Dies & Das: Vor uns die wilden Jahre

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WALTER OSZTOVICS

KOMMENTAR DER ANDEREN Walter Osztovics 

9. Jänner 2020

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Vor uns die wilden Jahre

Ist uns eigentlich bewusst, wie gründlich Klimawandel und Digitalisierung das tägliche Leben verändern werden? Ein Blick auf das anbrechende neue Zeitalter

Wir müssen die Art, wie wir leben, wie wir produzieren und konsumieren gründlich umkrempeln. Erst recht die Art, wie wir Politik machen und wie wir unsere Gesellschaft gestalten. Im Gastkommentar gibt Walter Osztovics, Berater bei Kovar & Partners, Einblick in die diesjährige „Arena-Analyse“.

Eine dystopische Strandszene dieser Tage am Lake Jindabyne in Australien. Die stärksten Brände in der Geschichte des Landes färben den Himmel orange.
Foto: APA / AFP/ Saeed Kha

Einer der Ersten, die sich in literarischer Form mit dem Thema Klimawandel befassten, war der US-Autor T. C. Boyle. In seinem 2000 erschienenen Roman Ein Freund der Erde beschreibt er eine heiß gewordene Welt, in der es kaum noch Bäume gibt. Die meisten Tierarten – auch Rinder – sind ausgestorben. Reis wächst dagegen fast überall, das zweite Grundnahrungsmittel sind mutierte Fische, die im Schlamm leben. Die Menschen verlassen ihre klimatisierten Häuser kaum noch, hauptsächlich kommunizieren sie über Bildtelefone, die sie wie Armbanduhren am Handgelenk tragen. Die Lebenserwartung ist weiter gestiegen, die Weltbevölkerung entsprechend angewachsen.

Boyles dystopische Zukunftsvision spielt im Jahr 2025. Offenbar hat sich die Welt seit 2000 doch nicht ganz so schnell auf die Apokalypse zubewegt, was wohl mit ein Grund war, dass wir seit Jahrzehnten über die Erderwärmung reden, aber noch kaum auf sie reagiert haben. Bis jetzt. Denn auf einmal gibt es die Fridays for Future, einen Green Deal der EU und eine deutsche Autoindustrie, die versucht, ihren Kunden Elektromobile zu verkaufen. Der Green Deal gilt zwar als noch nicht ambitioniert genug, trotzdem: Wenn er umgesetzt wird, werden die meisten Bürgerinnen und Bürger der EU schon in wenigen Jahren ihren Alltag und ihre Umwelt nicht mehr wiedererkennen.

Das System kippt

Das ist jedenfalls einer der zentralen Befunde der „Arena Analyse 2020“. Diese Studie, die auf Expertenbefragungen beruht, wird seit 2006 jedes Jahr durchgeführt. Ziel ist es, zukünftige Trends aufzuspüren und ihre Hintergründe auszuleuchten.

Was dabei für das anbrechende Jahrzehnt ins Auge fällt: Zwei seit langem vertraute Entwicklungen sind so weit eskaliert, dass das System kippt und Reaktionen erzwingt. Die Politik, aber auch jeder und jede Einzelne, muss reagieren, ob sie wollen oder nicht. Die alten Bekannten, die diese Zeitenwende einläuten, heißen Klimawandel und Digitalisierung.

Autos raus aus den Städten

Denn das Ziel der EU lautet immerhin, die Treibhausgasemissionen bis 2030 auf 40 Prozent gegenüber dem Stand von 1990 zu verringern. Das geht nur mit tiefgreifenden Veränderungen unserer Lebensweise. Zum Beispiel muss dringend der Individualverkehr CO2-frei gemacht werden. Aus den urbanen Gebieten werden daher die Autos nach und nach verschwinden, spätestens wenn die Emissionsrankings die Stadtväter nervös machen und die Anrainer in immer mehr Wohnvierteln Begegnungszonen fordern. Die Straßenränder, wo derzeit noch Fahrzeuge parken, werden für das Anpflanzen von Bäumen gebraucht, um die Hitze im Sommer zu mildern.

Ohnehin wird es bequemer sein, anstelle eines eigenen Autos eine der vielen Fahrgemeinschaften zu nutzen, die sich über Onlineplattformen organisieren und die nur ein Beispiel dafür darstellen, wie Mobilitätsbedürfnisse künftig völlig anders als heute befriedigt werden können.

