Dies & Das: Der agile Mitarbeiter im digitalen Strudel

Managementtheorien wiederholen sich in regelmässigen
Zeitabständen. Derzeit gilt das agile Unternehmen als
erstrebenswerte Organisationsform. Wie gehen Mitarbeiter
mit den Umwälzungen um?


Ein Startup in Nairobi bietet online seine logistischen Dienste an. (Bild: Baz Ratner / Reuters)

Nicole Rütti
6.12.2018, 07:00 Uhr


Digitalisierte, agile Unternehmen pflügen ganze Branchen um – mit
eindrücklicher Geschwindigkeit. So besitzt das weltweit grösste
Taxiunternehmen, Uber, keine eigenen Taxis, der grösste Anbieter von
Unterkünften, Airbnb, hat keine eigenen Hotels, das führende
chinesische Handelsunternehmen Alibaba verfügt über keine Lager,
und das populärste Medienunternehmen, Facebook, generiert keine
eigenen Inhalte. Künstliche neuronale Netzwerke erledigen manche
Aufgaben bereits gleich gut oder gar besser als Menschen. Spekuliert
wird derweil darüber, wie hoch der Anteil der Mitarbeiter ausfallen
wird, die einst durch Computer und Roboter ersetzt werden.

Auch der Schweizer Arbeitsmarkt ist im Umbruch. Betrachtet man
diejenigen Branchen, in denen die Hauptprodukte schon in
immaterieller Form bereitgestellt werden – oder hergestellt werden
könnten – (Software, Verlagswesen, Unterhaltung,
Telekommunikation, Finanzwesen), so sind laut Avenir Suisse bereits
mehr als 30% der Beschäftigten in der Schweiz im digitalen Sektor
tätig.
Doch erleben wir derzeit tatsächlich einen einzigartigen disruptiven
Wandel? Nein, lautet das Urteil von Stefan Kühl, Professor für
Organisationssoziologie an der Universität Bielefeld. Zumindest was
moderne Organisationsformen betreffe, gebe es sich wiederholende
Muster, wie der Wissenschafter jüngst an einem Anlass der
Schweizerischen Gesellschaft für Organisation und Management
(SGO) ausführte.
Beim derzeit diskutierten Abbau von Hierarchien, bei der Auflösung
von Abteilungen und bei der Zurücknahme von Formalisierungen
handle es sich um reaktivierte ältere Managementideen. Alle zehn bis
fünfzehn Jahre wiederhole sich der Managementdiskurs in leicht
abgewandelter Form.


«Ich packe das anders an»

Tatsächlich findet sich die Forderung nach einer Enthierarchisierung
der Organisation bereits in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts
bei der Managementvordenkerin Mary Parker Follett. In der
Zwischenkriegszeit verfolgte der Daimler-Konzern erste Experimente
der Selbstorganisation in der Produktion. Es folgten der Human-
Relations-Ansatz, der Bedürfnisse, die psychologische Verfassung und
die Identität der Mitarbeiter stärker in das Managementkalkül
einbezieht, und in den 1970er Jahren die Diskussion um die
Humanisierung der Arbeitswelt.
In den 1980er Jahren kam die Lean-Management-Theorie auf, die das
Prinzip der schlanken Organisation hochhielt. Nach dem Hype rund
um die New Economy und Startups gelten nun das agile Unternehmen
und das Holacracy-Modell als die erstrebenswerte Organisationsform.
Traditionelle Managementhierarchien werden hierbei durch sich
selbst organisierende Teams ersetzt. Sogar öffentliche Betriebe wie das EWZ der Stadt Zürich setzen neu auf agiles Arbeiten. Doch laut Kühl gibt es keine Grossorganisation, die dieses Konzept in seiner Reinform lebt, also auf eine agile Organisation umgestellt hat, auf Hierarchien verzichtet und Abteilungen vollständig aufgelöst hat.
Es gebe höchstens Unternehmen, die eine Variante davon eingeführt
hätten – beispielsweise agile Beraterteams unterhalb der
Geschäftsleitung, Experimentierfelder in unwichtigen Stabsstellen
oder Parallelstrukturen zur existierenden Unternehmensstruktur.

