Dies & Das: Streiflichter vom 1.4.2020 – der Kontrast

Social Distancing – so viel man will: Achtzehn Jahre Einsamkeit im Nordwesten Irlands

Wie schön wäre es jetzt, weg von allem zu sein! Das dachte sich die Autorin schon vor Jahren. Aber was macht man denn so in einem Cottage im einsamsten Teil Irlands?

Donegal gilt als Armenhaus Irlands.

Das Strohdach sieht aus wie ein räudiges Fell, die Haus­wand ist vermodert und das verrostete Türschloss kaum aufzukriegen. Innen riecht es nach Schimmel und nassem Russ. Bei jedem Schritt quietscht das Wasser unter dem Linoleum, aus den abgenutzten Stellen quillt eine braune Brühe. Die Tapete hängt in Fetzen; auf dem Kaminsims, dem einzigen trockenen Ort im ganzen Cottage, liegt eine vergilbte Papstfoto.

Eine Bruchbude. Ist aber egal. Denn sie steht mitten im Paradies. Ringsum, so weit das Auge reicht, nichts als Himmel und Meer, Weiden und Schafe. An der Küste donnern die Brecher ans Ufer und rasen weiss sprühend den Klippen entlang. Gleich unter dem Haus stürzen die Wasserberge krachend übereinander und schiessen wieder die Felswände empor. Und weit draussen über dem Atlantik jagen Wolkenberge wie Fabelwesen über den Horizont. Süchtig atme ich die Luft, die noch niemand eingeatmet hat.

Nichts in Donegal ist lieblich. Hier flanieren keine Touristen durch putzige Dörfchen wie im Süden Irlands. Es gibt auch keine Palmen und uralten Bäume, die sich wie Baldachine über die Strassen beugen. Hier, im nördlichsten Westen der Insel, umstehen mannshohe Brennnesseln die Ruinen. Wenn der Wind durch ihre Blätter fährt, leuchten sie blaugrün auf. Die Moorbäche sind schwarz, die Hügel kahl, und die gälischen In­schriften auf den gusseisernen Wegweisern hat der Rost längst weggefressen. Unmöglich, mich in meinem Versteck aufzuspüren. Hartnäckige werden spätestens auf dem letzten Wegstück kapitulieren, wenn ihr Auto in immer neue Schlaglöcher kracht und die Achse beim Schleifen über die Steine Funken sprüht.

Im Cottage gibt es keinen Handy-Empfang. Diese Unerreichbarkeit hat mir ganz besonders gut gefallen. In der Telefonkabine im Dorf ist die Hörerschnur aus der Wand gerissen; die Kabine im nächsten Ort hat keine Scheiben mehr.

Bis zum nächsten Dorf sind es zehn Kilometer, mit dem Fahrrad schaffe ich es in zwanzig Minuten. Im Pub erklärt mir der Baumeister Joe, was er alles machen wolle. Wir stehen in der Zugluft, im kalten Zigarettenrauch und abgestandenen Biergeruch. Im Kamin liegt Abfall. Joe lehnt an der Theke und zeichnet seine Pläne auf einen Bierdeckel: Im Winter reisst er das Strohdach herunter, aus dem Ziegenstall macht er die Küche. Und ein Betonfundament braucht’s auch. Alle alten Cottages, sagt er, sind so gebaut, dass das Regenwasser unter dem Haus durchlaufen kann. Im nächsten Mai, wenn ich wiederkomme, ist alles fertig.

Im nächsten Mai empfangen mich Tauben im Wohnzimmer. Sie nisten im Kamin, der immer noch so breit und hoch ist, dass ich aufrecht darin stehen kann. Dass der Ziegenstall einst zur Küche werden soll, erkennt man nur an der Teetasse, die ein Handwerker hat stehen lassen. Der Sturm hat die Sperr­holzplatten vor den Fenstern weggerissen. Die Heckenröschen an der alten Steinmauer haben die Schafe zu schwarzen Gerippen gefressen.

