Dies & Das: Welt ohne Menschen – ein Foto-Tableau von Michele Limina

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Angela Schader / Gilles Steinmann 15.07.2019

Welt ohne Menschen – ein Foto-Tableau von Michele Limina

Vielleicht ist es der stille Traum jedes Reisenden: Einmal den Anblick einer Sehenswürdigkeit unverstellt, ungestört und ganz allein geniessen. Michele Limina erfüllt uns diesen Wunsch – mit einer zugleich ironischen und ästhetisch bestechenden fotografischen Meditation.

Das Paradox des Touristen, wir kennen es alle: Man fährt irgendwohin, möchte erleben, schauen – und ärgert sich im Stillen über Leute, die dasselbe wollen, die man dann aber doch nicht ganz für seinesgleichen hält. Sie treten einem auf die Zehen, stolpern einem rückwärts in die Kamera, weil sie gerade selber am Fotografieren sind, verstellen im Museum den Blick aufs Lieblingsbild und ziehen schnatternd durch geweihte Räume. Dass diese anderen einen umgekehrt zum Kuckuck wünschen, weil man jetzt schon zehn Minuten dort verharrt, wo sie eigentlich sein möchten – das registriert man in der Regel nicht. Auch der Zürcher Fotograf Michele Limina ist seit vier Jahren Tourist aus Leidenschaft; aber diese gilt nur mittelbar den Trophäen des Sightseeings. Was Limina in seinem gedanklich und ästhetisch gleichermassen überzeugenden Projekt «Imagine a World Without People» ausleuchtet, ist vielmehr das zuvor skizzierte Paradox, für das er eine verblüffende Bildsprache konzipiert hat. Der Fotograf sucht die Orte auf, wo alle hingehen, und hält sie in Langzeitbelichtungen fest. Die Passanten werden dabei zu flüchtigen Schemen, während das wechselnde Licht oder die am Himmel ziehenden Wolken der Aufnahme Akzente und Dynamiken einschreiben, die das menschliche Auge so nicht wahrnehmen kann. Und für einmal erscheinen die Objekte, zu denen wir pilgern, ganz wie wir es uns wünschen: unverstellt, klar und einzigartig.

Dieses vor der Klagemauer in Jerusalem aufgenommene Bild verkörpert in einem gewissen Sinn auch Geist und Seele von Michele Liminas Fotoprojekt. Obwohl die Fotografie die Menschen nur verwischt und hinter einer Art Grauschleier erscheinen lässt, sind bei genauem Hinsehen einzelne Personen deutlicher auszumachen: der Sitzende links von der Mitte etwa, oder stehende Männer, bei denen die Farbe der Kleidung kenntlich ist. Mehr als andere, vor allem als Tourismusdestinationen relevante Orte, an denen Limina fotografiert hat, gebietet die Klagemauer Ruhe, langes Verweilen, Konzentration – und das hält die Besucher gleichsam im Bild. Zugleich sind diese Qualitäten essenziell für die Arbeit des Fotografen. Weit gesteckt ist nicht nur der Jahre übergreifende zeitliche Rahmen der noch laufenden Recherche; auch das Entstehen eines einzigen Bildes nimmt bis zu zwei Stunden in Anspruch – und selten, schreibt Limina, glücke es auf Anhieb: «Meistens braucht’s zwei bis drei Anläufe, bis es dann passt!» Manchmal bedeutet das sogar mehrere Reisen an den betreffenden Ort, da das Gelingen des Bildes auch von Umständen abhängt, die nicht in der Hand des Fotografen liegen. «Man muss sehr viel Geduld mitbringen, mit Rückschlägen umgehen können und nicht aufgeben», schreibt Limina – und tröstet sich: «Es entschleunigt wahnsinnig und ist meiner Meinung nach genauso effizient wie Meditation.»