Verantwortlich für die sich wiederholenden Führungs- und
Organisationstrends seien nicht zuletzt Manager, die sich gezwungen
sähen, durch begriffliche Innovationen zu zeigen, dass sie die Dinge
anders anpackten als ihre Vorgänger, so Kühl. Berater ihrerseits
befänden sich in Konkurrenz um die Meinungsführerschaft über
Organisationskonzepte und erfänden deswegen immer wieder neue
Modewörter für das Management.
Doch die Probleme, die durch diese Organisationsformen produziert
werden, sind im Urteil des Wissenschafters immer die gleichen: Sie
schaffen zusätzliche Komplexität und Verpolitisierung. Hierarchische
Unternehmen seien relativ konfliktarm. Jede Diskussion könne mit
dem Hinweis «Ich bin der Chef» beendet werden.
Im Gegenzug schaffe der Abbau von Führungsstrukturen
Machtkämpfe und eine «Kommunikationsexplosion». Die Auflösung
von Silos sei in der Regel mit Identitätsproblemen verknüpft und
Zuständigkeiten diffundierten, führt Kühl aus. Sein Fazit lautet, man
solle nicht allzu schnell glauben, dass man eine aussergewöhnliche
Phase des Wandels durchlebe.
Tatsächlich ist zu bezweifeln, dass eine Firma wie Amazon den Handel
«radikal abschafft», wie seit 20 Jahren immer wieder behauptet wird.
Ebenso ist nicht davon auszugehen, dass Internetkurse die
traditionelle Bildung ablösen werden, Airbnb die Hotelbranche zum
Verschwinden bringt oder Roboter die Pflegebranche auf den Kopf
stellen werden.

Dass der heutige Wandel aber gleichwohl aussergewöhnlich schnell
erfolgt, ist unbestritten. Wie Mike Baur, CEO der Swiss Startup Group,
ausführt, benötigte die Autobranche einst 62 Jahre, um die Zahl von 50
Mio. Automobilisten zu erreichen. Bei den Computern dauerte es 14
Jahre und beim Internet 7 Jahre, bis dieselbe Anzahl an Nutzern
erreicht wurde, beim chinesischen Chat-Dienst WeChat war es ein Jahr
und beim Videospiel «Pokémon» noch 19 Tage. Im digitalen Zeitalter
können Unternehmen dank Netzwerkeffekten, direkter
Kommunikation und der einfachen Verbreitung von digitalen
Produkten Millionen von Kunden anziehen.


Gestresste Mitarbeiter?


Und wie geht der Mensch mit den Umwälzungen am Arbeitsmarkt
um? Glaubt man Umfragen von Gesundheitsförderung Schweiz oder
der Gewerkschaft Travail Suisse und der Berner Fachhochschule
Schweiz, so ist das Stressniveau für die Arbeitnehmer jedenfalls nicht
vernachlässigbar. Rund 30% aller Erwerbstätigen in der Schweiz
empfinden den Arbeitsstress als «starke» oder «eher starke»
Belastung. Es wäre allerdings falsch, dies allein den sich laufend
ändernden Organisationsformen, der Digitalisierung, den
Restrukturierungen oder der zusehends geforderten Flexibilisierung
anzulasten.