Die Suche nach Joe gestaltet sich schwierig. Im Cottage gibt es keinen Handyempfang. Diese Unerreichbarkeit hat mir ganz besonders gut gefallen. In der Telefonkabine im Dorf ist die Hörerschnur aus der Wand gerissen; die Kabine im nächsten Ort hat keine Scheiben mehr. Die Frau wiederholt, dass ihr Sohn auf der Baustelle sei und erst spät nach Hause komme. Aber er werde so bald wie möglich zurückrufen. Nach der Telefonnummer fragt sie nicht. Ich hab ja auch keine.

Natürlich wissen Einheimische längst, dass ihr Dachdecker, Maurer oder Maler nur gelegentlich auftaucht. Immer kommt ihnen etwas dazwischen. Bald ist es eine Taufe, bald eine Kommunion, Hochzeit oder Beerdigung im engsten Familienkreis. Das sind im kinderreichen Irland oft ein paar hundert Personen. In meinem Fall verschärft sich das Problem. Joe besitzt das einzige Leichenauto weit und breit.

Zeit bedeutet nichts in Irland. Genau. Deswegen bin ich ja gekommen. ­Keine Agenda mehr, keine An­sprüche erfüllen und wie ein Uhrwerk funktionieren. Schluss mit dem Schweizer Denken.

Schliesslich legt ein Schotte das Cottage mit Flag­stones, irischen Steinplatten, aus. «Time means nothing in this country», sagt er. Zeit bedeutet nichts in Irland. Genau. Deswegen bin ich ja gekommen. Zeitsouverän werden. Keine Agenda mehr, keine Ansprüche erfüllen und wie ein Uhrwerk funktionieren. Schluss mit dem Schweizer Denken. Warten, wie die Afrikaner und Asiaten warten, und sich ­derweil ge­lassen mit anderen Dingen beschäftigen.

Und irgendwann, vielleicht vor dem Einschlafen, erinnert sich Joe wieder an mich und nimmt sich vor, bald zu kommen. Dann vergisst er es wieder oder muss Dringenderes erledigen, bis er schliesslich ohnehin in der Gegend zu tun hat. So geschieht es denn auch. Eben habe ich mich mit meiner Ruine abgefunden, da steht er vor der Tür und grinst: «Bei gutem Wetter ist’s echt schön hier draussen.» Dann zeigt er mir seine neuen Turnschuhe. «New Balance», erklärt er.

Zum Zeichen, dass er es nun ernst meint, hinterlässt er einen Schraubenzieher. Ich sehe zu, wie er mit seinen abgefahrenen Reifen im Zickzack über die nasse Weide zur Strasse hochfährt. Das wird sein schwerer Handwerker-Truck niemals schaffen. Um die unangenehme Vorstellung zu verdrängen, schau ich rasch, ob das Meer noch da ist.

Eben gibt es eine Sondervorstellung. Die Sonnenscheibe purzelt aus einer schwarzen Wolkenwand, verzieht sich zum Oval und versinkt rot glühend im Wasser. In der Ferne tuckert friedlich ein Traktor, der Landwind weht den Heugeruch heran, und der mischt sich mit dem Duft meiner Hecken­röschen. Und wie jeden Abend erscheint das Häschen unter der Mauer. Es ist noch so klein, dass es in meine Hand passt, und mampft ohne Scheu. Nur wenn ich mich bewege, erstarrt es, beobachtet mich und spielt mit den Ohren. Dies ist mein Platz, hier ist das Paradies, und wenn ich mir wünschen könnte, wo ich jetzt sein möchte, dann weiss ich: nur hier.

Zeitungen und Fernsehen vermisse ich nicht. Es ist zu viel los bei mir. Alle paar Minuten lässt die Distelstaude eine Hauchflocke wegfliegen; sie driftet in der Luft herum, kommt zurück und steigt wieder auf. Und warum haben heute die Margeriten ihre Blätter aufgestülpt wie vom Wind umgedrehte Regenschirme? Dann wieder nutzen die Rotkehlchen eine kurze Regenpause, um mir ihre beiden Jungen zu präsentieren: flotte Kerlchen, Federbäuschchen, die sich im Wind tapfer auf den Zweigen halten. Oder eine Hummel versucht hartnäckig, in ein wippendes Heckenröschen zu gelangen, und surrt dabei wie ein Zahnarztbohrer. Als ich mich über die Blüte beuge, steigt sie auf, und ich spüre den Wind ihrer Flügel auf meiner Wange. Keine Berührung kann zärtlicher sein als diese Nichtberührung.

