Dies & Das: Ostalpengletscher durch Erderwärmung laut Forscher bereits „verspielt“ – Klimawandel II

MENSCHGEMACHT

Im Südtiroler Schnalstal hat die Gletscherschmelze einst Ötzi freigelegt. Die übrige Eismasse dürfte in den kommenden Jahrzehnten verschwinden

REPORTAGE Nora Laufer 

28. Juli 2019 – 349 Postings

Die Eismasse des Hintereisferners ist bereits stark zurückgegangen. Heute wird jede Veränderung in der Forschungsstation auf dem Berg dokumentiert.
Foto: Laufer

Einige Hundert Meter vor der Gipfelmessstation wird der Gesichtsausdruck von Georg Kaser entspannt, seine Mundwinkel bewegen sich nach oben, die Schritte werden schneller. Hier, zwischen dem Hintereisferner und dem Hochjochferner, beobachtet der Glaziologe zusammen mit Kollegen der Universität Innsbruck die Veränderung der Gletscher. Ein Messturm auf 3250 Meter Seehöhe schickt im Halbstundentakt Informationen in die Tiroler Hauptstadt. Quasi in Echtzeit können die Forscher nicht nur Temperatur, Niederschlag und Windströmungen analysieren; ein wichtiger Bestandteil der Forschung ist die Webcam, die den Rückgang des Eises dokumentiert. Und der ist unverkennbar.

Zwar legt sich die Gletscherzunge nach wie vor majestätisch in die Schlucht, früher war sie aber um einiges größer, erzählt der Wissenschafter. Kaser hebt seine Kappe vom Kopf und deutet damit auf die Felswände rechts und links von der Eismasse. Dort, wo jetzt dunkelgraues Geröll auszumachen ist, war vor wenigen Jahrzehnten noch alles mit Eis bedeckt. „Der Hintereisferner ist heute fünf Kilometer lang“, sagt der 66-Jährige, „in meiner Studentenzeit war er noch mehr als sieben Kilometer lang.“

Der Mitautor zweier Weltklimaberichte kann das Phänomen beschreiben, wie kaum ein anderer. Allein zwischen 1973 und 1986 hat der Südtiroler mehr als 400 Tage in einem Forschungsbiwak am Rande des Hintereisferners verbracht. Die moderne Ausstattung, mit der der Rückgang heute zentimetergenau gemessen wird, gab es damals nicht. Der weiße Container, der eher an das Versteck eines James-Bond-Bösewichts als an ein Forschungszentrum erinnert, steht erst seit wenigen Jahren auf dem Berg. Der Hintereisferner zählt zu den am längsten und bestuntersuchten Gletschern der Welt. Kaser will hier Messungen und Modelle verfeinern und die Erkenntnisse dann wieder global anwenden.

400 Tage verbrachte der Glaziologe Georg Kaser zwischen 1973 und 1986 in einem Forschungsbiwak am Hintereisferner.
Foto: Laufer

Der Wissenschafter hat nicht nur den Gletscher zwischen Österreich und Italien erforscht, für viele Jahre war er auf sogenannten tropischen Gletschern unterwegs – etwa in Peru oder Ostafrika. Und dennoch ist er zurück an den Ort gekommen, an dem er einst vor der Entscheidung stand: Profikarriere im Bergsport oder Wissenschaft? Kaser entschied sich für die Forschung und erkundet seither die Änderungen des Eises.

