Alexander Busch, Manaus
22.11.2023
- Im Amazonasgebiet droht die Versteppung
- Nachts schoben sich die Rauchwolken zusammen
- Die Brände werden erst später in den Statistiken auftauchen
- Die Amazonas-Metropole hängt von der Freihandelszone ab
- Nur der steigende Fluss kann das Weihnachtsgeschäft retten
Im Amazonasgebiet droht die Versteppung
Die Dürre am Río Negro betrifft über 630 000 Menschen und 62 Städte, für die der Fluss eine Lebensader ist.
Seit elf Jahren spielt Judith Simon die erste Oboe im Orchester der Amazonas Filarmônica. Doch im Oktober mussten die Proben immer wieder unterbrochen werden. Der Grund dafür war der Rauch, der über die Klimaanlage in das Opernhaus, das im Kautschukboom vor 127 Jahren gebaut wurde, gelangte. «Am Ende der Proben strahlten die Bühnenscheinwerfer in einen Dunst hinein», erzählt die aus Bonn stammende Musikerin.
Für ihr Zuhause hat sie sich einen Luftreiniger gekauft. Die seit Wochen dichten Rauchschwaden, die über der 2,5-Millionen-Einwohner-Metropole Manaus hängen, trocknen die Atemwege ihres zweijährigen Sohnes aus. Sie selbst hat ständig eine verstopfte Nase. «Noch nie habe ich so etwas hier erlebt.»
Auch der Biologe Sebastian Brill wachte mitten im Amazonasregenwald schon morgens mit Rauchgeruch auf. Dabei befand er sich 150 Kilometer nordöstlich von Manaus an einem Ort im Regenwald, wo die Luft so sauber ist wie sonst fast nirgends auf der Welt. «Die Luft dort hat normalerweise Stickoxid- und Ozonwerte wie vor der Industrialisierung», sagt Brill. Seit 2017 war er bereits elf Mal für monatelange Forschungsaufenthalte im Regenwald.
Nachts schoben sich die Rauchwolken zusammen
Er arbeitet hauptsächlich auf einem 325 Meter hohen Turm mitten im unberührten Regenwald. Das «Amazon Tall Tower Observatory (ATTO)» ist ein gemeinsames Projekt der deutschen Max-Planck-Gesellschaft und des brasilianischen Instituts für Amazonasforschung (INPA). Dort kann Brill Aerosole nachweisen, die von afrikanischen Savannenbränden stammen und Tausende Kilometer über den Atlantik bis in den Regenwald gelangen. In diesem Jahr stand der Turm über Wochen immer wieder in dichtem Rauch.
Nachts hätten sich dort die Rauchwolken zusammengeschoben, erzählt Brill. «Sie stammen nicht von kleinen Brandherden, sondern müssen koordinierte Brandrodungen im grossen Stil sein, nicht weit entfernt.» In einer Höhe von 150 Metern war die morgendliche Luftverschmutzung häufig das Dreifache dessen, was erforderlich wäre, um in Europa einen Feinstaubalarm auszulösen.
Brill zeigt auf seinem Handy Screenshots von den Brandherden: Östlich von Manaus ist die Karte mit orangeroten Punkten übersät. Um Amazonasstädte wie Santarém brennt der Wald lichterloh. Das ist neu. Denn bisher galt der Gliedstaat Amazonas, der dreimal so gross ist wie Frankreich, immer als einer der am wenigsten betroffenen Teile des Regenwaldes. 97 Prozent sollen noch unversehrt sein.
Quellen: Modis Firms (Brandherde), Hansen / UMD / Google / USGS / NASA (Waldflächen)
Die Brandrodungen der letzten Jahrzehnte fanden immer an den Rändern im Osten und Süden des Regenwaldes statt. «Das ändert sich gerade», sagt Brill. «Der Amazonasregenwald beginnt erstmals in seinem Zentrum zu brennen – und das ist dramatisch.»