Eigentlich, so hatte ich gehofft, würden mir in so viel splendid isolation die Worte und Bilder nur so zufliegen. Selbst nachts sah ich mich am Computer sitzen und bei Kerzenschein das Meisterwerk in die ­Tasten hauen. Stattdessen ist da nichts als Leere. Dafür lerne ich den im Pub liegen gelassenen drei Tage alten «Guardian» schier auswendig. Den Dorfladen durchwühl ich vergeblich nach einer «Irish Times». Es gibt nur Fischer-, Farmer- und Motorsport-Blätter sowie Magazine für Brautmode. Im Radio schaffen es zwei Stationen bis zu mir ans Ende der Welt.

Der Lokalsen­der beginnt jeden Morgen mit den Verkehrsunfällen, Morden, Vergewaltigungen und Überfällen der vergangenen Nacht. Einmal kostet ein Unfall acht jungen Männern das Leben. Bei der Beerdigung legen ihre Freunde Autofotos auf die Särge. «Es war das Liebste, was sie besassen», sagen sie dem Reporter. Im Klassik-Sender kenne ich die Reihenfolge der Stücke längst auswendig: Mozart, Bruchs Violinkonzert, ein Wiener­walzer, was mit Pavarotti, der Gefangenenchor, das Stück von Boccherini, Beethovens Fünfte, «Ave Maria», dann alles wieder von vorn. Bis vor ein paar Jahren das Programm einen Wechsel erfuhr. Von nun an kommen ausschliesslich moderne irische Kompo­nisten zum Zug. Das klingt wie eine Mischung von Nationalhymne und purem Krach.

Zum Trost singe ich den Schafen «La haut sur la montagne . . .» vor. Sofort heben sie ihre Köpfe. Dann merken sie, dass sie das Lied schon kennen, und fressen weiter.

Nach ein paar Wochen sind meine Hände vom Feuermachen rot und rau, die Füsse scheinen gewachsen. Die Fremde im Spiegel, das bin ich. Das Haar ist ganz hell und struppig. Mehr über mein Gesicht brauch ich nicht zu wissen. Es sieht mich ohnehin niemand. Meine Begegnungen mit den Einheimischen im Dorfladen bleiben beruhigend unverbindlich. Giesst es in Strömen, sagen sie: «Nice day today.» Scheint die Sonne: «Lovely day!»

Manchmal rede ich mit den Schafen, um meine eigene Stimme zu hören. Gestern noch stöckelten sie graziös wie übergewichtige Matronen über die Weide. Heute sind sie, wie in jedem Sommer, geschoren und stehen als erbarmungswürdige Gerippe in der Gegend herum. Zum Trost singe ich ihnen «La haut sur la montagne . . .» vor. Sofort heben sie ihre Köpfe. Dann merken sie, dass sie das Lied schon kennen, und fressen weiter. Pfeifen dagegen mögen sie gar nicht. Die ausgewachsenen Schafe entfernen sich indigniert, die Lämmchen rennen wie auf Kommando los und stossen ihren Kopf in die Zitzen ihrer Mütter.

Wenn ich hinter dem Haus Wasser aus meiner Quelle hole, erhebt sich die ganze wiederkäuende Herde höflich und schaut zu, wie sich der Krug füllt. Das Wasser ist glasklar. Anders als das Dorfwasser. Weil der Zuständige die gesamte Chlor-Monatsration aufs Mal ins Reservoir schüttet, bleibt das Trinkwasser tagelang grün und blau, und der Tee riecht wie ein Gurgelmittel. Die Einheimischen nehmen es ebenso gelassen hin wie den Aushilfspostboten. Weil ihm gewisse Wege zu lang sind, wirft er die Briefe einfach weg. Darunter sind auch meine.