„Dramatische Veränderung“

Als der Universitätsprofessor von seinen Forschungsreisen zurück in die Ötztaler Alpen kam, hatte sich der Berg bereits stark verändert: „Ich stand vor einer Landschaft, die ich nicht wiedererkannte“, erzählt der Uni-Dekan. „Da hat die Eisdicke stellenweise 50 Meter abgenommen.“ Gerade bei kleineren Gletschern verschwindet das Eis zunehmend schnell, da erhitzte Felsen und dünne Schuttschichten den Prozess beschleunigen. „Der Gletscher bricht langsam auseinander, die unteren Teile vergammeln und die oberen ziehen sich zurück“, sagt der Glaziologe. „Das sind schon sehr, sehr dramatische Veränderungen.“

Weltweit gibt es rund 200.000 Gletscher, durch die Erderwärmung nimmt ihre Masse zunehmend ab. Während global 30 Prozent der Gletschermasse natürlich abschmilzt, ist für 70 Prozent der Mensch verantwortlich. „In den Alpen ist die Gletscherschmelze seit 20 oder 30 Jahren zu hundert Prozent menschgemacht.“

„Das sind schon sehr, sehr dramatische Veränderungen“, sagt Georg Kaser zur Gletscherschmelze.
Foto: Laufer

Die Ostalpengletscher sind laut Kaser bereits verspielt: „Das haben wir in der Vergangenheit verursacht.“ Die wesentlich größeren Folgen und Probleme davon würden langfristig global auftreten. „Ein Drittel des Anstiegs des Meeresspiegels ist auf die weltweite Gletscherschmelze zurückzuführen“, sagt der Wissenschafter. Das entspricht 1,1 Millimeter pro Jahr. Der Rückgang führt in einigen Regionen außerdem zu Problemen bei der Wasserversorgung und zu Felsstürzen. Nicht zuletzt verändere sich auch die Landschaft.

Eismasse schwindet rasant

In der Schutzhütte Schöne Aussicht, die eine Dreiviertelstunde Fußmarsch von der Messstation talabwärts liegt, ist die Veränderung an die Wände genagelt. Gerahmte Fotografien zeigen den Rückgang der Eisdecke. Während der Hochjochferner in den 1970er-Jahren noch bis an den Rand der Hütte reichte, liegt die Eismasse mittlerweile in weiter Entfernung.

Diese Fotos zieren die Wände der Schutzhütte Schöne Aussicht, die von Paul Grüner betrieben wird. Während der Hochjochferner vor wenigen Jahrzehnten noch knapp bis vor die Hütte reichte, liegt die Eismasse mittlerweile in weiter Entfernung. Die Fotos wurden jeweils zur gleichen Jahreszeit aufgenommen.
Foto: Laufer

In der Gaststube sitzt Philipp Kofler und dreht sich Nudeln auf eine Gabel. Warten, bis er mit dem Essen fertig ist, will er nicht. Der technische Leiter der Gletscherbahn ist es gewohnt zu essen und gleichzeitig zu reden, wie er sagt. Auch der 46-Jährige kennt den Berg gut. In seinen Zwanzigern hat Kofler direkt an der Gletscherseilbahn gearbeitet und mehrere Winter in Lifthütten verbracht. Heute ist er mehr oder weniger das technische Gehirn des Skibetriebs. Kofler kümmert sich um Präparierung, Stromversorgung, Beschneiung und um den Schutz des Gletschers, den skitechnisch genützten Teil des Hochjochferners.

Seit Jahren wird im Winter Schnee angehäuft, damit der Gletscher im Sommer zugedeckt werden kann. Außerdem bringen die Skigebietbetreiber bis zu 3,5 Hektar Vlies aus, um den Gletscher vor der Sonneneinstrahlung zu schützen. Seitdem Kofler bei den Bergbahnen begonnen hat, sei der Aufwand jedenfalls „viel, viel größer“ geworden. Dennoch schätzt der Schnalser den Job auf dem Berg: „An einem Gletscher zu arbeiten ist schon etwas Besonderes.“

Sommerbetrieb eingestellt

An seinen ersten Besuch kann sich der Südtiroler gut erinnern. Wer im Schnalstal Ski fährt, gehört erst nach einer Fahrt am Gletscher zu den Großen. Zwar hatte sich der damals Achtjährige den Berg wilder vorgestellt – voller gefährlicher Gletscherspalten -, enttäuscht war er aber nicht. „Das ist ganz etwas anderes hier oben. Der Ausblick, der kalte Wind. Und dann gehört man dazu.“