Die Brände werden erst später in den Statistiken auftauchen
Allerdings hat die Regierung von Präsident Luiz Inácio Lula da Silva kürzlich stolz verkündet, dass die Entwaldung im Amazonasgebiet innerhalb eines Jahres um 22 Prozent zurückgegangen sei – wobei allein im Gliedstaat Amazonas ein Rückgang von 7 Prozent verzeichnet wurde.
Ein Widerspruch, der sich erklärt, weil das Nationale Institut für Weltraumforschung den Zeitraum zwischen August 2022 und 31. Juli 2023 mit dem Vorjahreszeitraum vergleicht. Die Waldflächen im Zentrum des Amazonasgebiets, die derzeit brennen, tauchen da noch gar nicht auf. Tatsächlich haben sich die Brandherde im Amazonas-Gliedstaat im Oktober im Vergleich zum Vorjahr verdreifacht. Es brennen so viele Waldflächen wie seit 25 Jahren nicht mehr. Das wird die künftigen Entwaldungsraten nach oben treiben.
Mitarbeit Daten und Karten: Julia Monn, Adina Renner
In Manaus lässt sich ausserdem beobachten, wie fatal die Kombination von unkontrollierten Brandherden und grosser Trockenheit für die Menschen ist.
Der Río Negro ist die wichtigste Lebensader von Manaus. Die einzige Strassenverbindung führt nach Norden, nach Venezuela. Von dort kommen viele Migranten, die in Hotels und Restaurants in Manaus nach Arbeit suchen. Der Río Negro ist trotz Trockenheit immer noch ein gewaltiger Fluss. Doch sein Pegel war seit 120 Jahren nicht mehr so niedrig wie heute.
Die bunten, pittoresken Amazonas-Schiffe legen nun nicht mehr am Quai an, wo normalerweise der Fluss ans Ufer stösst, sondern 300 Meter entfernt.
Täglich laufen Amazonas-Schiffe im Río Negro auf Grund.
Sandro Pereira / Imago
Über staubtrockenes Gelände voller Müll schleppen schwer atmende Hafenarbeiter Bierkästen, Zementsäcke, Baustahl und Weihnachtsbäume aus Plastik auf die Schiffe. Es herrschen über 40 Grad, die nachmittägliche Brise am glitzernden Fluss fühlt sich an, als käme sie aus einem Backofen.
Wagno Santos, der Chef der Hafenarbeiter-Gewerkschaft in Manaus, hat andere Probleme. Er verfolgt die Wasserstandsmeldungen wie andere Wetterprognosen. Vor drei Tagen sei der Fluss um siebzig Zentimeter gestiegen, dann aber wieder gesunken. Die Schiffe können nun nur noch halb beladen werden und maximal die Hälfte der Passagiere mitnehmen.
Sonst stecken sie weiter flussaufwärts in Richtung Kolumbien und Peru fest. Ständig prüft er auf seinem Handy, ob wieder ein Schiff aufgelaufen ist und sich verspätet. Dennoch hätten sie hier im Hafen beim Zentrum Glück, so Santos, denn die zwei Containerhäfen südlich der Stadt seien vollständig geschlossen.
Die Amazonas-Metropole hängt von der Freihandelszone ab
Das ist ein Problem für Manaus, das vor allem von der angeschlossenen Industrie- und Freihandelszone lebt. Seit fünfzig Jahren werden dort Motorräder, Klimaanlagen, Computer und Kühlschränke produziert. Die Komponenten dafür kommen über den Fluss in Containerschiffen aus China. In Manaus werden sie zusammengebaut und wieder per Schiff in die Konsumzentren Brasiliens transportiert.
Senatoren und Abgeordnete des Amazonasstaates werfen sich im fernen Brasilia ins Zeug, damit die Subventionen für das künstliche Industriegebiet inmitten des Regenwaldes weiter fliessen. Sie fordern Steuererleichterung und argumentieren, dass der Regenwald ohne die Freihandelszone schon längst zerstört wäre, weil er ohne die Stellen in der Industrie noch stärker abgebrannt würde.