Für Michael Weiss, Inhaber der Firma Analystra, ist die Hauptursache
eher eine andere. Der Stresspegel der Mitarbeiter hänge primär davon
ab, wie Unternehmen mit Veränderungen umgingen, wie sie diese
kommunizierten und anpackten, erklärt der Experte. Weiss, der
Firmen in Veränderungsprozessen berät sowie Mitarbeiter und
Führungskräfte coacht, beobachtet, dass die Angestellten bei der sich
häufenden Kadenz an Reorganisationen oftmals nicht mitkämen.
Diskussionen fänden auf hohem theoretischem Niveau statt. Begriffe
wie «agile Organisation» seien schwammig. Jeder verstehe darunter
etwas anderes, führt Weiss aus. Diese Problematik werde von der
Unternehmensleitung nicht immer erkannt. Der Erfolg einer
Reorganisation hänge jedoch stark davon ab, inwiefern es dem
Management gelinge, die Mitarbeiter von der Notwendigkeit von
Veränderungen zu überzeugen und sie bei der Integration solcher
Projekte an Bord zu holen. Doch der kommunikative Austausch und
das Coaching blieben oftmals auf der Strecke, erläutert der Prozess-
Spezialist.
Dies hänge damit zusammen, dass auf der Führungsebene zusehends
Angst verbreitet sei. Bei der Einführung von Lean Management und
flachen Hierarchien stellten sich Kaderkräfte jeweils die Frage: «Und
was passiert mit mir?» Gleichzeitig befürchteten sie, dass sie in neuen
Organisationsformen wie autonomen Teamstrukturen die Kontrolle
über ihre Mitarbeiter verlören.

Das Problem sei, dass viele Mitarbeiter und Führungskräfte mit dem
Tagesgeschäft ausgelastet seien. «Sind sie dann zusätzlich gefordert,
sich bei der Implementierung von neuen Organisationsformen und
Digitalisierungsprozessen aktiv einzubringen, leidet die Umsetzung»,
sagt Weiss.


Ältere reagieren gelassener


Oft wird angenommen, dass vor allem ältere Mitarbeiter mit
Veränderungsprozessen Mühe haben und bei der Digitalisierung auf
der Strecke bleiben. Der Coach, der für Firmen auch viele ältere
Personen bei der beruflichen Neuorientierung begleitet, widerspricht:
Zwar müssten ältere Arbeitskräfte im Vergleich mit den Digital Natives
bei der Anwendung moderner Kommunikationsmittel grössere
Defizite überwinden, erklärt Weiss.
Komplexere Arbeitsmittel, neue Kommunikationstechniken, moderne
Organisationsstrukturen oder schnell wechselnde Aufgabenbereiche
verlangten jedoch allen Mitarbeitern viel ab. In der Regel reagiere die
Generation 50 plus darauf sogar eher gelassener, im Sinne von: «Jetzt
gibt es halt eine weitere Restrukturierung.» Ältere Arbeitskräfte
hätten mehr Kraft, mit Druck umzugehen, und könnten ihn durch ihre
Erfahrungen abfedern, erzählt Weiss gestützt auf seine Coaching-
Erfahrungen.

Die Erhebung von Travail Suisse scheint diesen Befund zu bestätigen.
Ältere Arbeitnehmer (40- bis 65-Jährige) berichten eher über
vorteilhaftere Arbeitsbedingungen sowie positive Arbeitseinstellungen
und sind laut eigenen Angaben weniger emotional erschöpft. Dagegen
fühlen sich die 25- bis 39-Jährigen durch hohe berufliche und private
Belastungen besonders herausgefordert.
Dass kontinuierliche Weiterbildung im Berufsalltag des digitalen
Zeitalters als unerlässlich gilt, ist mittlerweile eine Binsenwahrheit.
Das Konzept des «lebenslangen Lernens» ist in der Personalführung
zum neuen Dogma erhoben worden. Doch gerade die ältere
Generation wird hierbei im Urteil von Weiss noch zu oft alleingelassen.
Dabei appelliert er aber auch an die Mitarbeiter, von sich aus aktiv zu
werden: «Nicht warten, bis Defizite auffallen, sondern sich rechtzeitig
um die notwendige Ausbildung bemühen», lautet sein Ratschlag.
Gleichzeitig ermuntert er auch ältere Erwerbstätige, neue Wege zu
gehen, wenn die Arbeitssituation nicht mehr stimme.