Meine Unruhe wächst. Was, wenn ich im Herbst betrieben werde, weil ich auch die dritte Mahnung nicht befolgt habe? Was, wenn sich auf den Redaktionen mein Ruf als Unzuverlässige verbreitet, weil ich auf keinen Zuruf reagiere? Ich brauche Internet. Ich brauch es sofort. Unaufschiebbar. Dahin ist alle Seelenruhe. Wie eine in der Wüste Verdurstende irre ich durch die umliegenden Dörfer auf der Suche nach einem Internet-Wasserloch. Sicheres Zeichen für sein Vorhandensein sind die Gruppen Jugendlicher. Manchmal vor einer Schule, manchmal vor dem Polizeipos­ten. Wie Schlangenbeschwörer drehen und wenden sie ihre Handys in der Luft, um Empfang zu bekommen. Als sich herausstellt, dass sie vor allem auf der Suche nach Pornosites sind, entferne ich mich geniert.

Einen Sommer lang darf ich das WLAN einer Jugendherberge benutzen. Im Jahr darauf ist sie pleite. Dann finde ich gegen eine milde Spende in einem katholischen Jugendzentrum Unterschlupf. Der Computer steht in einem Warenlager, einem Chaos voller verstaubter und verbeulter Musikinstrumente. Leider ist das Zentrum nur übers Wochenende geöffnet.

Dass Donegal das regen- und sturmreichste Gebiet Irlands ist, hat mir von Anfang an gefallen. Es hält Besucher fern.

Seit ein paar Jahren bieten auch einige Pubs WLAN an. Weil ich mich nicht nur mit einer Cup of Tea an den Unkosten beteiligen will, ordere ich teurere Sachen, Whisky und Cognac. Doch nur allzu oft stellt sich nach dem ersten Schluck heraus: Das Internet funktioniert nicht. Vielleicht ist es kaputt. Vielleicht blieb der Besitzer die Gebühren schuldig. Vielleicht gibt es gar kein Internet. Das Schild «Gratis-WLAN» sollte vor allem Gäste anlocken. Einmal auch ist das Pub voller Fischer, die die Rückkehr ihrer Südpolfahrt feiern. Tagelang quält mich die Ungewissheit, ob es mein Artikel durch den Rauch und Lärm auf die Redaktion geschafft hat.

Dass Donegal das regen- und sturmreichste Gebiet Irlands ist, hat mir von Anfang an gefallen. Es hält Besucher fern. In den wenigen Bussen, die trotzdem kommen, schauen die Touristen mit vorwurfsvoller Miene aufs Meer, das im Regen ertrinkt, und auf die Hügel hinter trüben Wassermassen. Aus Protest steigen sie nicht mal an Fünfsterne-Sightseeing-Spots aus. Sie sitzen in der Falle. Donegal – die falsche Entscheidung.

Nicht für mich. Manchmal kommt der Regen von zwei Seiten gleichzeitig. Manchmal fallen die Tropfen mit hellem, trockenem Ton wie Insekten, die an die Jacke stossen. Und manchmal rast der Regen vom Meer wie eine dunkle Wasserwalze auf das Cottage zu. In wütenden Peitschenhieben wirft er Fontäne um Fontäne an die Fenster, und unten im Meer rasen mächtige Gischtberge dahin. Fünf Minuten später glänzt der Himmel blau, und alle Farben sind rein wie aus dem Farbkübel: die Ginsterfelder gelb, die Wiesen grellgrün, die Moore violett und die Torfstiche schwarz.

Manchmal kommt der Regen von zwei Seiten gleichzeitig – fünf Minuten später glänzt der Himmel blau, und alle Farben sind rein wie aus dem Farbkübel. 

Neu ist der Nebel. Häufig bleibt das Häuschen tage­lang wie eine Berghütte eingehüllt. Gewaltig wie Mam­muts brechen die Schafe aus dem Nichts und verschwinden wieder darin. Der Holzpfahl, der den Schafbauern den Übergang durch das Tobel zeigt, scheint im Dunst immer grösser zu werden. Wenn ich ihn lange genug anschaue, wankt er auf mich zu, und obwohl ich weiss, dass das keine ertrunkene arme Seele ist, beginnt mein Herz zu klopfen. Höchste Zeit, wieder einmal unter die Menschen zu gehen.

