Dies & Das: Lesezirkel – vom Internet zum Lesen gezwungen

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Amira Ben Saoud 

16. Februar 2020

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Lesezirkel: Vom Internet zum Lesen gezwungen

Alle zwei Wochen ein neues Buch fertiglesen? Geht! Wie digitale Buchclubs dabei helfen, wieder mehr zu lesen. Eine Übersicht der besten virtuellen Lesezirkel

Ein Buchklub, der sich sonst nie trifft. Magdalena Hiller (in Pink) und ihre „Gruppendruckleser“ in der Buchhandlung Anna Jeller. Foto: Heribert Corn www.corn.at

Ein Blick in mein Excel-Sheet, und ich weiß, dass ich seit 29. Juli 2019 5575 Seiten gelesen habe. 19 Bücher waren es insgesamt, das Geschlechterverhältnis der Autoren ist bis jetzt ziemlich ausgeglichen. Die meisten, nämlich fünf, kommen aus den USA. Sechs der Bücher waren Sachbücher, dreizehn belletristischer Natur.

Ich könnte aus dieser Tabelle, die den Namen #Gruppendrucklesenträgt und auf die neben mir auch 20 weitere Leute Zugriff haben, noch allerhand Facts herauslesen – über meine Lesegewohnheiten und auch die der anderen.

Jeder der Teilnehmer hat nämlich seinen eigenen Excel-Reiter, wo er die von ihm gelesenen Bücher mit Zusatzinfos und Kurzrezension einträgt. 26 Bücher im Jahr soll man schaffen, was „fertig lesen“ meint. Aussuchen kann man sich die Lektüre selbst.

Ich schaue kurz bei den anderen rein, um mich zu vergewissern, dass ich eh noch gut im Rennen bin. Bin ich, puh, ziemlich gleich auf mit Anna (liest gern Feministisches, gesteht Houellebecq aber doch Sprachwitz zu) und Bernd (interessiert sich für Sammelbände über Mediengeschichte, aber auch Rilke). Beide kenne ich persönlich nicht wirklich gut. Wir sind nämlich vor allem ein digitaler Leseklub, der sich nicht realiter zum Diskurs trifft.

Die Gruppendruckleser wurden gebeten, ihr Lieblingsbuch aus der Lesechallenge mitzubringen. Foto: Heribert Corn

Mehr lesen

Dass es uns in dieser Form gibt, haben wir dem Internet zu verdanken – und einer gemeinsamen Freundin, Magdalena Hiller, die im Sommer 2019 beim New Yorker Onlinemagazin Man Repeller auf einen Text mit dem Titel „My little trick for reading more books“ gestoßen ist.

Nicht gefeit vor der Anziehung von „Klick mich!“-Headlines, wollte es Magdalena wissen: Wie ist es Edith Young, der Autorin des Artikels, in einer Zeit voller digitaler Ablenkung gelungen, wieder mehr zu lesen? Auf der Suche nach einem System für ihr Vorhaben stieß Young auf den Hashtag #52BooksIn52Weeks, der auf Instagram immerhin 50.000 Ergebnisse ausspuckt.

Diesen nutzen Menschen, um die Welt darüber zu informieren, was sie lesen, wie sie es finden und ob sie es empfehlen würden – genauso wie sie Fotos ihrer Workouts, Urlaube und ihres Essens auf der Plattform teilen. Immer nach der Devise: „Pic or it didn’t happen“: Wenn es kein Bild davon gibt, ist es nicht passiert.

Gemeinschaftsgefühl

Doch jede Woche ein Buch zu lesen war Young dann doch zu steil. Die Hälfte, also 26 im Jahr, müssten für den Anfang reichen. Die Autorin wollte ihr Leseunterfangen nicht allein bestreiten, also gründete sie den digitalen Buchclub via Excel-Sheet. Es funktionierte – für Young, ihre Freunde und nun auch für uns, die wir es in leicht adaptierter Form nutzen.

Der Erfolg dieser Methode lässt sich leicht erklären. Einerseits wurde die Sache als „Challenge“ gestaltet, kein Teilnehmer von #Gruppendrucklesen will sein Gesicht vor den Mitlesern verlieren. Dazu kommt trotz digitaler Abwicklung ein Gemeinschaftsgefühl, man stöbert gerne in den Listen der anderen herum, lässt sich fürs nächste Buch inspirieren.

Es ist ein wenig wie das Amazon-Empfehlungsprinzip im Kleinen – vor allem weil wir doch eine recht homogene Gruppe mit ähnlichen Interessen und Geschmäckern sind, genau die Menschen, die man sich vorstellt, wenn von Millennials die Rede ist. Kein Wunder, dass jene Bücher, die mehrere von uns lesen, irgendwo zwischen Feuilleton-Empfehlung und Netz-Hype, zwischen Saša Stanišic und Sally Rooney liegen.

Michaela Pichler hält „Herkunft“ von Saša Stanišic in den Händen. Foto: Heribert Corn

Zwischen zwei Polen

Unser Klub liegt genau zwischen zwei Polen. Auf der einen Seite stehen die klassischen Lesezirkel, bei denen sich nach alter Salontradition Gleichgesinnte an einem Ort versammeln, um über ein Buch zu diskutieren, das alle gelesen haben.

Auf der anderen Seite florieren anonyme Online-Leseplattformen, -Websites und -Apps zum Katalogisieren von Büchern, die aber via Kommentar oder Rezensionsfunktion Austausch ermöglichen. Dass diese Online-Leseplattformen ohne Web nicht möglich wären, ist logisch. Aber auch der klassische Lesezirkel profitiert von den Potenzialen des Internets.

