Dies & Das: Flüchtlingskrise: Was werden wir den Kindern sagen?

Kommentar der anderen Heinz Fischer,12. März 2020

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Flüchtlingskrise: Was werden wir den Kindern sagen?

Auch in Zeiten des Coronavirus muss man die Frage stellen, wie viel Not und Elend von Geflüchteten sichtbar werden muss, damit wir uns auf europäische Werte besinnen

Im Gastkommentar spricht sich der frühere Bundespräsident Heinz Fischer dafür aus, Kinder und unbegleitete Jugendliche aufzunehmen, und zwar „ohne früher aufgenommene Flüchtlinge gegen eine solche Minimalgeste des guten Willens gegenzurechnen“.

Eine Syrerin in einem provisorischen Zelt aus Plastik – die Lage der Flüchtlinge an der EU-Außengrenze ist prekär. Foto: AFP / Bulent Kilic

Was sich jetzt – im März 2020 – an der Außengrenze der Europäischen Union, in sogenannten Flüchtlingslagern auf griechischen Inseln abspielt – und nicht nur dort –, ist der Stoff, aus dem in einiger Zeit dramatische Literatur, erschütternde Filme oder Fernsehsendungen gemacht werden und wo die nächste Generation ihre Eltern fragen wird, wieso sie vielfach weggeschaut haben und nichts oder nur sehr wenig zur Rettung von Resten der Menschenwürde an den Außengrenzen der EU und in sogenannten Flüchtlingslagern getan haben.

Der Satz, dass Österreich nicht „alle Flüchtlinge aufnehmen“ kann, ist längst kein Argument mehr, denn das verlangt ja niemand, und darum geht es auch nicht.

Jetzt – im März 2020 – geht es ganz konkret darum, ob nicht auch Österreich wenigstens 150 oder 200 unter entsetzlichen Umständen „lebende“ Kinder und unbegleitete Jugendliche aufnehmen kann, wenn Deutschland 1500 Kinder und unbegleitete Jugendliche aufzunehmen bereit ist, ohne früher aufgenommene Flüchtlinge gegen eine solche Minimalgeste des guten Willens gegenzurechnen.

Und der Satz, dass ein Erbarmen mit 100 oder 200 bedauernswerten und in menschenunwürdigen Verhältnissen lebenden jungen Menschen – jawohl Menschen! – nicht zumutbar ist, weil ansonsten ein „Pull-Effekt“ entstünde, hat hier wirklich keinen Platz.

Genug „hässliche Bilder“

Oder wie weit will man denn die durch Zahlen nicht gestützte „Abschreckungspraxis“ noch treiben? Haben wir nicht schon genug „hässliche Bilder“, ohne dass die Ankündigungen von „wirksamer Hilfe“ an Ort und Stelle in substanziellem Umfang wahrgemacht wurden? Wir kennen ja die Fakten und Zahlen über „Hilfe vor Ort“.

Die oft leichtfertig ins Spiel gebrachte These, wonach aber der Zweck die Mittel heiligt – und die schon sehr viel Unglück angerichtet hat –, beziehungsweise die etwas vornehmere Unterscheidung zwischen Gesinnungsethik und Verantwortungsethik haben ganz sicher ihre Berechtigung und ihre moralische Rechtfertigung verloren, wenn es darum geht, ein kleines Kontingent von Kindern und jungen Menschen aus diesem Inferno zu befreien.

Was hat da der Begriff Verantwortungsethik zu suchen?

Angenommen, ein Arzt würde erklären, dass für einige Hundert Kinder und junge Menschen auf einer der griechischen Inseln Lebensgefahr entsteht, wenn sie nicht schleunigst auf das europäische Festland gebracht werden und die notwendige medizinische Versorgung erhalten – würde man dann auch die erforderlichen Maßnahmen verweigern, um einen angeblichen „Pull-Effekt“ zu vermeiden? Die Antwort kann doch nur ein eindeutiges Nein sein.

Glaubwürdigkeit auf dem Spiel

Dann darf und muss man aber auch die Frage stellen, wie viel Not und Elend und Leid und Gefährdungen und zerstörte Menschenwürde denn noch sichtbar werden müssen, damit wir uns auf unsere vielbeschworenen europäischen Werte besinnen und auf jene hören, die nicht tatenlos zusehen, sondern notwendige und sinnvolle Schritte in einem vertretbaren Ausmaß setzen wollen. Denn der Unterschied zwischen akuter Lebensgefahr und den Gefahren und Gefährdungen, denen Kinder und Jugendliche in diesen Lagern bereits ausgesetzt sind, ist schon sehr klein geworden.

Was werden wir unseren Kindern und Enkelkindern antworten, wenn wir eines Tages gefragt werden, warum wir damals im März 2020 so lange zugeschaut haben – wissend, wie es zwei Flugstunden von Wien entfernt zugeht? Und werden wir in Fragen der Menschenwürde noch ein Gesprächspartner mit intakter Glaubwürdigkeit und Autorität sein können, wenn wir weggeschaut haben, als es um die Menschenwürde im Frühjahr 2020 in griechischen Lagern gegangen ist?

Ich kenne die Gegenfrage: Haben wir nicht in Zeiten des Coronavirus andere Sorgen als das Schicksal von Flüchtlingen an den Grenzen Europas? Im Gegenteil: Es darf doch nicht sein, dass das Thema Coronavirus die Hoffnungslosigkeit dieser Menschen noch vergrößert, weil sie schlicht und einfach aus unserem Gedächtnis verdrängt werden.

Einen herzlichen Dank daher an alle, die dennoch zu helfen versuchen und damit der Menschenwürde dienen. Und die innige Hoffnung, dass die Zahl der „hässlichen Bilder“ nicht ungebremst weiterwachsen muss, um Nachdenklichkeit, Humanität und Vernunft zu stärken. (Heinz Fischer, 12.3.2020)

Heinz Fischer war SPÖ-Politiker und von 2004 bis 2016 Bundespräsident der Republik Österreich.

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