Im Städtchen merke ich, wie weit ich mich von der Zivilisation entfernt habe. Dass man einen Lidstrich macht und die Wimpern tuscht, hab ich ganz vergessen. Jetzt kommt mir mein Gesicht seltsam nackt vor. Wie eine Besatzungsmacht, mit ausgefahrenen Ellbogen, pflügen die Fremden durch die Strässchen und tasten mit ihren Augen alles auf Wert oder Unwert ab. Im Pub zählen sie ihre Münzen, bevor sie sie hergeben, und schauen misstrauisch zu, wie sie in der Geldbörse der Bedienung verschwinden. Als neben mir eine deutsche Touristin scharf «Wie?» sagt, zucke ich zusammen. «Down in Europe», sagen die Iren, wenn sie von Europa sprechen. Unten in Europa. Europa ganz unten, tief unten, nie wieder Europa.

Zum Trost prangen auf dem Rückweg die Wölkchen so lieblich am Himmel wie im Katalog. Kurz vor meiner Abzweigung kommt es zu einer hier häufigen Verkehrsbehinderung. Zwei Autos kreuzen sich, stoppen, die Fahrer kurbeln die Fenster herunter und beginnen zu reden. Manchmal dauert das Gespräch fünf, manchmal auch zehn Minuten. Manchmal steigen sie sogar aus. Keiner der nachkommenden Wagen hupt. Vielmehr warten sie geduldig und diskret in gebührendem Abstand, damit sich die beiden nicht gedrängt fühlen.

Am Strand stehen die Iren hüfttief in voller Kleidung im Wasser und sind zunehmend betrunken. Keiner kann schwimmen.

In meinen achtzehn Sommern in Donegal gab es Jahre, da stieg das Thermometer nie über 12 Grad. Wenn die Gläser rutschig vom Dunst wurden und die Bettlaken bis morgens klamm blieben, dachte ich an Europa, das unter Mückenplagen, Hitzewellen und Überschwemmungen litt.

Es gab aber auch Sommer, da strotzen die Heckenrosen fett, rot und gross, und die Zeitungen warnen: «How to beat the heat». Empfohlen gegen die Hitze – 25 Grad! – werden Eiscrème und kurze Ärmel. Das Meer ist flach und schwarz wie ein Moorsee, die beiden Schiffchen scheinen aufgeklebt. Am Strand stehen die Iren hüfttief in voller Kleidung im Wasser und sind zunehmend betrunken. Keiner kann schwimmen. Das Wasser ist eiskalt, die Haut der Kinder färbt sich bläulich wie entrahmte Milch.

Wieder im Cottage stochere ich im Kamin in der Torfglut, bis die erste Stichflamme züngelt. Dann setz ich die eiskalten Füsse auf den schon gewärmten Steinboden und trinke als Belohnung einen heissen Paddy. Wie vollkommen ist dieses einfache Leben. Das Herz wird schwer von Dankbarkeit.

Eines freilich lässt sich nicht übersehen. Die Stürme werden von Jahr zu Jahr häufiger und heftiger. Manchmal fällt die Elektrizität tagelang aus, und ich lerne: Die billigen Altarkerzen brennen länger als die teuren Haushaltkerzen. Der Dorfladen wird zur finsteren Höhle, und Tiefkühlkost gibt’s mit Rabatt. Auf der Strasse versuch ich, ein paar Worte mit der Postlady zu wechseln. Aber der Wind reisst mir die Worte aus dem Mund, und als ich rufen will, bekomme ich keine Luft. Dann treibt uns der Sturm aufeinander zu, und wir halten uns gegenseitig fest.

Trete ich aus dem Cottage, rattern Kapuze und Anorak so laut, als sässe ich auf dem Rücksitz eines Motorrads. Das aufgebrachte Meer brüllt sich den Frust hinaus, die Wasserberge krachen, die Erde bebt unter dem An­sturm des Atlantiks. Und die Schafe blöken heiser und erschöpft wie Schiffbrüchige, die mit letzter Kraft um Hilfe schreien.

