Dies & Das: Der selbstkritische Blick auf Geschichte

OLIVER RATHKOLB

Der selbstkritische Blick auf Geschichte

Die differenzierte Auseinandersetzung mit dem Beginn des Aggressionskriegs Deutschlands gegen Polen ist ein Teil von Demokratiearbeit in Europa.

KOMMENTAR DER ANDEREN Oliver Rathkolb 

1. September 2019

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Am 1. September 1939 begann der Zweite Weltkrieg. Im Gastkommentar erläutert Historiker Oliver Rathkolb, warum die Erinnerung an und die Auseinandersetzung mit Jahrestagen historischer Ereignisse wichtige Elemente der Demokratie und gesellschaftlicher politischer Bildung sind.

Immer wieder dokumentieren Meinungsumfragen, dass viele Menschen nichts mehr mit dem Zweiten Weltkrieg als wichtigem Erinnerungsort Europas anfangen können: Immer mehr ist von „Schlussstrich“ und „genug mit dieser Geschichte“ die Rede, und manche beginnen wieder einem Geschichtsrevisionismus das Wort zu reden und die Verantwortung vieler Deutscher (und Österreicher) für den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust zu relativieren.

Gleichzeitig steigen Tendenzen der national orientierten Geschichtserinnerung wie in Polen, wo das wohl bedeutendste moderne Museum zur Geschichte des Zweiten Weltkriegs (Muzeum II Wojny Swiatowej) in Gdansk um rund 100 Millionen Euro errichtet wurde – mit 4000 Fotos, 240 Multimediastationen, 430 Minuten Film. Auf 5000 Quadratmeter Ausstellungsfläche sollen die gesamte europäische Perspektive und vor allem die Folgen für die Zivilbevölkerung nicht nur in Polen, sondern in ganz Europa anschaulich gezeigt werden. Nach einer heftigen juristischen und politischen Auseinandersetzung wurde der Gründungsdirektor Pawel Machcewicz entlassen, nachdem zuvor dieses mit dem künftigen Museum der Westerplatte (Muzeum Westerplatte i Wojny 1939), das dem militärischen polnischen Widerstand 1939 gewidmet ist, zwangsvereinigt wurde.

Will sich die EU als Friedensunion sehen, so muss sie weiterhin diesen selbstkritischen Blick auf die Geschichte des 20. Jahrhunderts thematisieren.
Illustration: Felix Grütsch

Trend zur Renationalisierung

Der Historiker Machcewicz zeigte den Grund für diese massive geschichtspolitische Intervention durch die konservative Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) auf: „Wir verstehen die polnische Geschichte als einen Teil der europäischen. Für die PiS ist das eine Bedrohung. Das Heldentum und Leid der Polen kämen darin nicht vor.“

Dieser Trend – gerade unter rechtskonservativen Parteien in Europa -, sich der Geschichte zu bemächtigen, die europäische Perspektive und Auseinandersetzung zu meiden und eine Renationalisierung der jeweiligen Helden- und Opfergeschichten vorzunehmen, ist in den letzten Jahren wieder im Steigen begriffen.

Selbst in der Bundesrepublik Deutschland, geprägt von Jahrzehnten selbstkritischer Geschichtspolitik, forciert die AfD unverhohlen „völkische Fantasien“, und der AfD-Parteivorsitzende Alexander Gauland verharmlost öffentlich den Nationalsozialismus und den Holocaust 2018, reduziert Hitler und die Nationalsozialisten zum „Vogelschiss“ in 1000 Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte. Inzwischen wird selbst im Bundestag offen seitens der AfD gegen Holocaustgedenken polemisiert.

Wunsch nach „starkem Mann“

Hinter diesem deutlich stärker werdenden Geschichtsrevisionismus in Europa steckt aber wesentlich mehr als historisches Unwissen und parteipolitische Instrumentalisierungsstrategien. Bereits 2007 haben wir in einem Forschungsteam mit Günther Ogris vom Sora-Institut im Rahmen von Meinungsumfragen in Österreich, Polen, Tschechien und Ungarn eindeutig nachgewiesen, dass antidemokratische bis autoritäre Einstellungen mit geschichtsrevisionistischen Vorstellungen korrelieren. Auf den Punkt gebracht bedeutet dies: Wer die Geschichte des Nationalsozialismus, des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust auf nationalistische Erinnerungen und/oder verharmlosende Geschichtsmythen reduziert, weist gleichzeitig ein höheres antidemokratisches Potenzial auf. Antworten auf Detailfragen nach antisemitischen, rassistischen oder fremdenfeindlichen Einstellungsmustern, aber auch politischer Apathie und Orientierungslosigkeit tragen in sich eine ebenso starke Tendenz, die Geschichte des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust zu verharmlosen und gleichzeitig nach antidemokratischen, autoritären künftigen politischen Regimen zu suchen.

Dieses Phänomen findet sich ebenso in der Kerngruppe jener, die etwa im Februar/März 2017 in einer Umfrage in Österreich durchaus einem „starken Mann“ an der Spitze des Landes das Wort reden (32 Prozent Zustimmung!), und 23 Prozent votierten sogar für einen starken Führer, „der sich nicht um Parlament und Wahlen kümmern muss“. Zwar scheint dieser wirklich alarmierende Prozentsatz 2018 nach Umfragen der Forscherin Sylvia Kritzinger auf 16 Prozent gesunken zu sein, aber nach wie vor repräsentieren diese Aussagen ein Sprengpotenzial für eine liberale Demokratie.

Gefahr für die Demokratie

Auch auf europäischer Ebene zeigt es sich, dass die kritische und offene Auseinandersetzung mit der extrem dunklen Geschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und der beiden Weltkriege und des Holocaust, aber auch mit der Geschichte des stalinistischen Terrors und kommunistischen Totalitarismus eine Grundvoraussetzung für eine gelebte und funktionierende Demokratie darstellt. Kein Wunder, dass vor allem die polnische und ungarische Regierung mit unglaublicher Aggression die Dauerausstellung des Hauses der Europäischen Geschichte in Brüssel im Europäischen Parlament attackiert haben, da dort auf rund 4000 Quadratmeter Ausstellungsfläche keine nationalistischen Geschichtsfilter greifen, sondern eine internationale und offene sowie kritische Geschichte der Diktaturen in Europa im 20. Jahrhundert präsentiert wird.

Will sich die EU als Friedensunion sehen, so muss sie weiterhin diesen selbstkritischen Blick auf die Geschichte des 20. Jahrhunderts thematisieren und in den gesellschaftlichen Debatten intensiv pflegen. Daher sind Jahrestage historischer Ereignisse wie der Beginn des Aggressionskriegs des nationalsozialistischen Deutschen Reichs gegen Polen ein wichtiges Element gesellschaftlicher politischer Bildung, dem zunehmend die Medien mehr nachkommen als die Politiker und Politikerinnen, die immer öfter nichts mehr mit Zeitgeschichte wirklich anfangen können – außer sie passt in die aktuelle politische Inszenierung. (Oliver Rathkolb, 1.9.2019)

Oliver Rathkolb ist Vorstand des Instituts für Zeitgeschichte der Universität Wien und Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats des Hauses der Europäischen Geschichte in Brüssel.

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