehnten eine Million Arten verlieren könnten. Damit ist alles gemeint: Säugetiere, Muscheln, Vögel, Insekten, Pflanzen. Das Tragische ist, dass wir das wahre Ausmass des Problems aber kaum wirklich bemessen können. Denn wir schätzen nur, dass es etwa 8 bis 9 Millionen Arten auf der Erde gibt. Nur 2 Millionen davon sind beschrieben, und nur 160 000 Arten werden überhaupt überwacht. Es ist eine Art stilles Sterben, von dem wir nicht wirklich eine Ahnung haben – dabei bedroht uns das akut.

Nun, tatsächlich ist es für die meisten Menschen emotional recht unerheblich, ob es zum Beispiel die 2007 in der Schweiz ausgestorbene Schmetterlingsart Moor-Wiesenvögelchen noch gibt oder nicht. Was könnte ihre Meinung ändern?

Es ist ein Missverständnis, dass der Verlust des Moor-Wiesenvögelchens nur verschrobene alte Männer betrifft, die in ihrer Freizeit Schmetterlinge auf Nadeln spiessen. Mich ärgert diese Sichtweise der urbanen, gebildeten Elite, die viel Ahnung von Adorno und Horkheimer hat, aber von der Natur total entfremdet ist. Die Menschheit ist konkret von der Biodiversitätskrise betroffen: Zum Beispiel ist den wenigsten bewusst, dass sehr viele Nahrungsmittel, die wir konsumieren, von Insekten bestäubt werden müssen. Ohne Insekten gibt es keine Mangos, keinen Kaffee, keine Äpfel und keine Birnen. Und Sie in der Schweiz hätten ohne Insekten ohnehin ein Problem: Es gibt exakt zwei Mückenarten, die Kakaopflanzen bestäuben. Und ohne Kakao keine Schokolade. Müssten die Kakaopflanzen dieser Welt übrigens in Zukunft von Hand bestäubt werden, würde das 500 Milliarden US-Dollar kosten, sagt eine Schätzung.

Das Moor-Wiesenvögelchen gilt in der Schweiz als ausgestorben, seit ein Bauer 2007 aus Versehen die letzte Wiese, auf der es vorkam, zur falschen Jahreszeit mähte. Imago

Auf welche Weise betrifft uns das Sterben der Tiere und Pflanzen noch?

Die Qualität der Böden könnte stark sinken. Jeder Kubikmeter Boden ist mit einer Vielzahl von Organismen bevölkert, die ihn mit Nährstoffen anreichern, befeuchten und auflockern. Ein Beispiel dafür ist der Regenwurm oder der Maulwurf. Weniger prominent sind Fadenwürmer, Ameisen, bestimmte Mikroorganismen, von denen wir bis heute viel zu wenig wissen. Sterben diese Arten weg, werden wir in der Landwirtschaft dem Boden weniger Nahrungsmittel abtrotzen können. Unsere Ernährungssicherheit ist also gefährdet. Wenn wir das Meer leerfischen, fehlt zusätzlich ein wichtiger Nahrungsbaustein. Wir sägen gerade den Ast ab, auf dem wir sitzen.

Aber werden denn solche Arten wie der Regenwurm definitiv betroffen sein? Noch ist er ja zahlreich zu finden.

Die Böden werden tatsächlich immer steriler, das ist nachgewiesen. Das Problem aber ist, dass wir nicht genau wissen, welche Art wie betroffen sein wird. Wir haben uns in der Vergangenheit beim Artenschutz viel zu sehr auf einzelne Arten konzentriert, zum Beispiel auf den Eisbären oder den Nebelparder, die sind schön flauschig und gefallen vielen Menschen, deshalb bekommen sie mehr Aufmerksamkeit. Inzwischen wissen wir aber, dass längst ganze Lebensräume gefährdet sind. Das betrifft ganze Systeme, wie ein Turm beim Jenga-Spiel. Zieht man einen Stein heraus, bricht der ganze Turm zusammen.

Haben Sie ein Beispiel?

Im vorigen Jahrhundert ist der Seeotter in Kanada weitgehend dem Pelztierhandel zum Opfer gefallen. Dann waren plötzlich auch die Kelpwälder verschwunden, das sind lange breite Algen in Küstennähe, die den Strand unter anderem vor der Brandung schützen. Was hatte der Otter mit den Algen zu tun? Nun, Seeotter fressen gerne Seeigel. Nun gab es ohne Otter massenweise Seeigel, die die Kelpwälder wegfrassen. Wer weiss, wie viele Zusammenhänge es noch gibt, die wir noch gar nicht kennen? Wir können heute noch nicht abschätzen, ob uns vielleicht der Verlust einer bestimmten Art das Genick brechen wird.