Am schlimmsten ist es in der Nacht. Das gewaltsame Brausen im Dachstock will nicht enden. Und irgend etwas – aber was? – ist lose. Wütend schlägt es hin und her. In andern Nächten singt der Sturm im Giebel mit hohem, bedrohlichem Ton. Gleich wird alles über mir zusammenbrechen. Gegen Morgen hör ich ein Geräusch, als würde eine Ladung Pflastersteine aus einem Lastwagen poltern. Als es hell wird, sehe ich: Das alte Mäuerchen ist kollabiert. Nur noch wenige Iren beherrschen die Kunst des Trockenmauerbaus. Zwei Wochen lang dreht und wendet Jamie sorgfältig die Steine, fügt sie aneinander und übereinander, tritt zurück, studiert ihre Bruchkanten, Auffaltungen und Flechtenschattierungen. Wartet. Nimmt sie wieder in die Hand. Und zuletzt sind alle auf dem richtigen Platz. Genau so sollte man schreiben.

Im gleichen Jahr nisten sich die Ratten ein. Nacht für Nacht höre ich ihr böses Beissen im Gebälk. In ihrer Wut oder Rattenmanneskraft scheinen sie dicke Späne loszureissen. «Aufhören!», rufe ich. Doch sie denken nicht daran. Im Gegenteil. Von nun an arbeiten sie rund um die Uhr. Ich kaufe Rattengift und lege es überall aus. Doch sie kennen das Spiel längst, wohl schon seit Generationen. Hochmütig gehen sie an meinen Ködern vorbei.

Der Herbst kommt im Cottage so schlagartig, als hätte die Zeit aus dem Stand heraus einen Ruck gemacht.

Donegal gilt als Armenhaus Irlands. Selbst der berühmte keltische Tiger hat hier nur flüchtig seine Pfoten hingesetzt. Aber das genügte, um zwischen Dorf und Cottage Dutzende von protzigen Bungalows aus dem Boden schiessen zu lassen. Alle sehen gleich aus, alle kann man im Katalog unter «Englischer Landhausstil» bestellen.

Hinter den Schmiedeisentoren kläffen winzige Hunde, auf den Portalsäulen stehen aus Gips gegossene Löwenhäupter und Adler aus dem Baumarkt. Auf dem Rasen verstreut liegt grellbuntes Plastikspielzeug, Mini-Plastiktraktoren und Plastikbagger und an Geburtstagen das Bumping Castle, ein aufblasbares Plastikungetüm mit Rutschbahn. Auch Hollywoodschaukeln gibt’s schon in jedem Vorgarten. Neu ist der psychopathisch kreisende Plastik-Rasensprenger, der für den privaten Regenbogen sorgt.

Der Herbst kommt im Cottage so schlagartig, als hätte die Zeit aus dem Stand heraus einen Ruck gemacht. Im Juni kann man um zwei Uhr nachts ohne Licht lesen. Jetzt dämmert es erst gegen fünf. Heidekraut und Moorgras haben die Hügel violett gefärbt. Und auf den Stromdrähten versammeln sich die Stare, fliegen plötzlich in vollendeter Computeranimation auf und verschwinden im Sturzflug hinter dem Hügelkamm.

Ende August 2019 schliess ich das Cottage für immer. Ich brauche mehrere Anläufe, bis der Schlüssel im Schloss steckt, der Sturm ist zu stark. Im Bus dröhnt der Regen aufs Dach wie in einer Autowaschanlage. An einer Kreuzung liegt eine tote Katze am Wegrand. Der Strassenmarkierer hat sie mit seinem gelben Strich übermalt.

Beim Anstehen vor dem Swiss-Check-in bin ich schon in der Schweiz. Lauter gesunde, zufriedene Gesichter. Lauter Menschen, die gleich die passenden Papiere zur Hand haben und die richtige Kleidung in bester Qualität für Wander-, Golf- oder Fischerferien tragen.

Aber wenigstens, so rede ich mir zu, muss ich fortan nicht mehr die Wetterkarten verfolgen. Und bang verfolgen, wie jeder Atlantiksturm geradewegs auf das Cottage zusteuert.


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