Seit damals hat sich viel verändert. „Was mich am meisten erschreckt hat, ist die Eismächtigkeit, die zurückgegangen ist“, sagt Kofler, der von Oktober bis Anfang Mai jeden zweiten Tag auf Skiern steht. Vor einigen Jahren wurde der Sommerbetrieb der Gletscherbahnen eingestellt. Der Hype sei vorbei, und auch die Schneelage war nicht mehr ausreichend, meint der Techniker. Seit rund sechs Jahren wird der Gletscher außerdem künstlich beschneit, um ihn wieder aufzubauen. „Der war wirklich schlecht beinander.“ Seitdem der Sommerbetrieb eingestellt wurde, habe sich der Gletscher wieder ein wenig erholt. Früher wurden täglich zehn Zentimeter präpariert, die am Nachmittag wieder abgefahren waren. „Und das über die gesamte Saison“, sagt Kofler.

Gletscherbahnen-Mitarbeiter Philipp Kofler mag seine Arbeit. Er steht jeden zweiten Tag auf Skiern.
Foto: Laufer

„Gletscher ist eine Emotion“

Ein weiterer Schnalser, der liebend gerne am Gletscher arbeitet, ist Paul Grüner, Eigentümer der Schönen Aussicht. Im tiefen Tirolerisch schäkert der Hüttenwirt mit den Gästen, beantwortet nebenbei Fragen seiner Mitarbeiter oder beschwichtigt Kunden am Telefon, das alle paar Minuten läutet. Der große Mann mit Lachfalten duckt sich leicht, um durch die Hüttentür durchzupassen. Mit Anfang zwanzig hat er begonnen, auf der Hütte zu arbeiten, beginnt Grüner zu erzählen, „ohne technische und praktische Erfahrung“. Der Sohn einer Wirtsfamilie musste schnell lernen: „Hier oben ist man viel auf sich selbst gestellt.“ Die Zeit auf dem Berg hat er von Anfang an geschätzt: „Ich bin hier so richtig aufgeblüht. Der Gletscher ist für mich eine Emotion.“

In all den Jahren hat der 55-Jährige den Rückgang der Gletscher beobachten können. „In den 1990er-Jahren hat man das noch nicht so thematisiert“, sagt Grüner. „Uns ist einfach aufgefallen, dass es immer weniger Eis wird.“ Mittlerweile sei den Talbewohnern der Zusammenhang zwischen der Schmelze und dem Klimawandel bewusst. Die meisten Menschen würden aber erst dann, wenn es anfängt wehzutun, auf CO2-intensive Annehmlichkeiten verzichten, glaubt der Wirt. „Sonst arrangiert man sich halt ein wenig.“

„Hier oben ist man viel auf sich selbst gestellt“, sagt Hüttenwirt Paul Grüner.
Foto: Laufer

Grüner betreibt nicht nur die Schöne Aussicht, sondern auch ein Hotel im rund 18 Kilometer entfernten Karthaus. Vorbei an Skiliften, dem Gletscherstausee und dem Wallfahrtsort Unsere Frau, hier liegt das 300-Seelen-Dorf. Auf dem Weg durch das Schnalstal grüßen Grüner und Kaser Passanten. „Wie tuat’s?“, fragt man hier, wenn man sich nach dem Befinden einer der anderen 1200 Talbewohner erkundigt.

Schäden nehmen zu

So auch Richard Oberhofer, der in einem der zwei Dorfgasthäuser zwischen kartenspielenden Pensionisten ein Soda trinkt. Oberhofer hat gerade Mittagspause, am Nachmittag wird der Leiter des Straßendiensts und der Lawinenkommission wieder Schäden reparieren, die in der Gemeinde entstanden sind. In den vergangenen Jahren haben sich diese gehäuft, heuer gab es bereits sechs Zivilschutzalarme: „Es wird immer extremer“, erzählt der Karthauser. „Der Permafrost ist zurückgegangen und hat viel Material freigesetzt.“ Dadurch werden Felsstürze und schwere Murenabgänge gravierender. Extremere Witterungsereignisse würden das Problem weiter verstärken. Um sich an die Veränderung anzupassen, wurden allein im Schnalstal in den vergangenen 30 Jahren rund 240 Schutzverbauungen errichtet.