Der bedrohte Regenwald ist heute ein starkes politisches Argument und bringt öffentliche Aufmerksamkeit. Neun brasilianische Gliedstaaten liegen in dem Gebiet. Ihre neun Gouverneure werden im Dezember zur Klimakonferenz nach Dubai reisen, um gemeinsam die Interessen des Amazonasgebietes zu vertreten.
Auch der Unternehmer Thyago Braga Alves redet ausführlich darüber, wie wichtig der Schutz des Regenwaldes sei. Er führt zusammen mit seinem Cousin das Familienunternehmen Flex Industries. Man erreicht es am Rande des Industrieparks, in der Nähe der zwei industriellen Flusshäfen. «Wir sind eine Art brasilianische Foxconn», sagt er und vergleicht sich mit dem Konzern aus Taiwan, der für Apple Handys baut.
Mit Maschinen aus China und Technologie aus Taiwan baut die Firma des 40-Jährigen in Manaus kleine Elektroartikel wie Fernbedienungen und Modems zusammen. Gerade hat er 600 seiner 2000 Mitarbeiter entlassen. Ein Drittel der Produktionsanlagen steht still. Es kommen kaum noch Teile aus China an.
Eine Jahrhundertdürre lässt die Flüsse im Amazonasgebiet austrocknen.
Andre Coelho / EPA
Nur der steigende Fluss kann das Weihnachtsgeschäft retten
Die wenigen Schiffe müssen im Fluss ankern. Im Hafen ist der Pegelstand zu niedrig. Deshalb werden die Container im Fluss umständlich auf Fähren umgeladen. 4000 Dollar kostete die Fracht für einen Container von Schanghai nach Manaus, nun verlangen die Spediteure und Hafenlogistiker laut Alves mehr als doppelt so viel.
In dem Lagerhaus hinter seiner Fabrik stehen die Regale bis an die Decke voll mit fertig verpackten Artikeln, die darauf warten, dass der Schiffsverkehr wieder funktioniert. «Das Weihnachtsgeschäft werden wir verpassen, wenn der Flusspegel nicht bald ansteigt», so fürchtet der Unternehmer.
Doch nicht nur die Ausfuhr, sondern auch die Einfuhr von Waren ist ein Problem. Der Mangel an Medikamenten und Lebensmitteln in der Stadt nehme zu, so gebe es beispielsweise keine Impfdosen für seinen kleinen Sohn. Einen Ausweg gäbe es, so glaubt der Unternehmer: «Eine Strasse nach Süden, diese würde die Probleme für immer lösen.»
Dann jedoch wäre die Regenwaldzerstörung gar nicht mehr zu kontrollieren, entgegnet Valcléia Solidade, Vizepräsidentin der privaten Stiftung für ein nachhaltiges Amazonien (FAS), die seit 16 Jahren Regenwaldprojekte für private Sponsoren und Staaten ausführt. Sie hat erlebt, was eine Strasse im Amazonasgebiet mit sich bringt. Die 54-Jährige ist in Santarém aufgewachsen, 740 Kilometer und 30 Stunden Flussfahrt östlich von Manaus.
Dort mündet eine der Fernstrassen aus dem Süden am Amazonas. Einen Industriehafen gibt es heute dort, wo die Farmer und Handelshäuser Sojabohnen nach Übersee verschiffen. «Früher war Santarém eine angenehme Stadt», sagt sie. Inzwischen sei es dort unerträglich heiss, weil es kaum noch Regenwald in der Umgebung gebe.
Sie würde bei Reden im In- und Ausland immer noch gefragt, ob sie an den Klimawandel glaube, sagt Solidade erstaunt. «Hier in Manaus zweifelt heute niemand mehr daran, dass wir gerade an einem Wendepunkt für das Klima und das Amazonasgebiet stehen.» Sie ist Pessimistin im Hinblick darauf, dass sich die Regenwaldzerstörung bald stoppen lässt. Es müsse wohl erst noch dramatisch schlechter werden, bis die Regierung wirklich durchgreife.
Die Versteppung im Amazonasgebiet schreitet weiter voran.
Raphael Alves / EPA
Mitarbeit Daten und Karten: Julia Monn, Adina Renner