Reformen im Agrarsektor

Klimasünder Nummer drei, nach Industrie und Verkehr, ist die Landwirtschaft. Zwei Drittel der dort produzierten Treibhausgase entstehen bei der Viehzucht – durch Mist, Gülle und die viel belächelten Verdauungsprodukte der Wiederkäuermägen. Noch weiß niemand, wie diese gewaltigen Mengen (zumindest) halbiert werden sollen: Emissionshandel für Massenzuchtbetriebe? Hermetisch verschlossene Ställe mit Methanabsaugung und -endlagerung? Stilllegungsprämien für Rinderherden? Mit Sicherheit können wir jedenfalls davon ausgehen, dass sich auch im traditionell reformresistenten Agrarsektor vieles gründlich ändern wird, und sei es durch den sanften Druck von klimabewusst einkaufenden Verbraucherinnen und Verbrauchern.

Noch weit gnadenloser werden diese Konsumentinnen und Konsumenten mit dem zweiten großen Game-Changer der Zwanzigerjahre verfahren, der Digitalisierung – besser gesagt, der Datenwirtschaft. Eine Veränderung, die bereits fast zur Gänze eingetreten ist, besteht im Totalverlust der Privatsphäre. Es gibt schon jetzt kaum noch eine Lebensäußerung, die nicht irgendwo registriert und gespeichert wird, vom Telefonanruf bis zum Einkauf an der Selbstbedienungskasse.

Monopole zähmen

Bisher standen wir alle vor der Wahl: Entweder man akzeptiert achselzuckend, dass das gesamte eigene Leben von anonymen Algorithmen ausgewertet und analysiert werden darf. Oder man bringt sich um die Annehmlichkeiten des technischen Fortschritts. Doch es gibt Anzeichen, dass die Datenwirtschaft künftig auf größere Widerstände stoßen wird: Die Digitalisierung, so sagen es Expertinnen und Experten vorher, tritt in die Opt-in-Ära ein, in der zwar weiterhin Daten gesammelt und genutzt werden, aber die eigentlichen Eigentümerinnen und Eigentümer dieses Rohstoffs – die User – stets die Kontrolle und die Letztentscheidung behalten.

Wie das gehen soll? Nur Mut: Im Sommer 2018 brach der Aktienkurs von Facebook um fast 20 Prozent ein. Erstens hatten nach dem Skandal um Cambridge Analytica eine Million Nutzerinnen und Nutzer entsetzt die Plattform verlassen. Und zweitens war die europäische Datenschutzverordnung in Kraft getreten. Auch globale Monopole lassen sich also zähmen, wenn die Konsumentinnen und Konsumenten ihre Macht nutzen und zugleich eine entschlossene Gesetzgebung für faire Spielregeln sorgt, wofür es wiederum Wählerinnen und Wähler braucht, die solche Entschlossenheit honorieren.

Regeln für faire Märkte

Genau das ist eine dritte große Veränderung, die es rechtfertigt, das Heraufdämmern eines neuen Zeitalters zu konstatieren: Die Zeiten der ungeregelten Märkte, vor allem im vermeintlichen Niemandsland des Internets, sind vorbei. Der Ruf nach klaren, Fairness schaffenden Regeln wird unüberhörbar. Natürlich kann die Zähmung der Datenwirtschaft letztlich nur durch internationale Regulierung gelingen, doch zeigen Beispiele wie der soeben in Kraft getretene California Consumer Privacy Act, wie schnell mutige Gesetzgebung weite Kreise ziehen kann, selbst wenn nur ein einzelner US-Bundesstaat vorprescht.

Auch beim Klimawandel belegen Umfragen eine große Bereitschaft, das eigene Verhalten zu ändern. Doch braucht es die Unterstützung durch rechtliche oder auch steuerliche Vorgaben. Schließlich stehen wir vor einer Zeitenwende. Und da will man schließlich wissen, ob – wie man so sagt – die Richtung stimmt. (9.1.2020)

Walter Osztovics ist Berater bei Kovar & Partners. Die „Arena-Analyse 2020: Wir wissen, was wir tun“ ist eine qualitative Studie zur Früherkennung gesellschaftlicher Entwicklungen, die auf Beiträgen und Tiefeninterviews von rund 50 Expertinnen und Experten beruht. Sie wird von dem Wiener Beratungsunternehmen in Zusammenarbeit mit „Zeit“ und STANDARD durchgeführt und im Februar 2020 präsentiert.

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