Zwischen Bedrückung und Befreiung verortet Michele Limina die Wirkung seiner Fotografien, und wenn man dieses Bild von der Piazza del Duomo in Mailand betrachtet, werden genau diese Empfindungen wach. Die in reiner Schönheit strahlende Domfassade hebt, um es altmodisch zu sagen, das Herz; zugleich scheint sich ringsum Dunkel um den Sakralbau zusammenzuziehen, die im Vordergrund huschenden, blassen Schatten könnten ängstliche Seelen sein, die sich ins Gotteshaus retten wollen. Was die Phantasie so in Bewegung setzt, ist – seitens des Fotografen – eine stupende Fähigkeit, Lichtverhältnisse und -effekte von langer Hand vorauszukalkulieren. «Man muss sich sehr genau überlegen, welchen Standort man auswählt, und darf auch nicht vergessen, dass die Sonne wandert und das Licht sich laufend ändert», notiert Limina. «Das Bild ist meistens erst fertig, nachdem das richtige Licht vorbei ist, und oft werden dann auch Fehler in der Bildkomposition sichtbar.» Ein «Denken in Superzeitlupe» sei für diese Arbeit vonnöten: eine Disziplin, die der immer schneller getakteten Welt widersteht und die wohl auch in anderen Kontexten den Blick auf das Verbindliche und Wichtige schärfen könnte.

Die im Foto-Tableau dieser Woche vorgestellten Bilder sind alle unter vergleichbaren Umständen aufgenommen worden. Im Zentrum steht das ikonische Bauwerk, davor liegt ein eigentlich stark frequentierter Platz, der jedoch mehr oder weniger leergefegt wirkt – doch das ist nur Schein. Allerdings tilgt die Langzeitbelichtung die Passanten in unterschiedlichem Mass aus der Aufnahme: In einigen Bildern sind ihre Konturen, wenn auch durchscheinend oder verschwommen, noch auszumachen, in anderen lösen sie sich in blassen Nebel auf, und hier, im Innenhof des Louvre, scheint keine Menschenseele unterwegs zu sein. Woher diese Differenzen? «Das hängt mit der Belichtungszeit zusammen», erklärt Michele Limina. «Man kann sagen, je länger die Belichtungszeit, umso weniger Silhouetten. Je mehr und schneller sich auf dem Platz etwas bewegt, desto weniger Störfaktoren. Auch die Sonneneinstrahlung und das Wetter spielen eine massgebende Rolle.» Während die Aufnahme entsteht, kann der Fotograf genau das in den Blick nehmen, was sein Bild uns vorenthält: die vorbeiziehenden Menschen. «Man wird zwangsläufig zum Beobachter der verschiedenen Szenerien, welche zeitweise grotesk, komisch anmuten. Der Mensch als Biomasse, vergleichbar mit einer Herde Gnus in der Kalahari.»

Das Zustandekommen von Michele Liminas Bildern mag sich auf technischer Ebene erklären lassen – auch wenn es für Laien schon hier komplex wird. Etwa wenn der Fotograf erklärt, dass die Erwärmung der Kamera während des Aufnahmeprozesses ein «Bildrauschen» erzeuge, das dann in einem nachträglichen, Dunkelbild-Subtraktion genannten Prozess wieder herausgefiltert werde. Auch andere für den Betrachter unsichtbare Schwierigkeiten kommen ins Spiel, etwa in Italien, wo das Aufstellen von Stativen auf öffentlichen Plätzen bewilligungspflichtig ist und für jedes einzelne mit Stativ gemachte Bild eine Gebühr entrichtet werden muss. Um diesem Prozedere zu entgehen, hat Limina die Seufzerbrücke mithilfe eines niedrigen, ohne gesetzliche Auflage verwendbaren Tischstativs in den Fokus genommen – ein Vorgehen, das er rasch schätzen gelernt hat und mittlerweile regelmässig einsetzt. Der Zürcher Fotograf ist freundlich und grosszügig, wenn es ums Erklären seiner Arbeitsweise geht, und er kann es sich leisten. Denn einerseits ist es noch ein weiter Weg vom technischen Detail bis hin zur perfekten Aufnahme; und anderseits ist das Konzept, das hinter den Bildern steht, sein ganz eigener, zwischen Philosophie und Magie oszillierender Geniestreich. Die dicht vor der Kamera über den Ponte della Paglia strömenden Touristen werden durch das Aufnahmeverfahren quasi unsichtbar: Realität wird im Gleichen abgebildet und aufgelöst.