Das EWZ wird zur agilen Organisation

Zu den Unternehmen, die auf eine agile Organisation setzen, zählt das
Elektrizitätswerk der Stadt Zürich (EWZ). Begründet wird die Umgestaltung der Organisation mit der Liberalisierung der Strommärkte, gesellschaftlichem Wandel und neuen Technologien, die das EWZ unter permanenten Neuerungsdruck setzten. Der Stromproduzent und -versorger ist gefordert, seinen Kunden innovative Energie- und Kommunikationslösungen anzubieten und den Entwicklungszyklus marktreifer Produkte zu verkürzen.
«Beim agilen Modell arbeiten die Mitarbeiter in Projektteams zusammen, wobei althergebrachte Hierarchien aufgebrochen werden», erklärt Corinne Pellerin, Leiterin des Geschäftsbereichs Markt und Kunden. Die ihr unterstellten 120 Angestellten sind aufgefordert, Vorschläge für neue Produkte und Dienstleistungen oder zur
Optimierung interner Abläufe einzureichen. In einer Art Ideenwettbewerb muss der entsprechende Mitarbeiter das Leitungsteam von seinem zweiseitigen Vorschlag überzeugen. Gibt dieses grünes Licht, stehen insgesamt drei Monate für die Umsetzung des Vorhabens zur Verfügung. Es wird eine Gruppe zusammengestellt,
wobei der Mitarbeiter als Initiativleader die Leitung übernimmt und fachliche Kriterien über die Teamzusammensetzung entscheiden. Eines der erfolgreichen Produkte des EWZ, das von einem Mitarbeiter initiiert wurde, ist laut Angaben des Unternehmens das Angebot der Eigenverbrauchsgemeinschaft. Damit lasse sich der auf dem Dach eines Mehrfamilienhauses produzierte Solarstrom direkt und günstig
an die Mieter oder Wohnungseigentümer verkaufen. Die Entwicklung dieses Angebots sei komplex gewesen und habe die enge Zusammenarbeit fast aller Geschäftsbereiche erfordert, führt Pellerin aus.

Nicht alle Projekte würden derzeit in agilen Teams ausgeführt. Aber das Gedankengut der Agilität und die Change-Kultur hätten sich innerhalb ihres Geschäftsbereichs ausgebreitet. «Wir machen heute nicht mehr eine starre Jahresplanung, sondern analysieren alle drei Monate, wo wir stehen», sagt die Managerin. Laut Pellerin erhält das Führungsteam mindestens 50 Vorschläge pro Quartal. Derzeit seien 26 bis 28 Projekte am Laufen.
Der These, dass agile Organisationen anarchische Züge hätten und sich im Unternehmen eine Art Freestyle ausbreite, widerspricht die Managerin. Im Gegenteil: In agilen Organisationen brauche es vielmehr klare Rahmenbedingungen, wie eine vierteljährliche Überprüfung, die zeitliche Begrenzung der Projekte, konkrete
Zielvorgaben und Verbindlichkeit. Man müsse die Mitarbeiter bei diesem Prozess begleiten. Der Vorgesetzte mutiert dabei zum Coach.
Auch die Komplexität sei durch die vor einem Jahr eingeführte neue Organisationsform nicht gestiegen. Die Zahl der Projekte hat sich laut
Pellerin sogar verringert. Dank der agilen Organisation habe man jedoch mehr Projekte schneller zu Ende geführt. Zentral sei hierbei eine konsequente Priorisierung und Verzichtsplanung. «Man muss klar definieren, was machen wir und was machen wir nicht», erklärt die Managerin. Die personelle Besetzung nehme man ernst und stelle dafür Ressourcen frei. Ein zentraler Vorteil der agilen Organisation sei, dass Mitarbeiter dadurch an Visibilität gewonnen hätten, sich weiterentwickeln könnten und vermehrt aufeinander zugingen.
Gleichzeitig räumt Pellerin ein, dass es sich um einen laufenden Prozess handelt, der Zeit benötigt und ein kontinuierliches Schrauben am Modell erfordert. Eine agile Organisation könne man nicht befehlen, ist Pellerin überzeugt. Es brauche Überzeugungskraft und viel Kommunikation. Die Führungskräfte müssten sich daran gewöhnen, dass sich ihre Rolle allgemein verändere. Die Themen seien heute so komplex, dass man sie oftmals nicht mehr innerhalb von hierarchischen Strukturen lösen könne. (nrü.)

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