Und doch ist es ruhig im Tal, in dem man sich eigentlich einen viel größeren Ansturm erwarten würde. Denn der Gletscher ist nur eine der Attraktionen. Anfang der 1990er-Jahre wurde nur drei Kilometer von der Schutzhütte entfernt der Körper von „Ötzi“ entdeckt. Damals war die menschgemachte Gletscherschmelze zwar noch nicht so weit fortgeschritten, ohne sie wäre der Körper der Mumie aber vermutlich nicht zum Vorschein gekommen, meint Kaser. Das Tal und der Berg dienten außerdem mehrfach als Filmkulissen. Ein Bauernhof war der Drehort für Andreas Prochaskas Das finstere Tal, der Gletscher diente als Himalaja-Ersatz für den Hollywood-Blockbuster Everest.

Richard Oberhofer leitet die Lawinenkommission im Schnalstal. Er beobachtet, dass die Schäden in den vergangenen Jahren zugenommen haben.
Foto: Laufer

Wichtiger Wirtschaftsfaktor im Tal

All das hat im Tal nicht viel verändert. Zuzug gibt es abseits der Arbeitskräfte im Tourismus kaum, die Schnalser kennen einander. Zwar reichen wenige Tage im Ort, um von den kleinen Rivalitäten zwischen den Dörfern zu hören, nichtsdestotrotz verbindet sie alle der Berg. Während Touristiker den Namen Schnalstaler Gletscher eingeführt haben, sprechen die Einheimischen lediglich von „dem Gletscher“. Der Gesichtsausdruck der Talbewohner erhellt sich dabei fast immer.

Immerhin haben „der Gletscher“ und das Skigebiet, das 1975 eröffnet wurde, für zahlreiche Arbeitsplätze in der Gemeinde gesorgt. Ohne diese Jobs wären viele weggezogen, sagt Bergbahnmitarbeiter Kofler: „In den 1990er-Jahren ist jeder nach der Ausbildung zu den Gletscherbahnen gegangen.“ Zwar hat die Einstellung des Sommerbetriebs dazu geführt, dass einige Stellen gekürzt wurden, dennoch sei der Berg ein wichtiger Wirtschaftsfaktor im Tal. Bei den Bergbahnen hofft man, dass die steigenden Temperaturen im Alpenraum zumindest zeitweise für mehr Wintergäste am kühlen Gletscher sorgen werden – solange er eben noch besteht.

Knapp hinter dem Gipfelkreuz auf 3250 Meter Seehöhe befindet sich die Forschungsstation von Kaser und seinen Kollegen.
Foto: Laufer

Trotz der Aussicht, dass der Gletscher bald nicht mehr sein wird, sind die Schnalser nicht pessimistisch. Durch die Schmelze würden die Bewohner wahrnehmen, dass man den Berg schützen muss, meint der Wissenschafter Kaser. „Der Gletscher hat einen Symbolcharakter für die Veränderungen in der Umwelt.“ Der Forscher hat zuletzt Hoffnung geschöpft: In den vergangenen Monaten sei so viel und ernsthaft über den Klimawandel gesprochen worden, wie es in den vergangenen 40 Jahren nicht geschah. Und auch Bergbahnen-Mitarbeiter Kofler versucht mit seiner Arbeit das Eis zu erhalten und das Bewusstsein für die Veränderungen in der Bevölkerung zu stärken: „Damit nach uns auch noch jemand einen Gletscher sieht.“ (Nora Laufer, 27.7.2019)

Mehr zum Thema:

Dachstein-Gletscher sind am Verschwinden

Meeresspiegel steigt in der Arktis um 2,2 Millimeter pro Jahr

Webcam-Aufnahmen am Hintereisferner

Leserbriefe