So verwendet zum Beispiel die österreichische Germanistin und Digitalisierungsberaterin Sabine Melnicki für die Organisation ihres Lesekreises Buchclub V die Website meetup.com, auf der Gruppen für Gleichgesinnte organisiert werden können. Beim Buchclub V werden ausschließlich Sachbücher über Themen der digitalen Transformation gelesen, einmal im Monat trifft man sich in einem Kaffeehaus und diskutiert.

Melnicki geht es nicht um Quantität des Gelesenen, sondern um die verschiedenen Sichtweisen der Diskutanten und das Schärfen der eigenen Argumente. Um ein möglichst diverses Publikum anzusprechen, entschied sie sich für die Organisation via Meetup. Sechs bis zehn Menschen finden sich pro Termin ein, ein harter Kern bleibt gleich, andere kommen je nach Thema dazu.

Geänderte Aufmerksamkeitsspannen

Hat die Digitalisierung das Lesen verändert? Melnicki überlegt. „Ich kann mir vorstellen, dass Microblogging oder Instagram, wo die Textlängen sehr kurz sind, Aufmerksamkeitsspannen verändern. Grundsätzlich denke ich, dass das Lesen an sich immer etwas Analoges ist, wir haben durch das Internet aber nun Mittel, die uns die Kommunikation erleichtern.“

Ob Doodle, Meetup oder Whatsapp-Gruppe zur Organisation: Das Internet erleichtert nicht nur die Kommunikation, die sozialen Medien attraktivieren das Lesen wieder. So teilten Millennial-Flüsterer Mark Zuckerberg und Ex-Präsident Barack Obama ihre Lektüre öffentlichkeitswirksam mit ihren Followern.

Doch es sind in erster Linie weibliche Hollywood-Stars und Influencerinnen, die Online-Lesegruppen betreiben, denn beim Kaufen und Lesen haben die Frauen statistisch gesehen die Nase vorn. Ihre Empfehlungen können sich stark auf Buchverkäufe auswirken.

Astrid Exner war von „Because Internet“ begeistert – wie passend! Foto: Heribert Corn

Leseempfehlung von Emma Watson

Einer der bekanntesten virtuellen Buchclubs, Our Shared Shelf, ist etwa jener der Schauspielerin und Aktivistin Emma Watson, die ihre Bekanntheit ihrer Rolle als Bücherwurm Hermione Granger in der Verfilmung der Harry-Potter-Bücher verdankt.

2016 gründete sie ihren feministischen Lesezirkel auf der Plattform goodreads.com. Und auch wenn sich Watson erst kürzlich als Moderatorin der Gruppe zurückgezogen hat, zählt die Gruppe nach wie vor mehr als 200.000 Mitglieder. Goodreads, eine jener Online-Leseplattformen mit Social-Media-Charakter, gehört seit 2013, wie könnte es anders sein, Amazon. 90 Millionen User sind heute dort registriert und füttern den Versandhändler brav mit ihren Daten.

Neben goodreads oder dem deutschen Äquivalent lovelybooks, das der Holtzbrinck Publishing Group gehört, existieren zahlreiche andere Plattformen im Netz, die dasselbe anbieten: eine Buchgruppe, die ihren Usern digital hilft, etwas Analoges zu tun; allein, aber doch zusammen.

Die neue Form der Buchrezension

„Social Reading“ nennt man den Austausch der Leserschaft, der dezidiert im Internet stattfindet. Und der führt zu einer Neubetrachtung von Werken und Autoren, zu einer demokratisierten Form der Buchrezension. So ist die größte demografische Gruppe, die auf goodreads aktiv ist, weiblich, unter 35 Jahre alt – und sie findet oft ganz andere Titel lesenswert als jene, die oft von männlichen Literaturjournalisten im fortgeschrittenen Alter rezensiert werden.

Auch wenn die Plattformen und deren User oft im Verdacht stehen, leicht verdaulicher Unterhaltungsliteratur mit appetitlichen Buchcovern den Vorzug vor den Klassikern zu geben, lässt sich ganz wertfrei beobachten, dass sich in diesen Gruppen andere, parallele Literaturkanons bilden, die durchaus Einfluss auf den Buchmarkt haben.

So ist derzeit das Lesen von Autorinnen, kategorisiert unter dem Hashtag #Frauenlesen, schwer beliebt. Die auch von der arrivierten Kritik anerkannte Margaret Atwood wurde mit The Testaments von den goodreads-Lesern bei deren „Awards“ in der Kategorie Best Fiction 2019 gewählt. Dass seit 2017 auf der Frankfurter Buchmesse auch die besten Buchblogger ausgezeichnet werden, zeigt, dass die Branche die rezensierenden Amateure auf dem Schirm hat.

Dass Online-Plattformen nicht dazu dienen, Stilanalysen vorzunehmen oder Autor und Werk zu verorten – und damit ist nicht gemeint, die Bücher nach Farben geordnet in ein Billy-Regal zu stellen –, ist offensichtlich.

Sie vermögen es aber, das Lesen zu demokratisieren, Kanons zumindest zu hinterfragen oder den eigenen Geschmack zu kultivieren. Die Ironie an den Internet-Lesegruppen besteht darin, dass sie Menschen wie mir dabei helfen, weniger im Internet zu sein. Und stattdessen mehr zu lesen. (Amira Ben Saoud, 16.2.2020)

weitere Links..

Falls Sie Ihr eigenes #Gruppendrucklesen starten wollen: Artikel von Edith Young inklusive Excel-Spreadsheet

Buchclub V

Die Seite von Digitalisierungsberaterin Sabine Melnicki

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