Dies & Das: polyglott #2 von 2

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Günther Ogris

14. September 2020

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Der unsaubere Umgang mit der Umgangssprache

Die Statistik Austria stiftet Verwirrung. Indem Mehrsprachigkeit als mangelnde Einheitssprache definiert wird, wird aus einer Kompetenz ein Problem

Im Gastkommentar fordert Sora-Geschäftsführer Günther Ogris, „die Evidenzen mit neuem Blick zu betrachten“.

Vor mehr als 20 Jahren wollte ich an einer italienischen Strandpromenade ein Badetuch erwerben. Der Straßenverkäufer sprach mich auf Englisch an, sehr fließend, humorvoll und sprachgewandt. An meinen Antworten hörte er, dass Englisch nicht meine Muttersprache war, und wechselte, um mir entgegenzukommen, ins Deutsche. Er hatte ein paar Jahre in Deutschland gearbeitet und sprach sehr flüssig Deutsch. Sein Humor verlockte mich dazu, in Preisverhandlungen einzutreten. Ich wollte eine Sprache wählen, in der ich mich im Vorteil wähnte, und wechselte in mein Schulitalienisch. Schnell erkannte ich meinen Irrtum, sein Straßen- war meinem Schulitalienisch nämlich bei weitem überlegen. Um ihn abzulenken, fragte ich ihn, woher er komme – er sei im Senegal aufgewachsen. Er sprach daher auch Französisch und noch zwei weitere Sprachen aus dem Senegal fließend. Ich war chancenlos. Als österreichischer Sozialwissenschafter mit einem Abschluss einer britischen Universität konnte ich mit einem kommunikationsfreudigen Senegalesen, der Sprachen in Werkshallen und auf der Straße erworben hatte, in keiner meiner drei Sprachen mithalten und zahlte den vollen Preis. Das war das Geld aber wert: Ich hatte in 20 Minuten mehr über Spracherwerb erfahren als in meiner ganzen Studienzeit.

Besonderes Potenzial

Hätte dieser Mann, der sechs Sprachen fließend spricht, das Erhebungsblatt zur Einschreibung in eine österreichische Schule ausgefüllt, würde er als sprachliches Problemkind gelten. Er würde nicht als sprachbegabt eingestuft werden, sondern als „Schüler nichtdeutscher Umgangssprache“.

Vor kurzem traf ich mich mit Hüseyin I. Çiçek. Er ist Politik- sowie Islamwissenschafter und ebenfalls sechssprachig (aber nur, weil der Vorarlberger Dialekt nicht als eigene Sprache gilt). Bei der Einschreibung in die Volksschule sprach er drei Sprachen und einen süßen Dialekt. Für die Bildungsstatistiker war er damit aber kein Kind mit besonderem Potenzial, sondern ein Problemkind.

Weder die Bildungsstatistik der Statistik Austria noch jene im neuen Integrationsbericht ist imstande, Mehrsprachigkeit zu erkennen und Potenziale zu sehen. Stattdessen geht sie ohne jegliche sprachwissenschaftliche Grundlage davon aus, dass Menschen nur eine Umgangssprache haben. Wer auf Wiens Straßen, Spielplätzen und in Parks zuhört, merkt aber, dass Kinder, Jugendliche und Erwachsene mehrere Umgangssprachen haben und oft mühelos zwischen zwei oder mehreren Sprachen switchen können. Der Integrationsbericht und die darin verwendete Fachsprache machen mehrsprachige Kinder aber zu Kindern, die eine Sprache nicht können.

Nicht standardisierte Erhebungen

Das Erhebungsformular erkundigt sich bei den Eltern nach der Muttersprache, und an manchen Schulen wird auch nach der Zweitsprache gefragt. Die Erhebungen sind in Österreich nicht Standardisiert.

Die Statistik Austria schließt von der Bezeichnung Muttersprache auf die Umgangssprache, also auf jene Sprache, die man in der Familie, beim Einkaufen, mit Freunden verwendet. Meine Großmutter sprach als Burgenlandkroatin in der Schule Ungarisch, zu Hause Kroatisch und beim Einkaufen Deutsch. Bei sehr vielen Jugendlichen in Wien ist das ähnlich: zu Hause zum Beispiel Rumänisch, in der Schule und mit Freunden Deutsch, und Serien streamen sie auf Englisch.

Daten der Wiener Lebensqualitätsstudie 2018 zeigen, dass für 58 Prozent der Wienerinnen und Wiener mit Migrationshintergrund der ersten Generation und für 77 Prozent jener der zweiten Generation Deutsch die im Alltag am häufigsten gesprochene Sprache ist. Das wäre also die „Umgangssprache“.

Statistischer Irrtum

Die Statistik Austria, die für den Integrationsbericht die Tabellen erstellt, macht aus der Muttersprache die Umgangssprache und tut so, als könnte man nur eine Umgangssprache haben. Die Experten im Integrationsbericht folgen bei der Interpretation dieser Tabellen diesem Irrtum. Das ganze sprachliche Framing macht Mehrsprachigkeit zum Problem – oder freundlich paternalistisch zu „besonderem Förderbedarf“. Dadurch werden die Muttersprachen heruntergemacht und der Spracherwerb schon durch die verwendete Sprache behindert.

Der Finanzminister fordert auf den Plakaten „Integration“, aber Geld für Ganztagsschulen – die das wichtigste Instrument dafür wären, da sind sich die Experten einig – gibt er nicht. In Südtirol lernen die Kinder in der Volksschule von Anfang an zwei Sprachen und ab der dritten Klasse sogar eine dritte. Und sie verbringen pro Woche im Durchschnitt sieben Stunden mehr in der Schule als Kinder in Österreich.

Europäischer Blick

Die Analyse der Statistik Austria deutet Mehrsprachigkeit, den Ideen des Nationalismus folgend, als mangelnde Einheitssprache. Der Expertenratsbericht setzt sich analytisch nicht mit den Sprachpotenzialen der Jugendlichen auseinander und gibt keine Empfehlungen für Sprachenförderung ab, sondern nur für Deutschförderung. Im Fokus ist nicht die europäische Integration durch die Entfaltung von Mehrsprachigkeit, sondern die Assimilation an die deutsche Mehrheitskultur. Der Expertenrat empfiehlt sinngemäß „weiter so, nur etwas mehr“, während das Bildungssystem die Weiterentwicklung der vorhandenen Mehrsprachigkeit behindert.

Es ist Zeit, die Evidenzen mit neuem Blick zu betrachten. Die Integrationspolitik sollte nicht als „Die Mehrheitsbevölkerung verdrängt Sprachkompetenzen zum Zwecke der Assimilation und fördert die Anpassung“ verstanden werden, sondern als Konzept der europäischen Integration. Mehrsprachigkeit sollte in den Fokus der Bildungs- und der Integrationsforschung rücken und zu einem Bildungsziel in Österreich gemacht werden. Zum Nutzen der Jugendlichen in Österreich und zum Nutzen der europäischen Integration. (Günther Ogris, 13.9.2020)

Günther Ogris ist wissenschaftlicher Leiter und Geschäftsführer des Sora-Instituts.

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