Dies & Das: Das Gerede von der „Krise als Chance“ ist absurd naiv

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GEMIŠT VON OLIVERA STAJIĆ
KOLUMNE  Olivera Stajić
14. April 2020

Das Gerede von der „Krise als Chance“ ist absurd naiv

Die Schockstarre und der Lockdown sind vielmehr ein Vergrößerungsglas, unter dem die Ungleichheit in der Gesellschaft schmerzhaft sichtbar wird

Diese Krise ist keine Chance. Sie macht nur deutlich, wie schlecht wir aufgestellt sind, um die schwächsten Gruppen unserer Gesellschaft zu schützen.
Foto: APA/HELMUT FOHRINGER

„Diese Krise ist eine Chance“, „Die Krise ist eine Zeit des Wandels“ und ähnliche Kalendersprüche kann nach vier Wochen Lockdowns niemand mehr hören. Ja, mag sein, dass es auf individueller Ebene und für uns Privilegierte eine Chance ist, den Ukulele-Youtube-Kurs durchzuziehen oder die Germteig-Skills zu verbessern. Für uns als Gesellschaft ist diese Krise aber vor allem eine Art Vergrößerungsglas.

Diese Schockstarre ist eine Lupe, mit der die Ungleichheit der Chancen, ungleiche Verteilung von Ressourcen und Mangel an Solidarität sichtbar werden. Diese Krise ist für die Schwachen und Vernachlässigten in unserem System keine Chance, sie trifft sie mit ungleich größerer Härte als die Mehrheit.

Klatschen reicht nicht

Wir sehen jetzt mit aller Deutlichkeit, wie wenig unser Bildungssystem dafür gerüstet ist, den Kindern aus finanziell schwachen und bildungsfernen Haushalten eine Stütze zu sein. Dass unsere Schulen seit Jahren die Digitalisierung aufgeschoben haben, rächt sich nun. Es trifft aber eben nur jene Schüler, die zu Hause keinen Laptop, kein Tablet und kein eigenes Zimmer zum Lernen haben.

Wir merken, wie schlecht die Entlohnung jener ist, die wir nun plötzlich als „systemrelevant“ erkannt haben. Pflegerinnen, Kassiererinnen, Regalschlichterinnen und Zusteller arbeiten weiterhin hart und setzten sich für wenig Geld derzeit deutlich höherer Gefahr aus als der Rest von uns. Nein, Klatschen ist keine ausreichende Form der Anerkennung.

Es wird zudem deutlich, wie absurd eine rechtspopulistische Politik ist, die uns gegeneinander ausspielt. Wir bitten nun händeringend die ausländischen Pflegekräfte, denen Türkis-Blau noch die Familienbeihilfe gekürzt hat, ins Land zu kommen. Einige 24-Stunden-Pflegerinnen wurden sogar nach Österreich eingeflogen.

Prekäre Leben

Ebenso ist es mit den ausländischen Erntehelfern. Sie arbeiten unter schwersten Bedingungen, ohne soziale Absicherung und für einen Hungerlohn. Jetzt fehlen sie. Deutschland lässt sie, ähnlich wie wir „unsere Pflegekräfte“, nun einfliegen. Für sie wird es nur „eine faktische Quarantäne bei gleichzeitiger Arbeitsmöglichkeit“ oder „quarantäneähnliche Bedingungen“ geben, heißt es seitens der Politik. Nach richtigem Schutz, wie er für die eigene Bevölkerung vorgesehen ist, klingt das nicht.

Und dann wären da noch die prekär Beschäftigten aus dem Kunst- und Kulturbetrieb und im Journalismus. Die miesen Honorare und die unsichere Auftragslage erlauben nur einem sehr kleinen Teil von ihnen, Rücklagen zu schaffen. Sie hat die Krise vom ersten Tag an mit voller Härte getroffen.

Diese Krise ist keine Chance. Sie macht nur deutlich, wie schlecht wir aufgestellt sind, um die schwächsten Gruppen unserer Gesellschaft zu schützen. Das Gerede von angeblichen Chancen, die sich nun auftun, ist genau genommen absurd naiv. Wir befinden uns nämlich erst am Anfang. Die Wirtschaftskrise, die folgt, wird den Kreis jener, die von finanziellen Einbußen, Arbeitslosigkeit und Armut betroffen sind, erweitern. Was das dann für den Zusammenhalt und die Solidarität bedeuten wird, kann noch niemand absehen. (Olivera Stajić, 14.4.2020)

Das sagen die Anderen…