Seeotter fressen gerne Seesterne und Seesterne gerne die grünen Kelpalgen. Fehlt einer in dieser Reihe, kommt das Gleichgewicht durcheinander. Imago

In Ihrem neuen Buch «Die Rache des Pangolin» beschreiben Sie den Zusammenhang zwischen der Naturzerstörung und Pandemien.

Ja. Indem wir immer mehr Flächen auf der Erde mit unserer Landwirtschaft und Industrie vereinnahmen, nehmen wir vielen Arten die Lebensgrundlage. Eine Nebenwirkung ist, dass wir so gefährlichen Krankheitserregern viel näher kommen als früher. Ein Beispiel ist das Nipah-Virus, das eine Hirnhautentzündung auslöst. In Malaysia begann man 1998 eine intensive Schweinezucht in unmittelbarer Nähe des Regenwalds. Dort lebten auch Fruchtfledermäuse. Deren Kot gelangte in das Schweinefutter, das Nipah-Virus infizierte die Schweine und das Personal. Fast die Hälfte der Erkrankten starb. Durch den Verlust an Natur werden also auch neue Pandemien viel wahrscheinlicher.

Wenn wir die Klimakrise bekämpfen – werden dann auch weniger Tier- und Pflanzenarten verschwinden?

Nein, das ist ein häufiges Missverständnis. Es gibt zwar ein paar Überschneidungen zwischen den beiden Problemen, aber sie sind als getrennte Krisen zu sehen. Um einen Vergleich zu bemühen: Der Körper leidet nicht nur an einem Herzproblem, sondern an zwei grossen Organversagen: der Klima- und der Artenkrise.

Was wäre also zu tun, und was erhoffen Sie sich von der Artenschutzkonferenz in Montreal?

Wir dürfen uns nicht mehr nur auf den Erhalt einzelner Arten konzentrieren, sondern müssen ganze Lebensräume unter Schutz stellen. Das sogenannte 30-bis-30-Ziel, also 30 Prozent der Erdoberfläche bis 2030 unter Naturschutz zu stellen, sollte unbedingt dieses Jahr beschlossen werden. Nun bringt aber natürlich das beste Ziel nichts, wenn es nicht umgesetzt wird. Aber wenn die Verabschiedung dieses Ziels in Montreal 2022 gelingt, würden wir das möglich machen, was 2015 in Paris für den Klimaschutz gelang: ein internationales Schutzabkommen zu erreichen.

An welchen Schrauben können wir noch drehen, um den Artenschwund zu stoppen?

Die Hauptursache für das Artensterben ist die Überbevölkerung. Im globalen Süden wird die Bevölkerung in den nächsten Jahrzehnten weiter stark anwachsen. Im globalen Norden geht die Anzahl der Menschen zwar zurück, aber der Flächenbedarf steigt, wir verbauen unsere Landschaft immer weiter. Es ist nicht leicht, aber an diesen zwei Problemen müssen wir unbedingt arbeiten. Wenn wir so weitermachen wie bisher, werden wir 8 Milliarden Menschen auch nicht am Leben halten können.

Sie möchten nicht den Fokus auf einzelne Arten lenken. Aber für Sie als Zoologe: Um welche Art tut es Ihnen persönlich besonders leid?

Ich habe sehr viel an Tylomelania-Schnecken in Indonesien geforscht. Sie leben im Süsswasser, und es gibt einen ganzen Strauss von Arten, der sich ähnlich wie bei den Darwin-Finken auffächert. Ähnlich wie diese sind sie ein Modellorganismus in der Biologie. Die Schnecken sind nicht besonders attraktiv, aber ich finde sie auf abseitige Weise interessant: Die Tylomelania-Art, die im Schlamm lebt, hat eine Raspelzunge, mit der sie ihr Futter wie mit einem Rechen zusammenklaubt. Jene Art, die auf Stein lebt, hat eine spatelartige Raspelzunge. Eine Art habe ich sogar nach meiner Frau benannt. Ich habe so viele Jahre an den Schnecken geforscht, sie waren fast eine Allerweltsart – und jetzt werden sie immer weniger. Das finde ich persönlich traurig.

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